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Es gibt keinen Gott. Zumindest keinen des Kinos. Jedenfalls
keinen gerechten.
Es ist offiziell: Steven Spielbergs nächstes
Projekt heißt AI.
Für alle, die's nicht mitbekommen haben: AI (kurz für "Artificial
Intelligence") war Stanley Kubricks letztes (sowie vorletztes
und angeblich sogar schon vorvorletztes), großes Filmvorhaben.
Ein Science-Fiction-Epos sollte es werden, über eine Welt,
in der New York überwiegend unter dem Meeresspiegel liegt
und in der ein kleiner Junge auf der Suche nach seiner Familie
ist - bis sich herausstellt, dass er ein Roboter ist. Das
Ganze beruhend auf einer Kurzgeschichte von Brian Aldiss mit
dem Titel "Supertoys Will Last All Summer". Sehr viel mehr
ist nicht bekannt - außer, dass Kubrick seit Jahren mit der
Idee für diesen Film spielte, seine umfangreichen Vorstudien
bereits sehr weit vorangekommen waren (Chris Cunninghams Musikvideo
für Björk ist ein Nebenprodukt davon) und er selbst - hätte
ihn der Tod uns nicht geraubt - nunmehr an die Realisierung
schreiten wollte. Er hatte damit so lange warten müssen, weil
die Special Effects-Technologie bis vor kurzem, nein, keineswegs
nicht weit fortgeschritten genug für ihn war, sondern finanziell
nicht erschwinglich. (Dass ein Kubrick bei Bedarf nicht jene
Budgets bekommt, wie sie den Michale Bays, Roland Emmerichs,
George Lucas' nachgeschmissen werden, sagt freilich allein
schon ziemlich alles, was man über die sogenannte "Kinokultur"
heute noch wissen muss...)
EYES WIDE SHUT war einst tatsächlich gedacht
als eine Art unaufwendiger Zeitvertreib, bis AI in die heiße Phase
gehen konnte. Dass wir wenigstens diesen Film noch haben, dass er
soviel mehr als ein Nebenwerk wurde (der große Stanley konnte eben
keine einfachen, halben Sachen machen), dass Kubrick damit uns und
dem Kino noch ein traumhaftes Abschiedsgeschenk gemacht hat, von
dem wir noch länger zehren werden können - das alles tröstet.
Trotzdem - es bleibt die Trauer, dass wir AI nie zu sehen bekommen
werden.
Mit dieser Trauer aber wäre besser zu leben gewesen als mit dem,
was nun bevorsteht. Es wäre bitter geblieben, doch hinnehmbar, weil
außerhalb jeder menschlichen Kontrolle und Verantwortung. Jetzt
aber läge es in Menschenhand, die Finger zu lassen von Kubricks
Vermächtnis. Und nicht seinem unvollendeten Werk die schlimmste
Schändung anzutun, die denkbar ist. AI nie zu sehen wäre ungleich
weniger schlimm, als eine bastardisierte Version sehen zu müssen,
eine sudelnde Leichenfledderei, ein unverfrorenes Schmücken mit
fremden Federn. Leider: Die Chancen auf ein Einlenken, gar Einsehen
womöglich, stehen extrem schlecht.
Steven Spielberg ist in jeder Hinsicht die absolute Antithese
zu Stanley Kubrick. Er hat seine eigenen Verdienste, gewiss.
Er ist einer der letzten Könner des klassischen Erzählkinos
- gerade was Montage und Suspense angeht, beherrscht er den
alten Stil wie heute kaum mehr einer. Er ist so eine Art Hitchcock
ohne jegliche Selbstreflexivität und thematische Komplexität
oder Konsequenz - er beherrscht noch die hohe Kunst der Publikumsmanipulation,
spielt aber nie werkimmanent mit den Grundlagen dieser Kunst
und setzt sie je nach Auftragslage für alles mögliche ein,
von der Dinosaurier-Action bis zum Holocaust-Drama. Und war
damit künstlerisch erfolgreicher, als er selbst noch überzeugt
war, "nur" Unterhaltung zu produzieren. JAWS (DER WEISSE HAI)
- den er selbst angeblich nicht einmal mochte - wird womöglich
sein Meisterwerk bleiben. Seit er sich beauftragt fühlt, "Großes",
"Wichtiges" zu schaffen, wird die Kluft zwischen den Themen
und den rührseligen Mitteln immer unerträglicher. (Wobei sie
sich mit dem faschistoiden Kriegstreiber-Epos SAVING
PRIVATE RYAN in gewisser - und nicht minder unerträglicher
- Weise wieder geschlossen hat.)
