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MOMENTE, DIE BLEIBEN
Die Zigarette danach. Die junge Charlotte (Scarlett
Johansson) tritt aus dem Karaoke-Raum heraus, in dem sie eben
noch gesungen hatte, verlässt seine stickige Intimität.
Der zerfurchte Bob Harris (Bill Murray) folgt ihr. Sie rauchen
eine Zigarette. - Ein Moment der Stille in Sofia Coppolas
LOST IN TRANSLATION, bevor die Fahrt durch das nächtliche
Tokio im Sound von "My Bloody Valentine Loveless"
badet. Ein Moment ohne Worte, jenseits von "translation"
und ganz bei sich.
Soundlevel 55. Bevor die Gesangslehrerin Sylvia Millet
(Agnès Jaoui) das Landhaus des egomanischen Verlegers
Étienne Cassard (Jean-Pierre Bacri) verlässt,
der noch nie seine Tochter singen gehört hat, legt sie
eine Tonaufnahme von ihr in den Kassettenrekorder und dreht
voll auf. So schön kann Rache sein, wenn man nur das
Bild, das man sich von jemandem gemacht hat, hinter sich lassen
kann. (COMME UNE IMAGE, von Agnès Jaoui.)
Stepptanz-Eskapade. Wenn am Schluss der Samurai-Satire
ZATOICHI die Bauern aus dem 19. Jahrhundert auf der
Bühne einen Stepptanz hinlegen, der in nichts den Tanzeinlagen
eines Fünfziger-Jahre-Musicals nachsteht, dann scheint
Takeshi Kitano der Illusionmaschine Kino die lange Nase zu
zeigen und zu sagen: "All is fiction, the show must go
on!"
Die Kapelle am Bosporos. GEGEN DIE WAND hat Fatih Akin
seinen Film mit Sicherheit nicht gefahren, und doch sind seine
schönsten Momente die, wenn die Handlung angehalten wird
und wie in einer griechischen Tragödie die Geschehnisse
singend kommentiert werden. Dezenter und schöner konnte
Akin sein wütendes Märchen über die "Allemançi"
nicht betten.
Rettende Schachtelspiele. Wenn Erzählungen in
der Erzählung zu immer weiteren Erzählungen innerhalb
der Erzählungen führen, dann wird allein das Drehbuch
zum Film. Das kann trotz aller Drögheit, die sich da
anbahnt, zu einem großen Moment der Erleichterung werden.
Nichts ist dann mehr da von der schon entstandenen Befürchtung,
Almodóvar werde in LA MALA EDUCACIÓN
seine schlechte Erziehung ausspielen, indem er auf die langweilige
Erzählstruktur der Binnenerzählung zurückgreift.
Man läßt sich von ihm bereitwillig verschachteln,
und bleibt dabei ganz bescheiden. Dunja
Bialas
Jim Carrey, der durch die visuellen Irrgärten des
"Charlie Gondry" mäandert und am Strand von Hesses
Montauk mit der Hand durch den Sand streicht: "Sand is
overrated. It's just tiny little rocks." ETERNAL SUNSHINE
OF THE SPOTLESS MIND ist zu Anhimmeln großartig.
Wäre der Film ein Tier, wäre er ein Panther.
THE VILLAGE ist so samtweich wie gefährlich, elegant
und gut im Anschleichen. Und so realisiert man in der Zeitlupe
des Geschehens erst, wenn Joaquin Phoenix nach hinten kippt,
dass Adrien Brody ihm soeben ein Messer zwischen die Rippen
gerammt hat.
BIRTH. Wegen des atemberaubenden Kamerafahrt im Vorspann,
durch den verschneiden Central Park unter die dunkle Brücke,
unter der sich schon Edward Norton in 25th HOUR zum Abschied
von seinen Freunden zusammenschlagen ließt, unter der
Woody Allen sich in ANYTHING ELSE verdattert zum Mord bekannte
und wahrscheinlich noch einige andere bedeutende Wendepunkte
erzählt wurden. BIRTH erzählt viele Dinge, viele Bilder
und Momente so, als hätte es sie noch nie gegeben. Einiges
könnte von Kubrick sein.
