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"Love is really a question of timing." Es gibt
immer den einen Punkt, da schlägt ein Festival um: Die
Wirklichkeit beginnt einen einzuholen, und es wird allmählich
leerer. Die Ersten reisen ab. Der eigene Blick aufs Meer wird
intensiver, man tankt letzte Eindrücke. Doch diesmal
hielt die Spannung bis zum Ende an - eine nahezu perfekte
Dramaturgie, wenn auch unfreiwillig: Langsam, aber ständig
steigerte sich der Wettbewerb bei den 57.Filmfestspielen.
Dann brach Mitte der Woche das Chaos aus: Plötzlich
wurde die morgendliche Pressevorführung des größten
Favoriten von allen, 2046, vom Hongkong-Regisseur
Wong Kar-wai abgesagt. Fast fürchtete man, der
Film werde gar nicht laufen, offenbar war man nicht rechtzeitig
fertig geworden. Doch dann lief der Film am Donnerstagabend
fast als letzter eines sehr starken Wettbewerbs-Programms.
Der erste Eindruck ist überwältigend - und
das vierjährige Warten auf den Film hat sich gelohnt.
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Merkwürdige Atmosphären im Saal. Wie man
sie nur auf einem Filmfestival erleben kann. Eine Dreiviertelstunde
vorher, viel früher, als sonst, hatte man sich in der
Schlange eingereiht. Obwohl die Akkreditierung "rosa
Badge" ja nicht schlecht ist. Aber hier will man auf
Nummer sicher gehen. Wie viele. Gerade noch rechtzeitig,
wäre ich zehn Minuten später gekommen, wäre
es zu spät gewesen. 2046 wollen alle sehen. Im
Saal dann überaus konzentrierte Stimmung. Stille.
Ein bisschen wie vor dem Gottesdienst.
Und dann gleich aufregendes Kino, von der ersten Szene an:
Animationsbilder einer futuristischen Großstadt, sehr
abstrakt, METROPOLIS ohne Expressionismus, BLADE RUNNER ohne
Punk. DIE LIEBENDEN NEHMEN DEN ZUG hatte hier in Cannes vor
Jahren einmal ein Film geheißen. Und auch diesmal
fährt ein Zug ab. Er heißt 2046 und führt
ins Reich der Erinnerungen - auch jener an die Zukunft, an
den rasenden Stillstand der Melancholie, an dem die
Geschichte zuende ist, aber das Denken noch lange nicht. Der
Erzähler beginnt aus dem Off, und der Sog beginnt...
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2046 ist der paradoxe Fall eines SF, der in der Vergangenheit
spielt. In Singapur 1966 sind Tony Leung und Gong Li,
spielen ein Kartenspiel: "If you win, I come with you..."
Natürlich verliert er und später erfahren wir, dass
sie eine nahezu perfekte, professionelle Spielerin ist. "I've
never seen her since." Dann befindet man sich für
den Rest des Films über die meiste Zeit in Hongkong,
Ende der Sechziger, immer wieder unterbrochen von Ausflügen
in Zukunft oder Vergangenheit. Wieder ein Film, in dem Amnesie
eine zentrale Rolle spielt. Und wir lernen, dass auch Maschinen
vergessen können. Eine Vorhölle der Erinnerung:
Opernmusik, Neonlicht, Chinesinnen, die Japanisch lernen,
ein Voyeur, Identitätskrisen, die Leere des Cyberspace,
das Immergleiche, die Melancholie, die Wiederholung...
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2046 ist die atemberaubende Geschichte einer unmöglichen
Liebe, auf fragmentarische Weise erzählt in losen, assoziativen,
aber nuancierten Bildern, die sich gemeinsam mit der genauen
Farbdramaturgie (Grün- und Gelbtöne dominieren),
Dialog- und Gedankenfetzen und Musik durch ausgeklügelte
Montage zu einem dichten und genau rythmisierten atmosphärischen
Teppich fügen, wie er im gegenwärtigen Kino ohne
Beispiel ist. Der Film streift die Terrains des Unbewußten
wie des Unverständlichen, Nicht-Kommunizierbaren.