Was immer Spielbergs unbestreitbare Stärken -
sie sind jedenfalls denen von Kubrick genau entgegengesetzt. Auf
der einen Seite Kubrick, der ungemein belesene und
universalgebildete Büchersammler. Der einsiedlerhafte Pessimist,
der in seinen Filmen die Menschheit oft fast wie von einer Position
außerhalb zu betrachten scheint. Der die Distanz liebte, dabei oft
fast laborhaft kalt wurde in seiner Inszenierung. Der die penibel
erarbeitete mise-en-scène mit langen, langen Einstellungen
bevorzugte; der immer wieder selbstzweiflerisch und höchst
reflektiert vorgehende Perfektionist. Dessen Kino etwas durchaus
Europäisches anhaftete und der hart und kompromißlos dafür gekämpft
hatte, sich eine Position außerhalb des Hollywood-Systems zu
schaffen, von der aus er genau die Filme, die er machen wollte, auf
genau die Art, die er für richtig hielt, machen konnte.
Auf der anderen Seite der Mitbegründer und Hauptverfechter
jenes Sommer-Blockbuster-Kinos, das Kubrick durch seine Dominanz
die Realisierung von Projekten zunehmend erschwerte. Spielberg,
der große (und nicht einmal die unsympathischsten) Teile seiner
Karriere als Auftragstäter verbracht hat, der so tief im Hollywood-Business
steckt, wie kaum ein zweiter. Der Amerikaner durch und durch.
Dessen Kino ganz auf der Arbeit mit Schnitten beruht, der
flott, ungemein selbstsicher und ökonomisch zu Werke geht.
Dem die Emotion des Publikums nicht groß, nicht nah genug
am Geschehen sein kann. Der unerschöpfliche Vorräte an Süßstoff
bereit hält und optimistisch ist - notfalls auch um den Preis
der Verlogenheit. Der immer wieder stolz verkündet, dass er
in seinem Leben noch kein einziges Buch gelesen hätte und
alles, was er wisse, aus Filmen habe. (Ob man ihm's glauben
mag, ist nebensächlich: Dass er's so gern erzählt sagt alles.)
Dass ausgerechnet dieser Antipode sich jetzt an die "Vollendung"
von Kubricks Werk macht, dass scheint mir ähnlich, als würde
Ralph Maria Siegel eine Komplettierung des Mozart-Requiems
planen (allerdings ohne dass wir je die Süßmayer-Fassung gehabt
hätten).
Trotzdem wäre eine Spielberg-Version von AI ja möglicherweise
noch zu ertragen - haftete ihr nicht gar so arg der Ruch an, nur
Instrument von Spielbergs immer grenzenlos werdender
Profilierungssucht zu sein. Es haben sich schon andere kreative
Geier auf die Nachlässe verblichener Giganten gestürzt, um Projekte
hervorzubringen, die meist wenig genug von den Vorbildern hatten,
um sich ihrentwegen aufregen zu müssen: George Hickenloopers
Interpretation von Orson Welles' THE BIG BRASS RING-Skript ist ein
jüngeres Beispiel dafür, wie so etwas nach eigenen Regeln und
Gesetzen scheitern (meinentwegen auch gelingen) kann, ohne dass dem
damit angeblich geehrten Idol irgendein Schaden angetan wäre. Aber
Steven Spielberg scheint in letzter Zeit immer penetranter dem Wahn
verfallen, seine Mutation zum edlen und unberührbaren "St.Steven"
zu vollenden. Das hat mit seiner Entdeckung des
Gutmenschfilm-Genres angefangen und wabert und wuchert mittlerweile
in immer mehr Bereiche seines Wirkens und Waltens. Seine
umstrittene Shoah-Foundation scheint mir Teil davon - die im Geld-
und Machbarkeitsrausch weder Respekt vor der Arbeit unzähliger
gewissenhafter und wissenschaftlich genauer Holocaust-ForscherInnen
hat, noch irgendwelche Grenzen des Fassbaren sieht. Egal wie groß
das Grauen, wie unendlich schwierig eine fundierte und mitfühlende
Annäherung - es gibt nichts, was Spielberg mit viel Kohle, Kameras
und Kolportage nicht aufarbeitbar glaubt. Nachdem er mit SAVING
PRIVATE RYAN eigenhändig mit den letzten Resten von Amerikas
Vietnam-Trauma aufgeräumt hat, alle nun das Kämpfen und Sterben für
