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Cannes 2004 22.05.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 6. Folge

Wong Turn

... gefangen in 2046: Durch Bauch und Herz direkt in den Kopf oder wie man dem asiatischen Kino rettungslos verfallen kann
Wong Kar-wais 2046


You can never leave this film
Topfavorit 2046

 
 
 
 

"Love is really a question of timing." Es gibt immer den einen Punkt, da schlägt ein Festival um: Die Wirklichkeit beginnt einen einzuholen, und es wird allmählich leerer. Die Ersten reisen ab. Der eigene Blick aufs Meer wird intensiver, man tankt letzte Eindrücke. Doch diesmal hielt die Spannung bis zum Ende an - eine nahezu perfekte Dramaturgie, wenn auch unfreiwillig: Langsam, aber ständig steigerte sich der Wettbewerb bei den 57.Filmfestspielen. Dann brach Mitte der Woche das Chaos aus: Plötzlich wurde die morgendliche Pressevorführung des größten Favoriten von allen, 2046, vom Hongkong-Regisseur Wong Kar-wai abgesagt. Fast fürchtete man, der Film werde gar nicht laufen, offenbar war man nicht rechtzeitig fertig geworden. Doch dann lief der Film am Donnerstagabend fast als letzter eines sehr starken Wettbewerbs-Programms. Der erste Eindruck ist überwältigend - und das vierjährige Warten auf den Film hat sich gelohnt.

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Merkwürdige Atmosphären im Saal. Wie man sie nur auf einem Filmfestival erleben kann. Eine Dreiviertelstunde vorher, viel früher, als sonst, hatte man sich in der Schlange eingereiht. Obwohl die Akkreditierung "rosa Badge" ja nicht schlecht ist. Aber hier will man auf Nummer sicher gehen. Wie viele. Gerade noch rechtzeitig, wäre ich zehn Minuten später gekommen, wäre es zu spät gewesen. 2046 wollen alle sehen. Im Saal dann überaus konzentrierte Stimmung. Stille. Ein bisschen wie vor dem Gottesdienst.
Und dann gleich aufregendes Kino, von der ersten Szene an: Animationsbilder einer futuristischen Großstadt, sehr abstrakt, METROPOLIS ohne Expressionismus, BLADE RUNNER ohne Punk. DIE LIEBENDEN NEHMEN DEN ZUG hatte hier in Cannes vor Jahren einmal ein Film geheißen. Und auch diesmal fährt ein Zug ab. Er heißt 2046 und führt ins Reich der Erinnerungen - auch jener an die Zukunft, an den rasenden Stillstand der Melancholie, an dem die Geschichte zuende ist, aber das Denken noch lange nicht. Der Erzähler beginnt aus dem Off, und der Sog beginnt...

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2046 ist der paradoxe Fall eines SF, der in der Vergangenheit spielt. In Singapur 1966 sind Tony Leung und Gong Li, spielen ein Kartenspiel: "If you win, I come with you..." Natürlich verliert er und später erfahren wir, dass sie eine nahezu perfekte, professionelle Spielerin ist. "I've never seen her since." Dann befindet man sich für den Rest des Films über die meiste Zeit in Hongkong, Ende der Sechziger, immer wieder unterbrochen von Ausflügen in Zukunft oder Vergangenheit. Wieder ein Film, in dem Amnesie eine zentrale Rolle spielt. Und wir lernen, dass auch Maschinen vergessen können. Eine Vorhölle der Erinnerung: Opernmusik, Neonlicht, Chinesinnen, die Japanisch lernen, ein Voyeur, Identitätskrisen, die Leere des Cyberspace, das Immergleiche, die Melancholie, die Wiederholung...

