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Sonne, Palmen, azurblaues Meer, gelber Strand, und davor
ein roter Teppich, auf dem Charlize Theron flaniert - alles
in allem zu schön, um wahr zu sein. "Die große
Illusion", das ist nicht nur ein Film von Renoir, sondern
das heimliche Thema in Cannes, alle Jahre wieder das Mekka
des Kinos, zu dem Künstler, Stars und der Rest des Filmbetriebs
in Scharen pilgern. Es stimmt ja einfach alles, was über
Cannes gesagt wird, auch das Negative, aber eben das andere
auch, und ein Blick aufs Programm genügt, und man weiß
spätestens dann wieder, warum man hier ist.
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"Ich habe meinen Glauben längst verloren, aber
ich liebe Zeremonien." meinte Pedro Almodovar, mit dessen
Film LA MALA EDUCACION gestern eröffnet wurde, bei der
Pressekonferenz. Schöner hätte man es gar nicht
sagen können, denn mag man über den Sinn solcher
Großereignisse auch verschiedener Meinung sein - wenn
am Abend die Stars über den roten Teppich schreiten,
begleitet von Fanschreien und dem Blitzlichtgewitter der Fotografen,
sind solche Zweifel schnell vergessen: hier ist Kino wenigstens
einmal große Schau, Inszenierung pur. Das muss man nicht
mögen, und es ist auch nicht die einzige Form von Kino
- aber doch eine seiner Möglichkeiten, und ein Teil von
ihm, das es erst zu dem macht, was es ist. Und wenn schon,
dann bitte richtig. Wer die Inszenierung von Cannes einmal
erlebt, der weiß, dass dagegen auch die Berlinale einstweilen
nur ein müder Abklatsch ist.
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Das Wetter übrigens ist so grauschmierig, dass man sich
in ein Ostseestrandbad versetzt fühlt, oder an den Baggersee
von Lünen.
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Trotzdem stellt sich ein Gefühl für die Aura des
Ortes schon am Flughafen wieder ein: Dort hängen die
alten Plakate früherer Festivals. Das erste, 1947, noch
stark beeinflusst vom art deco der 30er, so als sei die Stilgeschichte
mal eben für ein Jahrzehnt unterbrochen worden zeigt
einen Nachthimmel, vereinzelte Sterne, der hell erleuchtet
wird von der Leinwand. Film als Licht in der Dunkelheit, das
waren noch Zeiten...
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Gelbe Wände, blaue Türen, rote Möbel - schon
befindet man sich im von Primärfarben dominierten, kunterbunten
Reich von Pedro Almodovar. Der Spanier, mit dessen neuem Film
LA MALA EDUCACION der der elftägige Wettbewerb von Cannes
gestern Abend eröffnet wurde, beherrscht das Spiel mit
den Illusionen perfekt. Es beginnt wie ein Hitchcock-Film,
wird dann schnell zu einem Melodram aus Sex, Katholizismus,
Rollenspiel und Obsession. Eine sehr exakt gestrickte, stellenweise
freilich hochkomplizierte Geschichte, die auf drei Zeitebenen
erzählt wird: Anfang der 80er trifft Enrique, ein schwuler
Filmregisseur - vielleicht ein Selbstportrait des Künstlers
als junger Mann? - Ignacio wieder, einen Freund aus Kindertagen.
Der hat ein Drehbuch geschrieben, das für Enrique die
alten Erinnerungen lebendig macht. Beide waren einst, in den
repressiven 60ern der Franco-Ära, auf einem katholischen
Knabeninternat. Dort entdeckten sie gemeinsam die Liebe und
das Kino, litten aber auch unter den Nachstellungen schmierig-geiler
Priester. In den 70er trifft Ignacio einen von ihnen wieder,
und erpresst ihn. Trotz seiner komplizierten Struktur - immer
wieder wird zwischen den Ebenen hin und her gesprungen - entfaltet
LA MALA EDUCACION oft einen eigenartigen Sog. Der Film ist
eher ein Nebenwerk des Spaniers und mischt große Kinoaugenblicke
mit gepflegter Langeweile. Als Eröffnungsfilm gut genug
- aber man versteht doch, warum er nicht im Wettbewerb läuft.
