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Mannheim ist wohl die einzige europäische Stadt, deren
Altstadt sich wie Manhattan in Planquadrate gliedert. Adressen
werden hier angegeben als alphanumerische Koordinaten wie
beim Schiffe-Versenken. N1: Stadthaus; Treffer, versenkt!
Dies mag ein Grund dafür sein, weshalb die Reden zur
Eröffnung des 53. Filmfestivals Mannheim-Heidelberg mehrfach
die Metapher des Leuchtturms bemühten, um den Ruhm des
Festivals zu begründen.
Ortsangaben aber, die durch Chiffren ersetzt sind, werden
zu identitätslosen Ortsbegriffen. Mannheim kann so auch
als Vorbote einer übermodernen Wirklichkeitserfahrung
gesehen werden, in der Realität sich als innere Erlebniswelt
codiert. Daher eignet sich Mannheim wie keine andere Stadt
für den Rückzug in das Kino mit seinen bildgewordenen
"Erfahrungswelten", so das diesjährige Motto
des Festivals. Mannheim ist von alters her modern - und dies
kann auch als Formel gelten, in die sich der Charakter des
Festivals fassen lässt: Als eines der ältesten europäischen
Filmfestivals zeigt es alljährlich internationale Premieren
von neuen Regisseuren, den Newcomern.
Die Newcomer - das sind Regisseure, die sich zumeist schon
in anderen Kunstformen erprobt hatten, bevor sie die Filmkamera
in die Hand nahmen. Die Bulgarin Zornitsa Sophia zum Beispiel,
deren Film MILA FROM MARS mit dem Rainer Werner Fassbinder-Preis
ausgezeichnet wurde, war Werbegrafikerin und Videokünstlerin,
bevor sie ihren ersten Spielfilm drehte. Andere kamen über
das Theater zum Film, wie der Libanese Wajdi Mouawad, der
mit seinem Debütfilm LITTORAL das Festival eröffnete.
Als Newcomer gelten aber auch Regisseure, die bereits mit
mehreren Filmen in ihrem eigenen Land erfolgreich waren, in
Europa aber bisher kaum oder gar nicht zu sehen waren, wie
Gen Takahashi, prominenter Vertreter der japanischen Independent-Szene.
Also nur wenige Abschlussfilme von Hochschulen, wie FOLGE
DER FEDER von Nuray Sahin von der DFFB.
Die Spielfilme des Wettbewerbs lieferten überwiegend
kraftvoll inszenierte und oftmals ins Phantastische enthobene
Erlebniswelten. Sie zeigten, dass sich die Erfahrungswelten
keinesfalls mit dem Realen begnügen, vielmehr von Imagination
gesättigt sind, innere Welten sind, die im Film sichtbar
und real werden können. Der bulgarische Film MILA FROM
MARS ist so ein Beispiel, wo sich das Imaginäre und die
phantastische Erzählung an die Stelle der Wirklichkeit
setzen, und darüber eine Aussagekraft über ein Land
entfalten, das sich selbst zu erneuern sucht. Mila ist eine
sechzehnjährige Punkerin aus Sofia, die vor ihrem gewalttätigen
Liebhaber flieht und in ein kleines Dorf nahe der mazedonischen
Grenze gelangt. Die Bevölkerung ist vergreist, man sieht
die verlassene, heruntergekommene Ortschaft, eine Bildlichkeit,
die noch ganz dokumentarischen Anspruch erhebt. Das Dorf ist
umgeben von Marihuanafeldern, die Alten sieht man bekifft
auf den Bänken vor den Häusern sitzen und Drogenschmuggel
betreiben. Energisch kümmern sie sich um Mila, die ein
Kind erwartet, und schließlich an Weihnachten niederkommt.
Die Mär von dem Hoffnungsträger "Christos",
wie die alten Frauen das Neugeborene taufen, ist temporeich
und witzig inszeniert, mit optischen Verzerrungen, in denen
die dürre Mila neben den alten Weibchen in langen Beinen
herumstakst.
Wie sehr gerade die Kunstform Film geeignet ist, Imaginäres
in Bildern real werden zu lassen, zeigte der schon erwähnte
Eröffnungsfilm LITTORAL von Wajdi Mouawad. Der Versuch
des kanadisch-libanesischen Wahab, seinen Vater in heimischer
Erde im Libanon zu bestatten, gestaltet sich vor dem Hintergrund
des kriegs- und krisenerschütterten Landes als bittere,
aber auch sehr heitere Groteske. Der Film inszeniert immer
wieder Bilder, die theaterhaft auf herausgehobene Momente
setzen, die aber gekonnt in die Sprache des Films übersetzt
werden. Eine Zimmertür in Montreal öffnet sich in
surrealer Weise auf einen Strand in Beirut, der düstere
Raum wandelt sich in seiner Stimmung, wird durch das hereinfallende
Sonnenlicht aufgebrochen. Wenn Wahab den Sargdeckel an den
zahlreichen Checkpoints im Libanon öffnet, ertönt
die auf Tonband aufgenommene Stimme seines Vaters, der zum
Sohn über seine Kindheit spricht. Der Film ist aber auch
sehr komisch, wenn zum Beispiel Wahab in seinen Träumen
mit einer Araberin schläft und ihm das entscheidende
arabische Wort fehlt, um sie zum Höhepunkt zu bringen.
Eine satirische, bisweilen tragische Erzählung über
den Tod und gegen das Töten im Krieg, die Mannheim sich
vor anderen Festivals sichern konnte.