MUXMÄUSCHENSTILL. Mux schießt sein Mäuschen
still, weil sie nicht hören will. Über den Rücken
der Gesellschaft und einen verbohrten Jüngling, der nach
ihren Zitzen schnappt. Selbstbetrug und Selbstjustiz im selbstgemachten
Kino. Black Comedy, Mockumentary, Satire - Deutschland braucht
mehr davon!
BLUEBERRY. Der erste ernstzunehmende Versuch, einen Castaneda-Western
auf die Leinwand zu bringen. BLUEBERRY macht das, was Berlinalefilm
THE MISSING sich nicht traute. Die besten Momente: Alle, in
denen Vincent Cassell Peyote nimmt.
KILL BILL II. "Trailer Home"-Michael Madsen
doziert über den Unterschied zwischen Superman und Batman.
THE MACHINIST. Auf dem Rummel Geisterbahn fahren und
merken, dass man sich in der eigenen Twilight Zone befindet.
Frauen werden vergewaltigt, Männer ans Kreuz geschlagen,
und der kleine Junge, den man unvorsichtigerweise mitgenommen
hat, steuert den Wagen an der einzigen Gabelung statt in die
"Road to Salvation" in den "Highway to Hell".
Anja Marquardt
Reigen in schwarz-weiß - Ein Tisch, ein Päckchen
Zigaretten und viele, viele Tassen Kaffee - mehr braucht man
nicht für einen grandiosen Film. COFFEE AND CIGARETTES,
von Jim Jarmusch.
Monster in der Psychokiste - Die Oberrocker von Metallica
auf der Couch - solche Geschichten denkt sich kein Drehbuchschreiber
aus, die schreibt einfach nur das Leben. Ein Hoch auf die
Kunst des Dokumentarfilms! METALLICA - SOME KIND OF MONSTER.
Zappelnde Sashimi - OLD BOY, nach jahrelangem
Kerkermartyrium erstmals wieder in einem Restaurant, braucht
nach eigenem bekunden etwas lebendiges und verschlingt einen
sich windenden Kraken.
Racheengel - Ebenfalls um eine ausgesprochen kunstvollen
Rachfeldzug dreht sich alles in KILL BILL. Tarantinos
Story ist zwar weniger raffiniert, dafür sieht Uma Thurman
in ihrem kanariengelben Overall deutlich besser aus als Old
Boy.
Zeitsprung - Eine Frau und ein Mann bummeln durch
Paris, reden wie ein Wasserfall. Unter der plätschernden
Oberfläche des ebenso intelligenten wie witzigen Dialogs
läuft ein stummer der da fragt: Liebst auch Du mich noch?
BEFORE SUNSET haben die zwei das glücklich geklärt.
Nani Fux
Carina Lau rauchend in der Tür stehend, in Zeitlupe,
in Wong Kar-wais 2046 - ein kurzer Augenblick. Coolness
trifft Weiblichkeit, Chris Doyle die unterschätzteste Schauspielerin
Asiens. Man kann, muss sich sofort verlieben. Zu sehen bisher
nur in Cannes, ab kommender Woche im deutschen Kino.
Nicole Kidman in BIRTH. Eine einzige Großaufnahme,
zwei, drei, vielleicht vier Minuten. Die Kamera schaut sie an.
Und sie uns. Dazu läuft Wagner. Und das erzählt mehr,
als über hundert Filme in diesem Jahr zusammen.
Eine kleiner Oktopus wird bei lebendigem Leib verspeist.
Nur noch ein paar Beine des Tiers ringeln sich poetisch um den
Mund des Essers. Animals were harmed in this movie. Und OLD
BOY schlägt KILL BILL. Asien kommt. Endlich!
Bryce Dallas Howard ihrer ersten Filmrolle in THE VILLAGE,
in dem Augenblick, als sie Joaquim Phoenix ihre Liebe gesteht.
Schon davor lebt der Film fast ausschließlich von ihr.
Danach kippt er. Aber dieser Moment ist eine Offenbarung.
Kate Winslet mit knallroten Haaren, schön wie nie,
in einem Haus, das sich in seine Bestandteile auflöst,
das Meer dringt ein, ein Bild, das den Tsunami der asiatischen
Katastrophe vorausahnt, und doch etwas ganz anderes sagen will.