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Dort zeigte man zum Auftakt NOBODY KNOWS von Hirokazu Kore-eda.
Der Japaner erzählt eine bewegende Familiengeschichte:
Vier Kinder, zwei Zwillingspaare mit verschiedenen Vätern,
wachsen allein mit ihrer Mutter auf, ohne je zur Schule zu
gehen, abgeschlossen vor de Außenwelt. Man spürt,
dass da ein dunkles Geheimnis ist, von dem sie selbst nichts
wissen, dass aber ihre Existenz dominiert. Eines Tages ist
die Mutter verschwunden, und die vier beginnen sie zu suchen
- es beginnt eine magische Odyssee der Weltentdeckung, die
in ihrer bezaubernd poetischen Erzählweise gleich diesen
ersten Wettbewerbsbeitrag zu einem Preisanwärter macht.
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In den folgenden Tagen wird vieles, was im Kino Rang und
Namen hat, am "Palais du Festival" erwartet. Trotz
des immensen Staraufgebots scheinen die Veranstalter um den
langjährigen Leiter Gilles Jacob, der immer noch aus
dem Hintergrund die Fäden zieht, zugleich in diesem Jahr
ihre Taktik verändert zu haben. 2003 gab es viel Kritik:
Vom schwächsten Wettbewerb aller Zeiten war da die Rede
gewesen; erstarrt und verknöchert hätten die Filme
gewirkt, kritisierte selbst die wohlwollende französische
Presse. Diesmal darauf darf man schon jetzt wetten, wird das
anders sein: Sehr viele junge Regisseure sind vertreten, einige
alte Veteranen, die hier ungeachtet ihrer Werke einen sicheren
Stammplatz zu haben schienen, mussten das Feld räumen,
und im Zweifelsfall kommt ein Star weniger, und ein Künstler
mehr.
Trotzdem sieht man im Programm auch viele bekannte Namen,
unter denen die Jury unter Vorsitz von US-Regisseur Quentin
Tarantino dann ihre Entscheidung zu treffen hat: Emir Kusturica
und Walter Salles, die Coen-Brüder, Tony Gatlif und Michael
Moore.
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Besonders das asiatische Kino ist sehr stark präsent:
"2046", der neue Film des Hongkong-Regisseurs Wong
Kar-wai, der hier vor Jahren für "In the Mood for
Love" den Regiepreis gewann, wird mit Spannung erwartet,
Altmeister Zhang Yimous ("Rote Laterne") neuer Film
läuft außer Konkurrenz. Wichtiger aber die Werke
der aufstrebenden Jungregisseure Kore-Eda und Park Chan-Wook
(Korea), sowie "Tropical Malady" von Apichatpong
Weerasethakul, der erste thailändische Film aller Zeiten
- ein Indiz für den aufsteigenden Stern dieser Kinonation.
Und "Innocence" von Mamoru Oshii ist der erste japanische
Animationsfilm im Wettbewerb. Noch viele andere jüngere
Regisseure sind da vertreten: Aus Frankreich, dem Mutterland
des Kinos kommt Olivier Assayas' "Clean" und Agnes
Jaouis "Comme une Image", aus Österreich die
hochbegabte Jessica Hausner, aus Argentinien Lucretia Martel.
Auch die Deutschen dürfen sich freuen: Nach über
zehn Jahren Abwesenheit konkurriert mit "Die fetten Jahre
sind vorbei" wieder ein deutscher Film um die Goldene
Palme. Dazu brauchte es zwar den geborenen Österreicher
Hans Weingartner, und natürlich den offenbar unvermeidlichen
Daniel Brühl als Hauptdarsteller - aber immerhin ist
jetzt der böse Bann gebrochen, und das Verhältnis
zwischen Cannes und dem deutschen Kino entspannt sich hoffentlich.
