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Regelmäßig kann man in den Medien von Neurowissenschaftlern
hören, dass sie aufgrund ihrer aktuellen Forschungen
davon ausgehen, dass unsere gesamten geistigen Fähigkeiten
auf rein physikalisch-chemische Prozesse zurückzuführen
sind und somit sowohl unsere Handlungsfreiheit als auch unser
eigenes Ich nichts anderes sind, als schlichte Illusionen.
Diese Thesen aufgreifend, diskutieren nun Fachleute der verschiedensten
Gebiete (von den Rechtswissenschaften über die Psychologie
bis hin zur Philosophie), was die Richtigkeit dieser Behauptungen
für unser tägliches Leben bedeuten würde. Die
dabei immer gestellte Grundsatzfrage lautet: Wie könnten
wir mit der Gewissheit, dass unser Bewußtsein, unser
eigenes Ich, nur eine Illusion ist, glücklich weiterleben?
Hilfreich bei der Beantwortung dieser schwerwiegenden Frage
könnte der Besuch eines Kinos sein, denn nirgendwo sonst
gibt sich der Mensch so bedingungs- und vorbehaltlos den Illusionen
hin.
Obwohl wir in jeder Sekunde eines Kinobesuchs wissen, dass
das Gezeigte eine Fiktion ist, die mit großem technischem
Aufwand (der uns durch entsprechende Making-of Sendungen auch
noch nahe gebracht wird) erzeugt wurde, obwohl wir die Schauspieler
schon in 20 anderen Rollen gesehen haben, obwohl wir wissen,
wie die gruseligen Monster aus Kunststoff gebaut und die phantastischen
Welten im Computer errechnet wurden, obwohl wir wissen, dass
im Film kein Mensch wirklich stirbt, obwohl wir all das wissen,
sitzen wir doch immer wieder im Dunkeln und spüren Freude,
Angst, Spannung, Trauer, Hass, Mitleid...
Wenn man es so betrachtet, ist jeder gelungene Kinobesuch
eine Überwindung der Vernunft und somit ein kleines Wunder.
Im vergangen Jahr gab es zum Glück wieder eine ganze
Reihe von Filmen, die mich dieses "Wunder" erleben
ließen. Sie, und nur sie, seien im Folgenden genannt.
Brüchige Welten
Während also die Wissenschaftler die Existenz des selbstbestimmten
Ichs diskutieren, waren im Kino 2004 auffällig viele
Filme zu sehen, die gerade die Ver- und Zerstörung der
eigenen inneren Sicherheit zum Thema hatten.
Etwa im russischen Film DIE RÜCKKEHR, in dem das
unerwartete Auftauchen des Vaters zwei Brüder wortwörtlich
aus ihrem bisherigen Leben reißt und zu einer rätselhaften
Reise mit dramatischem Ausgang zwingt.
In OLDBOY wird ein Mann scheinbar grundlos entführt
und für Jahre in ein Zimmer eingesperrt. Als man ihn
schließlich gehen läßt, ist er zwar körperlich
wieder frei, doch geistig ist er gefangener als zuvor.
Gefangen in den eigenen Gedanken ist auch der von Ralph Fiennes
gespielte SPIDER, der in seiner schizophrenen Welt
noch einmal die Traumata seiner Kindheit durchlebt und in
der Gegenwart wie ein zufälliger Besucher wirkt (unbedingt
den 25.1. und 26.1.05 vormerken, wenn das Filmmuseum SPIDER
in der Reihe "Unsichtbares Kino" noch einmal zeigt!).
Einen Bruder im verwirrten Geiste hatte Spider in Trevor Reznik
aus dem Film THE MACHINIST. Der mit Abstand kafkaeskeste
Film des Jahres, in dem der Hungerkünstler Christian
Bale eines Tages aus einem schlaflosen Alptraum erwacht, um
sich in einen Mörder verwandelt zu finden.