Mag und Jim Carrey auch noch so auf die Nerven gehen und Charlie
Kaufmann sowieso - ETERNAL SUNSHINE IN MY SPOTLESS MIND
ist ein Film wie ein Vergissmeinicht. Rüdiger
Suchsland
DEMAIN ON DÉMÉNAGE, Chantal Akerman. Zwei
junge Frauen lernen sich bei einer Wohnungsbesichtigung kennen
und verabreden, sich die Wohnung zu teilen, weil die eine in
ihr nur tagsüber (an einem erotischen Roman) arbeiten möchte,
die andere nur abends und nachts darin wohnen. Und dann stellt
die eine aber doch klar, dass sie nicht auf eine neue Freundschaft
aus sei, weil sie schon so viele Freunde und Bekannte habe,
dass sie gar nicht mehr zu sich selbst komme. - Nicht mehr zu
wissen, wer man ist, in all den Funktionszusammenhängen,
die nicht mehr dem eigenen Leben wirklich dienen, das könnte
ein Zeichen der Zeit sein. - Und im übrigen musizieren
in diesem Film ständig alle zusammen, ob tatsächlich
mit Instrumenten, singend, oder sprechend, sich bewegend.
UNE VISITE AU LOUVRE, Straub/Huillet. Eine Frauenstimme,
die Äußerungen rezitiert, die Cézanne angesichts
einiger Bilder im Louvre gemacht hat, und die sein Freund
Joachim Gasquet nach dessen Tod aus dem Gedächtnis aufschrieb,
gekürzt und dirigiert von Jean-Marie Straub und Danièle
Huillet. Viele Verschiebungen, weg vom authentischen Ursprung.
Und doch genau so viele, dass ein authentisches Sehen wieder
möglich wird, einen ganzen Film lang, ein materiales,
sinnliches und auch ein zorniges und abschätziges, jenseits
aller gutbürgerlichen Kunstküche, die unterschiedslos
alles schmackhaft macht. Und Jean-Marie Straub hat auch versprochen,
Museen zu hassen und dass ihn niemand jemals wieder in den
Louvre kriegt.
S21, Rithy Pan. Ein Film, der von den kambodschanischen
Arbeitslagern handelt, so wie sie heute die Betroffenen noch
immer bestimmen. Ein ehemaliger Häftling beschreibt seine
gemalten Bilder, die visualisieren, was er immer wieder empfindet.
Ehemalige Wärter, in den damaligen Räumen und Gängen,
spielen und verkörpern plötzlich wieder, wie sie
mit den Gefangenen umgegangen sind, sie anschrien, rumkommandierten
und schlugen. Vielleicht ist der größte Teil des
Gedächtnisses ein körperliches. Eines, das in der
strengen und pathetischen Reinszenierung schonungslos zu Tage
treten kann als Einbruch der Wahrheit.
NOTRE MUSIQUE, Jean-Luc Godard. "Ja, das Bild
ist Glück, aber neben ihm liegt das Nichts. Die Kraft
des Bildes kann nur dann Wirklichkeit werden, wenn es dieses
anruft." Olga, die junge Französin, Jüdin russischer
Herkunft blickt auf zwei Schrifttafeln, auf denen steht: "Es
wird mein Martyrium sein / Morgen werde ich im Paradies sein."
Am Ende betritt sie das Paradies, weil sie mit Büchern
im Rucksack eine Geiselnahme in einem Kino in Tel Aviv veranstaltet
hat. Judith, die andere junge Frau, israelische Journalistin
französischer Herkunft, flüstert dann im Off: "Sie
sind zu zweit, sie, und ich, sie habe ich nie gesehen. Es
ist wie ein Bild, aber eines, das von weitem käme."
Markus Nechleba
STATION AGENT von Tom McCarthy:
Wenn der kleinwüchsige Eisenbahn-Fan Fin zusammen mit dem
ewig quasselnden Joe im Eiswagen dem Zug nachjagt, wird hier
der bedächtig erzählte STATION AGENT von Tom McCarthy
ganz abrupt aufgebrochen. Freundschaften werden in diesem Film
in aller Ruhe geschlossen, aber beim Trainchasing dann energisch
und mit viel Humor zelebriert.