Ergänzt wird dies durch einstarkes Nebenprogramm, unter
anderem mit "Marseille", einem wunderbar-spröden
Film der Berlinerin Angela Schanelec.
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Noch bleibt Zeit, um ein bisschen herumzustöbern. Zum
Beispiel auf dem großen Filmmarkt. Die Stuimmung sei
besser, als in den letzten Jahren, mehr Leute da, 10 Prozent
mehr Stände, sagen Vertreter von Verleihern. Vielleicht
liet das aber auch nur daran, dass hier nach drei Jahren Krise
die Schränke leer sind. Jedenfalls findet man hier die
Realität hinter dem Glamour, kann Filme sehen, die nie
im Festivalprogramm auftauchen, vielleicht aber später
im Kino. Das ist genauso mehr Cannes, wie der rote Teppich,
Macht und Geld in reiner Form, das heißt böse,
aber manchmal auch hübsch.
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Für knapp zwei Wochen liegt der Nabel der Filmwelt nun
an der Cote d'Azur. Das eigentliche Zentrum ist dabei nicht
die Croisette, jene berühmten Flaniermeile, an der ein
Luxushotel neben dem nächsten steht, sondern der rote
Teppich vor dem Palais du Festival, in dem am Abend die großen
Premieren stattfinden. Mag man über die Schönheit
des vor einigen Jahren neu gebauten Palasts auch durchaus
verschiedener Ansicht sein - am roten Teppich davor kommt
keiner vorbei.
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Denn nur hier ist der rote Teppich wirklich ein roter Teppich.
Beim Festival von Venedig ist er seit einigen Jahren aus unerfindlichen
Gründen blau. Vielleicht wollte man sich krampfhaft von
der Konkurrenz unterscheiden, vielleicht hat man ihn an den
Sponsor verkauft; vielleicht fürchtete Berlusconi auch
die Farbe der Revolution. Dabei ist - und wer Sharon Stone
oder Nicole Kidman einmal in Cannes erlebt hat, der weiß
es längst - Rot natürlich zuerst mal die Farbe der
Könige. Der Berlinale Teppich ist zwar rot, aber auch
so lang wie breit und ähnelt damit eher einer roten Wüste.
Vor allem aber geht er - bergab. Unmöglich. Hier in Cannes
sind es genau 24 Stufen - ein Weg in den Himmel, der Stunden
dauern kann. Natürlich gibt es diejenigen, die ihn entlang
hetzen, mit Tunnelblick, oder nur kurz schüchtern nach
links und rechts gucken. Die meisten aber, vor allem die französischen
Stars, die Amerikaner und die Asiaten, wissen ihn besser zu
nutzen.
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Genaugenommen verrät wenig sonst dem Außenstehenden
soviel über einen Star, als wie der sich auf dem roten
Teppich verhält. Wie schnell er oder sie geht, wie oft
sich einer umdreht, wie viele Lächel-Varianten einer
beherrscht. Wichtig ist auch, wer mit wem geht. Welchen Star
führt der Regisseur am Arm? Wo geht der Produzent? Stellt
sich das Team am oberen Treppenabsatz noch einmal zum gemeinsamen
Foto hin? Und was zieht man an? Und wie geht man eigentlich?
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Emmanuelle Beart etwa, die französische Schauspielerin,
zeigte auch gestern Abend als Jurymitglied wieder die Kunst
des Teppich-beschreitens. Langsam muss man sein, schließlich
ist er nur knapp 50 Meter lang, da muss man jeden Meter nutzen.