Angelehnt ist dies alles an Wongs letzten Film IN THE MOOD
FOR LOVE. Doch die Struktur von 2046 ist ohne Frage ungleich
komplizierter, gewissermaßen eine Rückkehr zu der
Erzählweise von CHUNGKING EXPRESS. Ließ sich Wong
damals hineinfallen in das Chaos der Metropole, ist es nun
ein innerer Raum, das Chaos aus Erinnerungen und Wunschträumen.
Auch wer sich davon vielleicht überfordert fühlt,
alles für eine akademische Kopfgeburt hält
oder das einfach nicht mag, wird sich dem unmittelbaren sinnlichen
Eindruck, der Dynamik und der kompositorischen Meisterschaft
des Films nur schwer entziehen können.
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Im Zentrum steht Chow, Journalist und Autor von populären
Stories, eine Art Philip K. Dick im spätsechziger-Hongkong
und zugleich ein Liebesdetektiv: Aufklärer, Flaneur und
distanzierter Beobachter - und das alter ego seines Regisseurs.
"Men like me have nothing, but free time." Gespielt
wird er in all seiner Charme-ummantelten, kühlen Tristesse
von Tony Leung, der bereits in IN THE MOOD FOR LOVE die Hauptrolle
spielte. Chow ist ein naher Verwandter jener damaligen Figur.
Sie lebt wieder im Hongkong der 60er und hat eine unglückliche
Liebe hinter sich. Nun schläft Chow zwar mit vielen
Frauen, doch Gefühle läßt er nicht zu,
auch dann nicht, als ihm die wahre Liebe in Gestalt von Bai
Ling (Zhang Ziyi) begegnet. Am Ende steht die Erkenntnis:
"Love is really a question of timing." Um
diese Kernstory und ihre Vor- und Rückblenden herum,
hat Wong mehrere andere Episoden gelegt, die den Hauptstrang
unterbrechen, umgeben, fortführen. Man weiß nicht
genau, ob es sich bei alldem nur um jene Geschichten handelt,
die der Autor schreibt, oder um seine Phantasien und Tagträume,
oder auch um Parallelwelten. Denn 2046 ist zugleich auch das
Jahr, in dem eine dieser Stories spielt: Ein Mensch verliebt
sich in einen Cyborg. Vor allem aber bezeichet der Filmtitel
einen Zustand des melancholischen Stillstands, einen Ort,
aus dem, wie es heißt, noch keiner herausgekommen sei.
"You can never leave 2046. You can only hope,
it is leaving you some day. Nobody has ever come back, except
me."
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2046 ist eine komplexe Passage durch Zeiten und Ideen, Phantasien
und Realität - die Geschichte Hongkongs scheint in kurzen
Dokuszenen auf -, ein Roman der Erinnerung und Emotionen.
Wenig berührenderes war in den letzten Jahren im Kino
zu sehen als der letzte der vielen Abschiede zwischen Tony
Leung und Zhang Ziyi. Das reine Unglück. Und die ewige
Frage: "Why can't it be like it was before?" Vor
allem aber - und dies ist gewiß nicht allein ein erster
Eindruck - ist dies die Verdichtung aller Werke Wong Kar-wais,
ein meisterhaft gemachter Film, der sich ganz auf sein
Medium verläßt: Bilder, die immer einen Mehrwert
haben, eine Aussage, die sich nicht allein in Worte fassen
läßt, sondern in Gefühle - ein großer
Preisfavorit.
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Eine merkwürdige Verwandtschaft verbindet 2046 mit dem
Anime INNOCENCE von Mamoru Oshii, der als GHOST
IN THE SHELL 2 annonciert ist, und gleichfalls im Wettbewerb
läuft. Ein Zeichentrick-Autorenfilm, dessen Tiefe wie
im Fall von 2046 beim ersten Sehen kaum zu erfassen ist -
zu gebannt ist man von der Gesamtvision und dem sinnlichen
Eindruck, den sie hinterläßt. Die Psychoanalyse
eines Androiden wird zum Ausgangspunkt einer ästhetischen
Grundsatzreflexion: Vor allem die Literatur des 17. und 18.
Jahrhunderts - das Werk Descartes', Villiers d'Isle-Adams
"L'Eve future", Miltons "Paradise Lost",
de la Mettries "L'Homme machine" und Kleists
"Über das Marionettentheater" - steht im Zentrum
der hochgebildeten, stellenweise schwerblütigen, dann
wieder doch poetisch leichten Meditation. Und wie in 2046
sind die Last der Erinnerung und die Gefahr des Vergessens,
ist die Zukunft der Gefühle in Zeiten der Apokalypse
das beherrschende Thema.