OLD BOY von Park Chan-wook:
Dae-su war fünfzehn Jahre lang eingesperrt. Zurück
in der Freiheit, schlägt er mit einem Hammer seinem ehemaligen
Peiniger für jedes Jahr der Gefangenschaft einen Zahn
heraus. Dass dazu Vivaldis muntere "Vier Jahreszeiten"
erklingen, macht in diesem bitteren Moment deutlich, dass
Park Chan-wook in seinem OLD BOY gleichzeitig mit blutigem
Ernst wie mit augenzwinkernder Leichtigkeit zur Sache geht,
seinen überwältigenden Fluss an Bildern und Geschichten
bis ins kleinste Detail liebevoll zusammen geschustert hat.
GEGEN DIE WAND von Fatih Akin:
Während Sibel Kekilli und Birol Ünel sich in GEGEN
DIE WAND das Leben vom Leib spielen, sich durch eine europäische
Gesellschaft lieben und töten, in der auch die Sicherheitszone
Familie nur noch zur Explosion taugt, musiziert eine türkische
Gruppe direkt unten am Bosporus. Fatih Akin hat damit leitmotivische
Momente der Meditation geschaffen. Eine wohlklingende und
in Sonnenschein getauchte Nebenwelt, in der die harte Realität
musikalisch gespiegelt wird, und danach umso finsterer wieder
vor das Kamera-Auge tritt.
ONG BAK von Prachya Pinkaew:
Der Jungpriester Ting vom thailändischen Lande ist auf
der Suche nach einem Buddha-Kopf und hat schon reihenweise
fiese Schlägertypen übel zugerichtet. Auf der Flucht
vor einer Bande durch das belebte Bangkok macht er Salti über
in den Gassen laufende Händler, springt im Spagat über
fahrende Autos, oder rutscht ebenfalls mit gespreizten Beinen
unter ihnen durch. So findet in ONG BAK von Prachya Pinkaew
hartes Körper-Kino zu seinen Wurzeln der Unterhaltung
zurück. Auch die Wiederholungen dieser Szenen aus anderen
Perspektiven zeugt vom großen Spaß, den gerade
das asiatische Kino immer wieder mit seinen harschen Direktheiten
verbindet.
ARARAT von Atom Egoyan:
Der jugendliche Raffi sitzt in Atom Egoyans ARARAT mit dem
Zollbeamten David im kleinen Hinterzimmer des Flughafens von
Toronto. David vermutet Drogen in den Filmrollen, kommt Raffi
doch damit gerade aus der Türkei. Was Raffi ihm dann
auf dem winzigen Display einer Digitalkamera vorspielt, ist
seine Reise in die Vergangenheit, zeigt in pixeligen Bildern
den Ararat, den heiligen Berg, in dessen Nähe vor knapp
hundert Jahren ein Genozid an Raffis armenische Vorfahren
verübt wurden. Egoyan macht diesen kleinen Moment des
Film-im-Films zum vibrierenden Ereignis der persönlichen
Offenbarung, zum schmerzenden Splitter der vielen Überlagerungen
von Film und Wirklichkeit, von Geschichten und Geschichte
in ARARAT. Thomas
Schöffner
Der allerschönste Filmmoment des vergangenen Jahres
war für mich kein neuer: Filmfest München, Kaurismäki-Retro
(überhaupt DAS Highlight 2004), TATJANA. Eine
wortlose Szene, in der die filmischen Mittel scheinbar gar
nichts machen, in der fast nichts passiert, aber gerade deswegen
von herzzerreißender Größe, Zärtlichkeit,
Einsamkeit, Hoffnung: Matti Pellonpää legt seinen
Arm um Kati Outinen, die ihren Kopf an seine Schulter, und
auf dem Soundtrack fährt Tschaikowskys "Pathétique"
hoch. Mehr nicht. Aber nichts anderes kam da für mich
letztes Jahr im Kino ran.