ihr Land wieder toll finden, und die Mainstream-Kritik ihn dafür
endgültig in den Pantheon großer Kinokünstler gehievt zu haben
scheint, fehlt ihm nur noch eines: Die cineastische Salbung von
höchster Hand, die Eintrittskarte in den Club der ewiglich
Respektierten, die Absegnung vom ehedem verfeindeten Lager. Und
irgendwann hat Spielberg wohl angefangen, in Stanley Kubrick den
Schlüssel zu sehen zur Erlangung dieses Nimbus wahrer
Filmkunst. Es ist verbürgt, dass Stanley Kubrick E.T. sehr
gerne mochte (was ihm selbstverständlich vergönnt sei), und dass
ihn JURASSIC PARK außerordentlich interessiert hat, weil der mit
seinen Computer-Special-Effects für ihn der erste deutlich auf der
Leinwand sichtbare Beweis war, dass die technischen Mittel und Wege
nun so gut wie greifbar waren, um seine langegehegte Vision von
A.I. tatsächlich umsetzen zu können. Auch weiss man, dass er mit
Spielberg daraufhin in Kontakt trat und sich eben über
Special-Effects rege ausgetauscht und mit ihm auch sonst wohl
häufiger per Fax verkehrt hat (wie er das mit einer großen Zahl von
Leuten zu pflegen tat). Ebenso verbürgt ist aber auch, dass seine
Reaktion auf das erste Zusammentreffen mit Steven Spielberg - in
Londoner Studios, wo beide zufällig gleichzeitig drehten - war:
"He's a jerk." (Was man nach Belieben mit "Er ist ein Trottel" oder
"Er ist ein Wichser" übersetzen darf.) Und als ihm Matthew Modine
einen Witz erzählte, dessen Prämisse war, dass Steven Spielberg
verstorben ist, soll Kubrick schon vor der Pointe sehr zu lachen
angefangen haben und gemeint: "Steven Spielberg's dead? That's
funny!" Nun ist aber halt gänzlich unlustiger Weise der arme
Stanley zuerst verschieden - und seither war Steven Spielberg
irgendwie schon immer sein bester Freund und wird nicht müde, das
zu behaupten wo und wie er nur kann. So richtig unangenehm fiel das
erstmals auf, als er letztes Jahr bei den Oscars den Tribut an den
verstorbenen Meister zollen durfte. Als ob diese
klebrig-schmierigen, typischen "Oh, wir haben ihn zu Lebzeiten nie
wert befunden, eine Auszeichnung von uns zu erhalten, und das
Establishment, für das wir stehen, hat ihm gerne Knüppel zwischen
die Beine geworfen - aber jetzt, wo er uns nicht mehr gefährlich
werden kann, haben wir ihn selbstverständlich immer schon
geliebt"-Affären nicht so schon widerlich genug wären, war das ein
besonders perfider Afront - eben weil da einer quasi die Grabrede
halten durfte, der genau für alles diametral Entgegengesetzte stand
wie der so "Geehrte". Um aber noch so richtig einen draufzusetzen
faselte Spielberg dann etwas von Kubricks "vision of hope and
humanity" (dachte er dabei an PATHS OF GLORY, CLOCKWORK ORANGE oder
doch eher FULL METAL JACKET?) und bewies damit, dass er entweder
nie einen von Kubricks Filmen gesehen oder nie einen auch nur
entfernt im Ansatz begriffen hat. Gruselig sind beide Optionen in
etwa gleich. Jetzt, da Kubrick sich nicht mehr dagegen wehren
kann, wird die angeblich ach so große Freundschaft zu ihm für
Spielberg immer mehr zum Handelsgut, mit dem er sich kaufen zu
können glaubt, was er für all sein Geld nicht haben konnte:
Cineastische Street-Credibility. Ware Freundschaft. Wenn diese
Freundschaft aber denn so innig und tief war, fragt man sich, warum
hat Spielbergs Dreamworks-Filmproduktion nicht einfach das Geld auf
den Tisch gelegt, das Kubrick für AI fehlte? Warum war kein Mucks
der Einflussnahme von ihm zu hören, als die MPAA mit ihren
kindischen Zensurauflagen darauf bestand, dass die (ja nun wirklich
harmlose und sowieso nie als aufreizend konzipierte) Orgien-Sequenz
aus EYES WIDE SHUT für den amerikanischen Markt durch
zusammengeschusterte Computergrafik verschandelt werden musste?