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Diese beiden sind die letzten von sechs asiatischen Filmen
im Wettbewerb. Fast alle waren überdurchschnittlich
stark, und jeder einzigartig in seiner Atmosphäre.
Leider außer Konkurrenz liefen weitere Meisterwerke:
Etwa HOUSE OF FLYING DAGGERS von Zhang Yimou.
Wieder spielt Zhang Ziyi die Hauptrolle, sie ist die
neue Große des chinesischen Kinos, neben Maggie Cheung
und Gong Lee, die beide in Nebenrollen in 2046 zu sehen
sind. Nach HERO hat Zhang Yimou seinen zweiten Martial-Arts
gedreht, wieder große Oper und reines Kino, aber bodenständiger,
als das abstrakte Farbspektakel in HERO, dominiert von den
satten Farben des Herbstwaldes. Es ist atemberaubend, wie
sich dieser Regisseur zur Zeit neu erfindet, seinen Stil ändert,
nicht einfach einen Zhang-Yimou-Film an den nächsten
reiht, sondern lieber manche Fans vor den Kopf stößt.
Auch das Festival erfindet sich neu: Während Johnnie
To in Berlin immer nur ins Forum durfte, läuft sein
neuester Film BREAKING NEWS nun hier im Wettbewerb.
Eine überfällige Anerkennung. Schade, dass
dazu der Berlinale der Mut fehlte - die Grenzen zwischen Genre
und Kunst werden in all diesen Filmen eingeebnet. BREAKING
NEWS ist eine komplexe Studie über Macht und Medien im
Stil eines Hongkong-Gangsterfilms, Kino als Kinese, massive
und doch flüchtig leichte Bewegung von Materie durch
den Raum. Wenn 2046 an ein Jazzkonzert in einem verrauchten
Keller mit einer hübschen Damentoilette erinnert, dann
ist BREAKING NEWS ein brilliant choreographiertes Ballett
mit angeschlossener Garküche: denn gekocht wird hier
viel und gut. Ein Höhepunkt des Films ist jene Szene,
in der die zwei Gangster gemeinsam mit ihren Geiseln ein Mehr-Gänge-Menü
zubereiten und essen, und den ganzen Vorgang live ins Fernsehen
übertragen.
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Wer all das gesehen hat, kann dem asiatischen Kino rettungslos
verfallen. Es sind Filme, die durch den Bauch und
das Herz direkt in den Kopf gehen, die nicht
belehrend sind, aber intellektuell und ihre Zuschauer nie
unterschätzen oder für dumm verkaufen wollen, die
auf Bilder und Bewegung setzen, nicht auf viele Worte. Genuß
pur.
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Keine Frage, dass man hier, wenn es mit rechten Dingen und
Juryboss Tarantino zugeht, den Sieger
suchen muss. Neben 2046 hat nach wie vor OLD BOY
viele Chancen, beide Filme sind auf unterschiedliche Weise
sehr kontrovers. Erinnern sollte man noch einmal an den Japaner
NOBODY KNOWS von Hirokazu Kore-eda. Ein Film,
der nachwirkt. Man erlebt, wie vier Kinder mitten in der modernen
Welt verwildern, auch hier zurückgeworfen werden in den
Naturzustand. Vielen Kollegen ging der Film nicht weit genug.
Es heißt er sei brav hieß es, und zu lang.
Letzteres kann man noch durchgehen lassen, aber zu brav ist
der Film nicht. Und nach einer Woche fühlt er sich plötzlich
überraschend stark an, bleibt bestehen, während
andere Filme längst im Gedächtnis verdampft sind.
Aber geht es auch mit rechten Dingen zu? Am Ende erfüllt
sich noch die Horrorvorstellung einer Preisvergabe an MOTORCYCLE
DIARIES, Kusturica und Tony Gatlifs einfach
nur schrecklichen Zigeuner-Fidel-Romantik-Schrott EXILES.
Käme es so, müssten wir folgern: Kill Quentin!
Aber wir vertrauen, darauf, dass auch eine Jury einmal Wong
Kar-wais resignierte Einsicht umdrehen kann: "Love is
really a question of timing."
Rüdiger Suchsland
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