Ziemlich nah war dieser Größe immerhin LOST
IN TRANSLATION, Sofia Coppolas wunderschöner Film
über das Fremdsein in der Welt und im Leben - und da
insbesondere der Moment am Schluss, wo Bill Murray doch noch
einmal Scarlett Johannsen trifft und ihr etwas ins Ohr flüstert,
und der Film den Anstand hat, es uns nicht hören und
somit diesen Augenblick seinen Figuren ganz allein zu lassen.
Tief berührt hat mich auch das Ende von LES TRIPLETTES
DE BELLEVILLE (dt. DAS GROßE RENNEN VON BELLEVILLE),
überhaupt ganz hoch auf meiner Jahres-Favoritenliste:
Beim ersten Anschauen kann man die grandiose Traurigkeit des
Films etwas übersehen, vor lauter Begeisterung und Freude
über seine visuelle Grandiosität, über seinen
bizarren Witz. Aber wie in das Vakuum nach einem großen
Knall rauscht nach der überdrehten Verfolgungsjagd mit
dem letzten Bild alle verdrängte Traurigkeit schlagartig
wieder herein und überspült einen regelrecht.
Wunderschöne Szenen vor einem Finale: Der Moment in
OPEN RANGE, wo die alternden, harten Cowboys sich,
kurz bevor es ans potentielle Sterben geht, zum ersten Mal
in ihrem Leben ein Stück Schokolade gönnen.
Und schließlich ein Super-Anfang: Die Nummer mit dem
großen Baum, den vielen jungen Männern und der
unbarmherzigen Schwerkraft in ONG BAK. Da wusste man
gleich, dass dieser Film was Besonderes sein würde. Und
Martial Arts-Sensation Tony Jaa enttäuschte nicht, bewies
im atemberaubenden Rest des Films, dass die Vergleiche mit
dem jungen Bruce Lee und Jackie Chan kein hohles Marketing-Gewäsch
sind.
Aus meinem Film des Jahres hingegen, INFERNAL AFFAIRS
II, kann ich seltsamerweise gar keinen Lieblingsmoment
nennen. Es ist die brillante Eleganz seiner Gesamtheit, die
mich so begeistert hat.
Zu viele grandiose Momente dagegen in Rob Zombies HOUSE
OF 1000 CORPSES - und genau dies Überbordende war
so herrlich an diesem Film, der die Wurzeln des Kinos bei
Jahrmarkt und Freakshow nicht vergessen hat, der weiß,
dass Horror-Filme derb, fies, unberechenbar zu sein haben
und nebenbei noch eine prima Geisterbahn-Collage aus 100 Jahren
amerikanischem Entertainment bot - und der selbstverständlich
das wahre TEXAS CHAINSAW MASSACRE-Remake war letztes Jahr.
Schwer auch, einen Lieblingsmoment aus JAZZCLUB - DER
FRÜHE VOGEL FÄNGT DEN WURM herauszupicken. Helge
Schneiders Meisterwerk war nun mal der schönste deutsche
Film des Jahres, basta, und das in jeder albernen, melancholischen,
verschrobenen, avantgardistischen Minute. Aber wenn ich mich
festlegen müsste, dann vielleicht doch die Stummfilmsequenz.
Frohe Kunde zum Schluss: Einige der schönsten Filmmomente
2004 stehen Ihnen, werte Leser, erst noch bevor. Die letzte
Woche Pressevorführungen im vergangenen Jahr brachte
Wong Kar-wais 2046, Scorseses THE AVIATOR, Jeunets
UN LONG DIMANCHE DE FIANÇAILLES (dt. MATHILDE
- EINE GROßE LIEBE). Einer größer als der
andere, allesamt Meisterwerke, die nochmal zu sehen ich kaum
erwarten kann. Der erste Kinomonat 2005 kann kommen.
Thomas Willmann
OLDBOY ist ein Film, in dem sich die denkwürdigen
Szenen aneinander reihen, wie die Perlen an einer Kette, doch
besonders nachhaltig war der wohl verzweifeltste Kampf des
Kinojahrs. Der 15 Jahre lang eingesperrt Dae-su hat gerade
seinem "Gefängniswärter" die Zähne
herausgebrochen und muss sich nun mit dessen kämpferischen
Schergen auseinandersetzen. Es entspinnt sich ein schier endloser
Kampf, brutal, erschöpfend, fern jeder Martial Arts-Eleganz,
unerbittlich, hoffnungslos und beinahe unerträglich.