Nicht anders ergeht es dem MANCHURIAN KANDIDAT, den
selbst sein verzweifelter Golfkrieg-Kamerad (Denzel Washington)
nicht mehr retten, sondern nur noch erlösen kann. Selbst
bei den durchgehend guten Schauspielleistungen dieses Films,
sticht doch die Darstellung von Meryl Streep, als gnadenlose
Mutter, hervor.
Nicht nur Männer plagen Realitätsverlustängste,
so dass Nicole Kidman in BIRTH mit der Behauptung eines
10jährigen Jungen, er sei ihr wiedergeborener Ehemann,
um- und beinahe untergehen muss.
Als Spezialist für die lustige Seite der geistigen Fehl-
und Überfunktion, lieferte auch 2004 der notorische Drehbuchautor
Charlie Kaufman mit VERGISS MEIN NICHT! seinen Beitrag.
Jim Carrey läßt sich einige unschöne Erinnerungen
absaugen, was nicht ohne aberwitzige Konsequenzen bleibt.
Neben diesem thematischen Schwerpunkt gab es noch weitere
gelungene Dramen, die nichts mit Realitätsproblemen zu
tun hatten und sich z.B. mit dem Zufall beschäftigten.
Ein dramatischer Zufall löst in 21 GRAMM eine
noch dramatischere Kettenreaktion aus. Einmal mehr großartig
die Schauspielkunst von Benicio Del Toro und mit dem Regisseur
Alejandro Gonzalez Inarritu (AMORES PERROS) wird man auch
in Zukunft rechnen müssen.
Seit Jahren rechnen muss man mit Gus van Sant, dessen Erfolgsfilme
gerne übersehen lassen, dass er zu den innovativsten
Regisseuren Amerikas zählt. Bewiesen hat er dies einmal
mehr mit ELEPHANT, in dem er unter dem Mantel der zufälligen
Schlichtheit eine äußerst komplexe und brillante
Inszenierung versteckte. Noch experimenteller und mindestens
genau so faszinierend wie ELEPHANT war van Sants GERRY, der
es leider nur zu einem Kurzauftritt im Filmmuseum brachte.
"Wo die Liebe hinfällt...", sagt man gerne,
wenn es um die Unberechenbarkeit der zwischenmenschlichen
Gefühle geht. Eine sehr gelungene Variante dieses Themas
fand LIEBE MICH, WENN DU DICH TRAUST, eine lebenslange
Liebesgeschichte, die auf absurden Wetten aufbaut. Der gerne
gezogenen Vergleich zur FABELHAFTEN WELT DER AMELIE hinkt
zwar was Inhalt und Stimmung betrifft, kann aber bezüglich
der visuellen Umsetzung durchaus bemüht werden.
Noch unberechenbarer als die Liebe ist das Glücksspiel.
Das hält Philip Seymour Hoffman als klugen Bankangestellten
in OWNING MAHOWNY aber nicht davon ab, immer wieder gegen
die Wahrscheinlichkeit anzutreten. Sein Verhängnis: er
ist nicht nur ein besessener Spieler, sondern auch ein besessener
Verlierer.
Um ganz andere Dinge ging es in Akin Fathis GEGEN DIE
WAND, der sich auf dem sehr harten Boden der Realität
um Liebe, Freiheit und Identität dreht. Wenn deutsches
Kino nur öfter so heftig und zugleich so schön wäre.
Ähnliche Themen, aber unter ganz anderen Vorzeichen,
behandelte Atom Egoyans ARARAT, der sich zusätzlich
mit den Schwierigkeiten des künstlerischen Prozesses
befasste. Ein Film, der anfänglich beinahe unter der
Last seines Inhalts erdrückt wird, um zum Schluß
aber mit erstaunlicher Leichtigkeit alles zu einem großen
Bild zusammenzufügen.
In YOUNG ADAM wird nichts zusammengefügt, sondern
vieles auseinander gerissen. Eine düstere Bootsfahrt
in das Herz der Finsternis des vermeintlich netten Möchtegernautors
Joe, großartig dargestellt von Ewan McGregor.