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2046 ist die atemberaubende Geschichte einer unmöglichen Liebe, auf fragmentarische Weise erzählt in losen, assoziativen, aber nuancierten Bildern, die sich gemeinsam mit der genauen Farbdramaturgie (Grün- und Gelbtöne dominieren), Dialog- und Gedankenfetzen und Musik durch ausgeklügelte Montage zu einem dichten und genau rythmisierten atmosphärischen Teppich fügen, wie er im gegenwärtigen Kino ohne Beispiel ist. Der Film streift die Terrains des Unbewußten wie des Unverständlichen, Nicht-Kommunizierbaren.
Angelehnt ist dies alles an Wongs letzten Film IN THE MOOD FOR LOVE. Doch die Struktur von 2046 ist ohne Frage ungleich komplizierter, gewissermaßen eine Rückkehr zu der Erzählweise von CHUNGKING EXPRESS. Ließ sich Wong damals hineinfallen in das Chaos der Metropole, ist es nun ein innerer Raum, das Chaos aus Erinnerungen und Wunschträumen. Auch wer sich davon vielleicht überfordert fühlt, alles für eine akademische Kopfgeburt hält oder das einfach nicht mag, wird sich dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck, der Dynamik und der kompositorischen Meisterschaft des Films nur schwer entziehen können.

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Im Zentrum steht Chow, Journalist und Autor von populären Stories, eine Art Philip K. Dick im spätsechziger-Hongkong und zugleich ein Liebesdetektiv: Aufklärer, Flaneur und distanzierter Beobachter - und das alter ego seines Regisseurs. "Men like me have nothing, but free time." Gespielt wird er in all seiner Charme-ummantelten, kühlen Tristesse von Tony Leung, der bereits in IN THE MOOD FOR LOVE die Hauptrolle spielte. Chow ist ein naher Verwandter jener damaligen Figur. Sie lebt wieder im Hongkong der 60er und hat eine unglückliche Liebe hinter sich. Nun schläft Chow zwar mit vielen Frauen, doch Gefühle läßt er nicht zu, auch dann nicht, als ihm die wahre Liebe in Gestalt von Bai Ling (Zhang Ziyi) begegnet. Am Ende steht die Erkenntnis: "Love is really a question of timing." Um diese Kernstory und ihre Vor- und Rückblenden herum, hat Wong mehrere andere Episoden gelegt, die den Hauptstrang unterbrechen, umgeben, fortführen. Man weiß nicht genau, ob es sich bei alldem nur um jene Geschichten handelt, die der Autor schreibt, oder um seine Phantasien und Tagträume, oder auch um Parallelwelten. Denn 2046 ist zugleich auch das Jahr, in dem eine dieser Stories spielt: Ein Mensch verliebt sich in einen Cyborg. Vor allem aber bezeichet der Filmtitel einen Zustand des melancholischen Stillstands, einen Ort, aus dem, wie es heißt, noch keiner herausgekommen sei. "You can never leave 2046. You can only hope, it is leaving you some day. Nobody has ever come back, except me."

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2046 ist eine komplexe Passage durch Zeiten und Ideen, Phantasien und Realität - die Geschichte Hongkongs scheint in kurzen Dokuszenen auf -, ein Roman der Erinnerung und Emotionen. Wenig berührenderes war in den letzten Jahren im Kino zu sehen als der letzte der vielen Abschiede zwischen Tony Leung und Zhang Ziyi. Das reine Unglück. Und die ewige Frage: "Why can't it be like it was before?" Vor allem aber - und dies ist gewiß nicht allein ein erster Eindruck - ist dies die Verdichtung aller Werke Wong Kar-wais, ein meisterhaft gemachter Film, der sich ganz auf sein Medium verläßt: Bilder, die immer einen Mehrwert haben, eine Aussage, die sich nicht allein in Worte fassen läßt, sondern in Gefühle - ein großer Preisfavorit.

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Eine merkwürdige Verwandtschaft verbindet 2046 mit dem Anime INNOCENCE von Mamoru Oshii, der als GHOST IN THE SHELL 2 annonciert ist, und gleichfalls im Wettbewerb läuft. Ein Zeichentrick-Autorenfilm, dessen Tiefe wie im Fall von 2046 beim ersten Sehen kaum zu erfassen ist - zu gebannt ist man von der Gesamtvision und dem sinnlichen Eindruck, den sie hinterläßt. Die Psychoanalyse eines Androiden wird zum Ausgangspunkt einer ästhetischen Grundsatzreflexion: Vor allem die Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts - das Werk Descartes', Villiers d'Isle-Adams "L'Eve future", Miltons "Paradise Lost", de la Mettries "L'Homme machine" und Kleists "Über das Marionettentheater" - steht im Zentrum der hochgebildeten, stellenweise schwerblütigen, dann wieder doch poetisch leichten Meditation. Und wie in 2046 sind die Last der Erinnerung und die Gefahr des Vergessens, ist die Zukunft der Gefühle in Zeiten der Apokalypse das beherrschende Thema.