Fast meint man, es sei ein Standbild. Der massive
Körper von Philip Seymour Hofmann in OWNING MAHOWNY
auf einen weiteren Spieltisch gelehnt. Schließlich
fordert eine minimale Fingerbewegung eine weitere Karte, die
wieder nicht die richtige sein wird. Eine einzige kleine Geste,
in der die Tragik dieses ganzen Menschen steckt.
Schlechte Laune ist der (meist berechtigte) Grundzustand
des Comicautors Harvey Pekar im täglichen Leben wie im
Film AMERICAN SPLENDOR. Doch plötzlich, in diesem
ständig zwischen Spiel-, Dokumentar- und Trickfilm wechselnden
kleinen Meisterwerk, die Szene, in der der echte Pekar mit
seinem besten Freund und bekennenden Nerd Toby Radloff im
Filmstudio stehen und sich über Jelly Beans unterhalten.
Ein kurzer Moment, der in seiner ruhigen Belanglosigkeit sogar
für Pekar einen kurzen Moment der Zufriedenheit bereithält.
Echtes Glück kann man im Kino finden, wenn es einem
Film gelingt, gute Musik und schöne Bilder perfekt zu
synchronisieren.
Hervorragendes Beispiel hierfür bot der Schluß
des insgesamt sehr gelungen STARSKY & HUTCH. In
einer fließenden Kameraeinstellung folgen wir dem legendären
rot-weißen Ford Gran Torino bei seiner entspannten Fahrt
durch einen leeren Wasserkanal und Aerosmith singen von Sweet
Emotions. Wie wahr.
Während sich der clevere Robert McNamara in THE FOG
OF WAR geschickt davor drückt, seine wahren Gefühle
und Gedanken zu zeigen, gelingen Pepe Danquart in HÖLLENTOUR
außergewöhnlich enthüllende Momente. So auch
als Erik Zabel nach einer weiteren Etappe der Tour de France
halbnackt und erschöpft im Bus sitzt, sich von seinem
Betreuer abwaschen und -trocknen läßt und dabei
irgendwie ratlos darüber redet, was für ein Wahnsinn
das alles doch sei. In seinen Augen dabei ein angstvoller
Blick, als ob er gerade einen Geist gesehen hätte. Michael
Haberlander
ENTTÄUSCHUNGEN, DIE VERGEHEN
Gelber Regenmantel auf Asphalt. Leider lässt
Romuald Karmaker sein intensives Kammerspiel DIE NACHT
SINGT IHRE LIEDER über die Desillusionen eines jungen
Paars im Tatort-Gestus enden. Es gibt keinen Grund, weshalb
sich der Kamerafokus zusammen mit Frank Giering über
die Balkonbrüstung stürzen sollte. Tödlicher
Absturz des Films aus der hohen Höhe, auf der das Drama
sich bis kurz vor Schluss bewegt hatte.
Manche Menschen ändern sich nie. An die Wand
gepinnte, besserwisserische und moralisierende Worte, mit
denen Hans Weingartner den Showdown seiner Befindlichkeitskomödie
DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI einleitet. Was
am Schluss noch ein politisches Märchen hätte werden
können über die gelingende Revolution bundesrepublikanischer
DREAMERS, und den Film mit dem niedlichen Daniel Brühl
und der wildmähnigen Julia Jentsch zumindest partiell
noch hätte retten können, wird hier endgültig
zum pseudopolitischen Thesenfilm plakatiert. Dunja
Bialas
OCEAN'S 12. eine große Enttäuschung, weil
die Story keine ist und die Slickness des Erzählens,
die bei Oceans' Eleven so begeistert hat, von bekloppten Handlungsfetzen
ersetzt wird. Gleichzeitig aber definitiv einer der hellsten
Momente des Kinojahres 04, weil er das, was an ihm enttäuscht,
so exzessiv übersteigert, dass es schon wieder sehr genial
wird. Die Presse bejubelt den neuen Mainstream-Film von Soderbergh?