Fahrradfahrerdiebe und Gegen-den-Strichmännchen
Zum Glück war das Kinojahr 2004 nicht nur ernst und
dramatisch, sondern oft genug humorvoll und unterhaltsam.
Über everybody's darling LOST IN TRANSLATION weitere
Worte zu verlieren spare ich mir, um dafür ausdrücklich
auf AMERICAN SPLENDOR hinzuweisen.
Die wunderbar bissige, geistreiche und formvollendete Mischung
aus Doku und Comic(real)verfilmung über das Leben des
ewig schlecht gelaunten Comicautors Harvey Pekar, gehört
zum meinen Highlights 2004.
Eine gewisse geistige Verwandtschaft zu AMERICAN SPLENDOR
besaß der Anti-Weihnachtsfilm BAD SANTA mit Billy
Bob Thornton als white christmas trash. So lange solch bitterböse
Filme aus Amerika kommen, mache ich mir (zumindest was Kunst
und Kino betrifft) keine Sorgen um das Land des wiedergeborenen
Christen George W. Bush.
Nicht durchgehend perfekt, aber mit vielen guten und einigen
besonders schönen Episoden, präsentierte sich Jim
Jarmusch' Kurzfilmsammlung COFFEE AND CIGARETTES. Die
Episode mit Bill Murray, zusammen mit seiner Performance in
LOST IN TRANSLATION, untermauert nur meine persönliche
Theorie, dass Murray der beste lebende Filmkomiker Amerikas
ist.
Eine der erfreulichsten Überraschungen bot STATUS
YO!, eine (1.) very low budget (2.) deutschen Komödie
über (3.) die Berliner Hip Hop-Szene. Während sonst
meist schon einer der drei Punkte reicht, um mich aus dem
Kino zu treiben, ist STATUS YO! wirklich rundum gelungen,
mit echten Charakteren, erstaunlich schönen Bildern und
natürlich feinstem Hip Hop. Yo, die fetten Jahre sind
noch lange nicht vorbei.
Von der Berliner Hip Hop-Szene zur gehobenen Pariser Literaturwelt.
In SCHAU MICH AN! sprühen die Dialoge nur so vor
Geist, Witz und Boshaftigkeit. Ein fast zynischer Film über
die Verlockungen des Ruhms, das gnadenlose Kastensystem unserer
modernen Gesellschaft und (natürlich) die Liebe, oder
was manche dafür halten.
Losgelöst von allem Realem, boten zwei äußerst
unterschiedliche Filme die Möglichkeit zur Flucht in
eine andere Welt.
DAS GROSSE RENNEN VON BELLEVILLE war mein Trickfilm
des Jahres. Ein visuelles Fest, das den alten Zeiten huldigt,
voller freundlicher Ironie gezeichnet und eine verrückte
Geschichte erzählend. Noch nie hat sich eine Trickfilmfigur
so über einen Berg gequält.
Ganz anders präsentierte sich da HELLBOY. Angesichts
all der glatten Comicverfilmungen der letzten Jahre, ist der
Regisseur Guillermo Del Toro genau der richtige Mann, dem
Superhelden aus der Hölle die notwendige Melancholie
und Süffisanz zu verleihen. Zudem garantiert der Name
Del Toro, dass der Film in einem düster pittoresken Schattenreich
spielt.
Es gab Zeiten, da standen Western und Samurai-Filme in einer
fruchtbaren Symbiose, doch seit beide Genres massiv an Popularität
verloren haben, übernehmen westliche Action- und östliche
Martial Arts-Filme ihre Rolle. Um so schöner, zwei sehenswerten
Vertretern der "alten Schule" im Kino zu begegnen.
Im bildgewaltigen OPEN RANGE nimmt Kevin Costner und
der (zum Glück) unverwüstliche Robert Duvall den
Colt in die Hand, um gegen unfreundliche Grundbesitzer anzutreten.
