Das Licht im Kino geht aus, eine Bombe explodiert. Unmittelbar
danach schnappt eine Mausefalle in Großaufnahme zu. Eine
Abendgesellschaft, die plötzlich übereinander herfällt. Skorpione,
wieder in Großaufnahme, Erläuterungen ihrer Gefährlichkeit, dann
deren Demonstration: ein Skorpion tötet eine Ratte. Eine
Rasierklinge, die den Augapfel einer Frau durchdringt, wie ein
Stück Butter - allesamt schockierende Momente, die sich nie wieder
aus dem Gedächtnis dessen tilgen lassen, der sie sah. Sie haben
unseren Blick auf die Dinge verändert. Das durchschnittene Auge in
"Ein andalusischer Hund" sollte zu einer der berühmtesten
Filmszenen aller Zeiten werden.
"Ich bin ein Feind der Wissenschaft und ein Freund des Geheimnisses."
– Glücklicherweise war Luis Buñuel, Surrealist und Bourgeois,
Atheist und Katholik, Anti-Kommunist und Marxist, Filmemacher
und Schriftsteller so inkonsequent wie genial und hat weder
aus seiner Kunst noch aus seinem Leben je ein Geheimnis gemacht.
Im Gegenteil: "Catherine Deneuve ist nicht unbedingt mein
Frauentyp, aber mit nur einem Bein und geschminkt, finde ich
sie sehr attraktiv." Oder: "Ich bin Sadist, aber ein vollkommen
normales Wesen." Äußerungen wie diese – oft mit jenem "aber"
versehen, in dem Buñuel seine eigene Widersprüchlichkeit bereits
reflektiert – finden sich in "Objekte der Begierde", einem
jetzt erschienenen Sammelband, der wie in einem Lexikon alphabetisch
geordnet Äußerungen und Kommentare des genialen Tausendsassas
und wunderbaren Provokateurs zusammenfaßt.
Von Gott und der Welt ist da die Rede, von "Abel Gance" bis
"Zugtraum" reicht die Liste. Da liest man von Lieblingsfilmen
(unter anderem "Paths of Glory" von Kubrick, "Roma" von Fellini,
"Panzerkreuzer Potemkin" vom Eisenstein) und Gottesbeweisen
("Wenn es einen Gott gibt, soll mich auf der Stelle der Blitz
treffen"), Kollegen (Breton, Dalí, de Sica, Garcia Lorca)
und Feinden ("Hollywood", "Stalinismus"). Daneben findet man
einige wichtige Aufsätze, sowie Erinnerungen von Freunden
und Buñuels Lebensgefährtin Jeanne Rucar Buñuel.
Vor hundert Jahren – am 22.2.1900- wurde Buñuel in Nordspanien
geboren. Während seines Studiums (Biologie und Geschichte) lernte
er André Breton kennen, bald schloß er sich den Surrealisten und
der spanischen Literatengruppe der "Generation von 1927" an. Nach
den beiden bahnbrechenden Frühwerken "Ein andalusischer Hund" und
"Das Goldene Zeitalter" drehte Buñuel fast 20 Jahre keinen
Spielfilm, nur 1933 die Dokumentation "Land ohne Brot". Vor den
spanischen Faschisten floh er in die USA und nach Mexiko, schlug
sich dort mit Handlangerarbeiten durch, nebenbei schrieb er
Prosatexte und Gedichte. So kam es, dass einer der vielseitigsten,
interessantesten Künstler des Jahrhunderts seine berühmtesten und
wichtigsten Filme – eben bis auf die beiden ganz frühen – erst
schuf, als er bereits über 50 Jahre alt war. Richtig entdeckt wurde
er erst in den 60er und 70er Jahren, nachdem er mit "Viridiana"
1961 in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte. Da war er bereits
über 60.
Buñuel war ein Idol der Jahre der Kulturrevolution in den
westlichen Industriestaaten, der Zeit des politischen Optimismus
und der ästhetischen Abstraktion. Doch er selbst, der sich bis zu
seinem Tode als Surrealist verstand - "Ich lehne es ab, ein
theoretischer Terrorist zu sein" -, protestierte auch gegen die
neuen Verbindlichkeiten. So schlossen sich in seinem Werk
poetisches Erzählkino, Absage an Sozialromantik,
subjektpsychologischer Feinsinn und politische Rebellion nie
aus.
Oft sind es Bilder von Gewalt, Dokumente des grausamen
Lebenskampfes. "Alles, was nicht die Gesellschaft und ihre
Institutionen angreift, ist nicht surrealistisch." Und oft geht es
dabei um Blendungen oder Sehstörungen. So wie am Beginn von Luis
Buñuels Werk der Schnitt durchs Auge geht, wird in seinem zweiten
Film ein Blinder zum Objekt. Wenn die Rasierklinge in den Augapfel
einschneidet, reagieren die Betrachter mit Wegsehen. Aber immer
wieder verstand Buñuel es so einzurichten, dass man hinschauen
mußte. Durch Schocks oder durch Komposition. "Auge des
Jahrhunderts" hat man ihn genannt. Und tatsächlich scheinen wenige
andere Bilder in ähnlicher Weise als Metapher der
verstörend-faszinierenden Erfahrungen des letzten (20.)Jahrhunderts
zu taugen, wie die seinen: Der Schnitt durchs Auge ist auch einer
durch die Zeiten und das Bewußtsein.
Literatur:
Luis Buñuel: "Objekte der Begierde"; Wagenbach Verlag,
Berlin; 189 S., 22,80 Mark.
Im gleichen Verlag erschien auch:
"Die Flecken der Giraffe", ein Sammelband mit frühen
Texten, Gedichten und Aufsätzen zum Kino, sowie zwei Bände
mit Gesprächen und Interviews.
Das Münchner Filmmuseum zeigt derzeit eine Buñuel-Reihe.
Rüdiger Suchsland
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