Ernster im Tonfall und von feministischer Kraft getrieben
war der iranische Beitrag PARVANEI DAR BAAD (SCHMETTERLINGE
IM WIND) von Abbas Rafei. Ayda wird nach zehn Jahren aus dem
Gefängnis entlassen, und ihr einziger Gedanke ist, ihr
Kind wiederzusehen. Ganz im Stil klassischer Western trifft
sie an der Grenze zur gefahrvollen Wüste, die sie durchqueren
muss, auf den Einsiedler Nadar, der ihr bei der Suche nach
dem Kind helfen will. Er ist getrieben vom Rachegedanken an
dem Heroinschmuggler, dem Mann von Ayda, der sie ins Gefängnis
gebracht hatte. Die Suche endet in einem blutigen Showdown,
bei dem Ayda den Bösewicht von den Klippen stößt.
Ein Actionfilm aus der Independentszene des iranischen Films,
in dem nicht nur der Zuschauer von einem gewaltvollen Sandsturm
überrascht wird.
Wie kein anderes Genre hat sich im Filmgeschehen der letzten
Jahre der Dokumentarfilm als erfolgreicher Newcomer erwiesen.
Umso verwunderlicher, dass auf dem Mannheimer Festival, das
früher einmal auf internationaler Ebene als sein Mekka
galt, Dokumentarfilme nahezu von der Bildfläche verschwunden
sind, nur eine Handvoll war dieses Jahr in Mannheim zu sehen.
Ausnehmend schön war die österreichische Produktion
ACROSS THE BORDER, die bereits in Leipzig auf sich aufmerksam
gemacht hatte. In fünf Episoden erzählt der Film
von dem Zustand in den osteuropäischen Ländern,
aus der Sicht von fünf verschiedenen Regisseuren aus
Polen, Tschechien, Slowenien, Ungarn und der Slowakei. Der
Film vereinigt die unterschiedlichen Tonlagen der dokumentarischen
Erzählungen in einem vielstimmig-stimmigen Gefüge,
von der ruhigen, bilderstarken Meditation über das Leben
in einem verlassenen polnischen Dorf bis zum witzigen Roadmovie
von zwei Ungarn, die sich als Schnäppchenjäger nach
Wien zu einem Trödelmarkt aufmachen.
Weniger schön photographiert, dafür umso ergreifender
in dem Schicksal, das er erzählt, war BORN TO BE BLIND
des Brasilianers Roberto Berliner, eine Langzeitstudie über
drei blinde Schwestern in Brasilien. Zu Beginn der Dreharbeiten
schlagen sie sich als Straßenmusikantinnen durchs Leben.
Durch die anwesende Filmcrew ziehen sie die Medienaufmerksamkeit
auf sich, gelangen zu unerwarteter Berühmtheit und dürfen
mit den größten brasilianischen Percussionisten
auftreten. Schließlich aber, als der Medienhype verklingt,
sieht man sie wieder bettelnd, auf der Straße. BORN
TO BE BLIND macht deutlich, dass auch eine Dokumentation,
die Zeugnis ablegen möchte, in die Wirklichkeit eingreifen
kann - und zeigt gleichzeitig, wie aussichtslos doch die existentielle
Geworfenheit ist. BORN TO BE BLIND wurde dieses Jahr bei den
Festivals durchgereicht. Umso schöner, dass er in Mannheim
zur Aufführung kam.
Der diesjährige Publikumsrenner HITLERS HITPARADE erwies
sich dagegen als gewissenloses Kompilations-Machwerk. Ausschnitte
aus Spielfilmen, Revueaufzeichnungen und Archivmaterial sampelten
die Filmemacher Oliver Anxer und Susanne Benze, beide Spezialisten
für Nazi-Pop, zu einem suggestiven Reigen der Ähnlichkeiten.
Das Ganze unterlegten sie mit Tanzmusik und Schlagern aus
der Zeit des Dritten Reichs. Über der Bild- und Tonflut
steht der selbstverschriebene Anspruch, zu vermitteln, wie
sich die Leute "damals fühlten". Da werden
über die Montage Gleichungen aufgebaut zwischen beinewerfenden
Revuedamen und BDM-Mädels, die auf deutscher Erde fröhlich
den Gymnastikreifen schwingen. Gewissenlos und undokumentarisch
ist dieser Umgang mit dem Bildmaterial, das dahinfließt,
ohne anzugeben, aus welchen Filmen die Ausschnitte stammen,
auf welchem Parteiaufmarsch Hitler zu sehen war - was ein
leicht zu lieferndes Minimalwissen über die gezeigten
Kino-, Revue- und Parteitag-Events gewesen wäre, das
ja unmittelbar zur Erlebniswelt der Zeit gehörte.
Der kanadische Film THE CORPORATION schließlich war
ein überflüssiges Statement gegen die böse
Globalisierung - mit moralisierendem Moore-Zeigefinger, der
die großen Konzerne an den Pranger stellt. Der Film
ist nicht mehr als eine empörte Anklageschrift, deren
vorherrschender Gestus die Schlagzeile ist. Ferner von Analyse
und Aufklärung kann ein politischer Film kaum sein, auch
wenn er sich Aufklärung und "psychologische Analyse"
auf die Fahnen schreibt.
Ein Ausschnitt immerhin, der gezeigt wurde, aus den vielfältigen
Positionen im Dokumentarfilm. Wenn aber sogar ausgesprochene
Feature-Filmfestivals dem Dokumentarischen immer mehr Achtung
zollen, sollte doch auch das Mannheimer Festival hier mit
Überraschungen und Entdeckungen aufwarten. Es gibt immer
noch genug Dokumentarfilme, die in keines der bekannten Festivalformate
passen - da könnte Mannheim tätig werden und sich
wieder für den Dokumentarfilm stark machen, für
den es einst stand.
Dunja Bialas
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