Der lacht sich ins Fäustchen, weil niemand Lunte riecht.
OCEAN'S 12 ist eine Jazz Variation der Motive des ersten Teils
- also experimentelles Kino. Anscheinend reicht ein Dutzend
Star-Visagen, um den landläufigen Publikum das Gegenteil
zu suggerieren. Well done, Stevie.
LOST IN TRANSLATION. Den Film zuerst auf deutsch
gesehen, Billy Murray sagt. Ihn dann noch einmal, um den Hype
zu verstehen, auf englisch gesehen. Irgendwie beides belanglos.
Besonders die "intime" Szene, in der beide auf dem
Bett liegen, Tee trinken und Fernsehen schauen. Jim Jarmush
ohne Zauberstock.
ALEXANDER. "Alllexandrrr, you must conqurrr
the thrrrone of yourrr fathrrr." Mit den Schlachten-Epen
sollte jetzt erst mal gut sein. Die Welt braucht es nicht,
dass ihre historischen Schlachtfelder (wohl um ein wenig Licht
in die "generated Crowd" zu bringen) mit der Choreographie
eines Football-Spiels inszeniert werden. Anja
Marquardt
Blass und tuntig - LA MALA EDUCACIÓN
- nie war Almodóvar so farblos wie hier. Nani
Fux
"Super Size Me I.": Bruno Ganz in DER UNTERGANG
- ein einziger Manierismus, eine einzige Peinlichkeit in einem
Film, der weitaus cooler war, als man befürchten musste.
"Super Size Me II.":Charlize Theron in MONSTER.
Sollte im UNTERGANG eigentlich Göring spielen. Tut sich dann
irgendwie doch. Menschlich halt.
"Super Size Me III.":Gael Garcia Bernal in
LA MALA EDUCACIÓN - sorry Ihr Damen, er mag
ja auch in Frauenkleidern noch der süßeste Posterboy sein.
Aber warum ruft bei Almodovar nicht endlich einer laut, dass
dieser Kaiser gar nichts an hat. Noch nicht mal Frauenkleider.
"Super Size Me IV.":AMERICAN SPLENDOR - Die
Rache der Nerds. Hier könnte auch Michael Moore stehen. Oder
Mel Gibson. Aber AMERICAN SPLENDOR ist schlimmer. Viel schlimmer.
"Super Size Me V.":DIE GESCHICHTE VOM WEINENDEN KAMEL.
Das Kamel hat geweint, klar. Mein Patenkind hat geweint. Ich
auch. Ohne Worte. Rüdiger
Suchsland
ALEXANDER von Oliver Stone:
Das Störende an ALEXANDER beginnt mit dem ersten und
endet mit dem letzten Ton. Von den Fanfaren zu Beginn bis
zum allerletzten Streicherteppich hat Vangelis kein Gefühl
unkommentiert, keine Dramatik ohne musikalische Entsprechung
gelassen. Der brüchige und oft ziellos umher irrende
Film wird an allen rauen Stellen von synthetischen Sounds
zugekleistert. Was beim futuristischen BLADERUNNER noch irgendwie
passte oder bei Henry Maskes Boxkampfeinmärschen einst
den nötigen Heroismus in die Hallen donnerte, das wirkt
hier unmotiviert und höchst beliebig.
DER UNTERGANG von Oliver Hirschbiegel:
Oliver Hirschbiegel möchte zusammen mit Bernd Eichinger
einen möglichst objektiven Film über die NS-Zeit
machen und verfällt bei DER UNTERGANG gefährlich
oft einem Nazi-Blick. Am unverzeihlichsten in der Szene, in
der Adolf Hitler zusammen mit Eva Braun Selbstmord begeht,
im privaten Zimmer des Führerbunker, im Angesicht der
Niederlage. Anstatt mit filmischen Mut einfach mit der Kamera
die beiden beim Sterben ins Visier zu nehmen, oder wenigstens
einen Blick auf den toten Hitler zu richten, bleibt der Film
hier dem Führer-Wunsch treu und verhüllt die Leiche
stets andächtig. Dem Nazi-Mythos des unsterblichen Führers
wird damit ganz ungeniert in die Hände gespielt. Thomas
Schöffner
Enttäuschungen habe ich mir weitgehend erspart dieses
Jahr. Soweit ich Filme, mit denen ich nichts anfangen kann,
nicht gleich komplett vermieden habe, haben sie meist dann
doch meine Erwartungen erfüllt - zum Beispiel, dass Wolfgang
Petersen ein einfallsloser Langweiler ist und bleibt und TROY
da keinen Deut dran ändert, oder dass man in Deutschland
Genre-Kino nicht einfach so aus dem Boden stampfen kann, wie
das glücklos LAUTLOS versuchte.