Beart kostet auch die acht Meter Breite voll aus, eiert fast
von Seite zu Seite. Mal nach rechts, mal links, man gibt Autogramme
grüßt einen Bekannten, oder behandelt die Fotografen
wie Bekannte. Aber Vorsicht: Nur nicht gemein machen, Distanz
wahren, Star sein. Catherine Deneuve kann das perfekt. Sie
schwebt förmlich, gemessenen, sehr gleichmäßigen
Schrittes, eine Königin. Auf der zweiten oder dritten
Stufe dreht sie sich dann um: Stolz und souverän, Lächeln,
ein Blick noch zurück, dann wieder eine Drehung und ohne
einen weiteren Blick - das ist wichtig: nie zu deutlich zeigen,
dass man gern fotografiert wird - hinein ins Dunkel des Palais.
Die Amerikaner machen es mehr wie bei Sportveranstaltungen:
Lachen, Schreien, Fäuste hochrecken, zwei Finger zum
Victory-Zeichen. Und vielleicht, wen sie sehr gut drauf sind,
ein paar Autogramme. So wird man zum Darling der Massen.
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Es gibt nämlich noch die andere Seite des roten Teppichs.
Die die nie drauf stehen. Schon am Morgen sieht man die ersten
Fans. Mit Butterbroten und viel Wasser bewaffnet, sichern
sie sich hier manchmal schon morgens um 7 die besten Plätze,
harren aus bis zehn Uhr Abends, und sind glücklich. Sie
sind die wahren Fans. Hätte man nur Zeit, sich einmal
länger mit ihnen zu unterhalten, man könnte tolle
Geschichten hören. Von irgendwelchen normalen Menschen,
Angestellte oder Studenten, die nie im Leben an eine Akkreditierung
für eine Wettbewerbspremiere kommen (und Karten gibt
es hier keine zu kaufen), sich aber seit Jahren zehn Tage
im Mai frei nehmen, um "Cannes zu machen." Zu jenen
hinter auf der anderen Seite des Teppichs gehören auch
die Fotografen. Diejenigen, die mehr Geld haben, können
sich einen Assistenten leisten, der tagsüber den Platz
freihält. Oder sie sind so berühmt, dass sie einige
der wenigen reservierten Standorte vom Festival zugewiesen
bekommen. Manche von ihnen sind schon seit Jahrzehnten hier,
können noch von den Zeiten erzählen, als aus Deutschland
nur 20 Journalisten kamen, und sich Truffaut oder Paul Newman
mit einem zum Mittagessen verabredete, wenn er das Interview
interessant fand. Doch die Zeiten sind unwiderruflich vorbei,
die Manager haben auch die Filmwelt in ihrem eisernen Griff,
und heute ist der rote Teppich oft der einzige Ort, um überhaupt
einen Blick auf einen Star zu erhaschen.
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Die dritte Seite des roten Teppichs erlebt man nachts. Irgendwann
nach Mitternacht wird der Teppich nämlich ausgetauscht.
Jeden Tag. Jeden Tag ein neuer Teppich, zwölf Tage lang.
Denn in Cannes bekommt jeder nur das beste, und wie sähe
es denn aus, wenn der Teppich am Schluss ganz ausgetreten
und löchrig wäre. Also gibt es eigentlich zwölf
rote Teppiche. Und ein paar Ersatzteppiche auch noch. Alle
aus Jute und Kunststoff, wetter- und rutschfest. Tagsüber
wird ständig geflickt und gehämmert, werden kleine
Wellen und Luftlöcher plattgetreten, denn was gäbe
es Schlimmeres, als wenn sich ein Superstar ausgerechnet hier
ein Bein bräche?
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So weit ist es bisher noch nie gekommen. Der rote Teppich
ist Ausdruck eines Triumphs. Wer hier entlang geht, der hat
es geschafft, ist angekommen im Olymp des Kinos. Und darum
ist es vielleicht gar nicht so wichtig, wer hier am Ende die
Goldene Palme gewinnt. Denn jeden Abend gibt es aufs Neue
die vielen perfekt frisierten, blass geschminkten fleischgewordenen
Rokokopuppen auf dem roten Teppich. Zu schön, um wahr
zu sein eben.
Rüdiger Suchsland
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