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Diese beiden sind die letzten von sechs asiatischen Filmen im Wettbewerb. Fast alle waren überdurchschnittlich stark, und jeder einzigartig in seiner Atmosphäre. Leider außer Konkurrenz liefen weitere Meisterwerke: Etwa HOUSE OF FLYING DAGGERS von Zhang Yimou. Wieder spielt Zhang Ziyi die Hauptrolle, sie ist die neue Große des chinesischen Kinos, neben Maggie Cheung und Gong Lee, die beide in Nebenrollen in 2046 zu sehen sind. Nach HERO hat Zhang Yimou seinen zweiten Martial-Arts gedreht, wieder große Oper und reines Kino, aber bodenständiger, als das abstrakte Farbspektakel in HERO, dominiert von den satten Farben des Herbstwaldes. Es ist atemberaubend, wie sich dieser Regisseur zur Zeit neu erfindet, seinen Stil ändert, nicht einfach einen Zhang-Yimou-Film an den nächsten reiht, sondern lieber manche Fans vor den Kopf stößt. Auch das Festival erfindet sich neu: Während Johnnie To in Berlin immer nur ins Forum durfte, läuft sein neuester Film BREAKING NEWS nun hier im Wettbewerb. Eine überfällige Anerkennung. Schade, dass dazu der Berlinale der Mut fehlte - die Grenzen zwischen Genre und Kunst werden in all diesen Filmen eingeebnet. BREAKING NEWS ist eine komplexe Studie über Macht und Medien im Stil eines Hongkong-Gangsterfilms, Kino als Kinese, massive und doch flüchtig leichte Bewegung von Materie durch den Raum. Wenn 2046 an ein Jazzkonzert in einem verrauchten Keller mit einer hübschen Damentoilette erinnert, dann ist BREAKING NEWS ein brilliant choreographiertes Ballett mit angeschlossener Garküche: denn gekocht wird hier viel und gut. Ein Höhepunkt des Films ist jene Szene, in der die zwei Gangster gemeinsam mit ihren Geiseln ein Mehr-Gänge-Menü zubereiten und essen, und den ganzen Vorgang live ins Fernsehen übertragen.

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Wer all das gesehen hat, kann dem asiatischen Kino rettungslos verfallen. Es sind Filme, die durch den Bauch und das Herz direkt in den Kopf gehen, die nicht belehrend sind, aber intellektuell und ihre Zuschauer nie unterschätzen oder für dumm verkaufen wollen, die auf Bilder und Bewegung setzen, nicht auf viele Worte. Genuß pur.

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Keine Frage, dass man hier, wenn es mit rechten Dingen und Juryboss Tarantino zugeht, den Sieger suchen muss. Neben 2046 hat nach wie vor OLD BOY viele Chancen, beide Filme sind auf unterschiedliche Weise sehr kontrovers. Erinnern sollte man noch einmal an den Japaner NOBODY KNOWS von Hirokazu Kore-eda. Ein Film, der nachwirkt. Man erlebt, wie vier Kinder mitten in der modernen Welt verwildern, auch hier zurückgeworfen werden in den Naturzustand. Vielen Kollegen ging der Film nicht weit genug. Es heißt er sei brav hieß es, und zu lang. Letzteres kann man noch durchgehen lassen, aber zu brav ist der Film nicht. Und nach einer Woche fühlt er sich plötzlich überraschend stark an, bleibt bestehen, während andere Filme längst im Gedächtnis verdampft sind.
Aber geht es auch mit rechten Dingen zu? Am Ende erfüllt sich noch die Horrorvorstellung einer Preisvergabe an MOTORCYCLE DIARIES, Kusturica und Tony Gatlifs einfach nur schrecklichen Zigeuner-Fidel-Romantik-Schrott EXILES. Käme es so, müssten wir folgern: Kill Quentin! Aber wir vertrauen, darauf, dass auch eine Jury einmal Wong Kar-wais resignierte Einsicht umdrehen kann: "Love is really a question of timing."

Rüdiger Suchsland

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