Unerwartet traf mich nur, was für ein possierlicher
Postkarten-Kitsch THE MOTORCYCLE DIARIES war, und dass
sich der vielgepriesene MONSTER als reinstes TV-Movie
der Woche herausstellte.
Und ein klein bisschen enttäuscht war ich vom ersten
Sehen von BIG FISH - weil ich zu sehr immer nur auf
Tim Burton-Typisches wartete und weniger Augen dafür
hatte, was für ein wundervoller Film das unabhängig
davon ist. Beim zweiten Mal hat mich diese schöne Geschichte
darüber, wie es sich anfühlt, wenn einem sein Leben,
seine Welt als zu kleiner Teich erscheint, aber dann voll
erwischt.
Einen der schönsten Kinomomente bescherte mir hingegen
THE PASSION OF THE CHRIST: Als der Abspann von Mel
Gibsons Oberammer endlich über die Leinwand war und ich
den zähnefletschenden Fundi-Kitschpostkarten-Krampf hinter
mir hatte.
Thomas Willmann
Enttäuschungen entstehen ja vor allem dann, wenn man
mehr von etwas erwartet hat oder wenn ein Film seinen Möglichkeiten
nicht gerecht wird.
So war es etwa in MARTINS PASSION, einer Doku über
den brasilianischen Klaviervirtuosen Joao Carlos Martins.
Das kaum zu glaubende Leben dieses Mannes würde Stoff
für fünf spannende Dokumentarfilme bieten, aber
die Regisseurin schafft es, daraus einen unstrukturierten,
diffus dahinplätschernden, gestelzten Film zu machen.
Sehr schade.
Bei 1000 anderen Regisseuren hätte ich angesichts von
FEEL LIKE GOING HOME einfach die Schultern gezuckt
und gedacht: "Passt schon". Aber für Martin
Scorsese, dem Mastermind des sogn. Blues-Projekts, dem Mann,
der uns u.a. die Mafia, New York, Profibillard und den italienischen
Neorealismus bis in die letzte Faser hinein erklärt hat,
für den Musik-, Film- und Geschichtsbesessenen, bleibt
der Film zu weit an der Oberfläche und wird so (leider)
zur Enttäuschung.
Die unglaublich intensive Präsenz von Denzel Washington
konnte man 2004 sowohl in DER MANCHURIAN KANDIDAT wie auch
in MANN UNTER FEUER bewundern. Um so enttäuschender sein
Auftritt im lauwarmen OUT OF TIME. Der Regisseur Carl
Franklin galt mal als große Hoffnung, was er mit uninspirierten
08/15 Krimis wie diesem sicher nicht einlösen kann.
Immer ärgerlich sind verschenkte Möglichkeiten
wie z.B. in THE COOLER, der Geschichte eines fleischgewordenen
Pechvogels, der einem Spielkasinobetreiber als probates Mittel
gegen allzu glückliche Spieler dient. Wer könnte
diesen armen Tropf besser darstellen, als William H. Macy,
der dem amerikanischen Verlierer ein so markantes Gesicht
gegeben hat. Dazu Alec Baldwin als fiesen Kasinobesitzer,
da kann eigentlich nicht mehr viel schief gehen und dann wird
der Film doch zur Enttäuschung, weil das Drehbuch und
die Inszenierung viel zu feige sind und doch nur Altbewährtes
aufwärmen.
Wirklich beschämend wird es für THE COOLER schließlich
im direkten Vergleich zum oben genannten, thematisch ähnlichen,
OWNING MAHOWNY. Michael Haberlander
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