Man sollte sich nicht von der ruhig lakonischen Stimmung des
Films täuschen lassen. Am Schluß wird derart heftig
geschossen, wie schon lange nicht mehr.
Auf japanischer Seite greift Takeshi Kitano als blinder ZATOICHI
zum Schwert, um für Recht und Ordnung und eine enormes
Blutbad zu sorgen. Und da Kitano in seiner Heimat auch einer
sehr angesehener Komiker ist, bekommen wir nebenbei ein ordentliche
Portion japanischen Humors geliefert, der - wie so vieles
aus diesem Land - sehr fremd aber auch sehr interessant ist.
Und was konnte man in 2004 tun, um sich einfach nur in bester
Manier unterhalten zu lassen, ohne die gewohnten Ansprüche
an ein gepflegtes Kinoerlebnis vor Filmbeginn abschalten zu
müssen, wie sein Handy?
Möglichkeit 1: STARSKY & HUTCH. Dort übernehmen
Ben Stiller und Owen Wilson die Rollen der legendären
Fernsehhelden (die in persona natürlich nicht fehlen
dürfen), das obligatorische Auto ist auch dabei und Snoop
Dogg gibt den Huggy Bear. Sehr amüsant, sehr beschwingt,
sehr flott, sehr clever.
Möglichkeit 2: OCEAN'S TWELVE. Steven Soderbergh
und die ihm treu verbundenen Schauspielerkumpels gehen mal
schnell Geld verdienen, um dann wieder Kunstfilme zu drehen.
Ein aberwitziger Ritt durch die Kinogeschichte im Allgemeinen
und den Gangsterfilm im Speziellen, bis oben hin voll mit
bestens gelaunten Stars, mit der Soderbergh eigenen Dreistigkeit
inszeniert und im Hintergrund groovt der Soundtrack von David
Holmes.
So wie dem Gangster Danny Ocean, ist auch Soderbergh wieder
ein großer Coup gelungen.
Some kind of reality
Erfreulich groß war das Dokumentarfilmangebot in 2004,
was hoffentlich darauf hindeutet, dass die Verleiher endlich
erkannt haben, wieviel gutes Geld damit zu verdienen ist (inwiefern
das mit den Erfolgen von Michael Moore zu tun hat, sei einmal
dahingestellt).
Was aber haben Dokumentarfilme in einem Jahresrückblick,
der sich mit Leinwand-Illusionen beschäftigt, zu tun?
Sind Dokumentarfilme in ihrer Darstellung der Tatsachen nicht
das genau Gegenteil einer Illusion?
Da ich dieser schwierigen Frage bereits am 22.7.04 in einem
eigenen Artikel ausführlich nachgegangen bin, erlaube
ich mir, auf diesen Text zu verweisen und in aller Kürze
die Dokumentarfilme zu nennen, die mich in den letzten zwölf
Monaten sowohl inhaltlich als formal uneingeschränkt
überzeugt haben. Es waren dies HÖLLENTOUR,
THE OTHER FINALE, THE FIVE OBSTRUCTIONS, METALLICA - SOME
KIND OF MONSTER, RHYTHM IS IT!, THE FOG OF WAR und
TOUCH THE SOUND.
Alle eben genannten Filme haben es in 2004 also geschafft,
mich auf die ein oder andere Art wirklich zu berühren,
obwohl sie nüchtern betrachtet nichts anderes sind, als
bewegte, bunte Bilder auf einer weißen Leinwand.
Wenn also unser Bewußtsein und unser freier Wille -
wie es die Gehirnforscher behaupten - auch nur eine solche
Illusion ist, was sind dann unsere Gedanken anderes, als der
Film unseres Lebens, der Tag für Tag vor unserem inneren
Auge abläuft?
Eine Vorstellung, mit der ich sehr gut leben könnte.
Michael Haberlander
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