Jetzt plötzlich aber war Spielberg eigentlich schon immer
Kubricks Wunschregisseur für AI - auch wenn Stanley das
möglicherweise selbst gar nicht so recht wusste. Es gab schon
länger Gespräche, so heißt es nun, dass Kubrick bei AI nur
produzieren und Spielberg die Regie übernehmen solle. Da Kubrick
erstens bisher noch nie als Produzent für einen anderen Regisseur
fungierte (ausgerechnet er, der Perfektionist und Controll-Freak,
hätte das tun sollen - lachhaft!) und er zweitens seit Jahren
gerade an diesem Projekt sehr konkret gearbeitet und gefeilt hat
und er es selbst wohl auch als eine Art Schwanengesang gesehen hat,
kann man sich in etwa vorstellen, wie diese Gespräche - so es sie
denn überhaupt gegeben hat - ausgesehen haben: SPIELBERG:
"Stanley, how about you just produce AI and let me direct it?"
KUBRICK: "Fuck off, you jerk." Dass in der ganzen Affäre Jan
Harlan - Kubricks letzter Produzent und ein Verwandter seiner Frau
(damit auch des berüchtigten Veit Harlan) - so glücklich über
Spielbergs Entscheidung ist und seine Version der Geschichte
rückhaltlos stützt ist dabei lediglich ein Beweis dafür, dass er
ganz genau weiß, dass er eine Chance, finanziell dermaßen
abzuräumen, nicht wieder bekommen wird.
Letztlich ist Steven Spielberg in dem ganzen Spiel aber auch nur
ein Stellvertreter für den Hollywood-Mainstream an sich. Stanley
Kubrick, das war für Hollywood (in diesem Fall Warner Bros.) so
eines jener Prestige-Tierchen, die man sich hält, obwohl es
finanziell nicht unmittelbar lukrativ ist - weil es Respekt bringt,
weil man immer drauf zeigen kann, wenn man gerade mal wieder
jemandem beweisen will, dass man eben doch Kunst produziert und
nicht Konsumware. Solche Prestige-Projekte (die hin und wieder auch
unerwartet viel Geld abwerfen) sind eine alte Gepflogenheit
Hollywoods und dazu auch einer der Mechanismen, wie sich der
Mainstream kreativ am Leben erhalten kann - man läßt dort, vom
Druck großer Gewinnerwartung befreit, das frische Blut ein bißchen
freier fließen und zapft sich dann, wenn's Anklang findet, ein
bißchen davon ab. Es ist eine der absichtlichen Lücken (oder auch
nur Nischen) im System und durchaus nicht als nur einseitig
ausbeuterisch und kalkuliert zu sehen: Jemand wie Kubrick wusste
sehr genau, wie er diesen Status zu seinem Vorteil nutzen
konnte. Es bleibt aber für beide Seiten eine prekäre Situation:
Die so ausgehaltenen KünstlerInnen müssen immer fürchten, dass von
ihnen plötzlich doch handfester Profit gefordert, dass ihnen die
gegönnte Gunst plötzlich entzogen wird. Das Mainstream-System
hingegen muss tunlichst darauf achten, dass es sich da nicht selbst
den allzu deutlichen Beweis heranzüchtet, dass seine
Vormachtstellung nicht gott- oder naturgegeben, nicht
selbstverständlich ist. Wenn die Outsider zu oft zu große Erfolge
feiern, dann fangen vielleicht mal die, die sich brav an die Regeln
halten, an sich zu fragen, warum sie das eigentlich tun. Und so
entwickeln sich da oft seltsame Hass-Lieben. Die, wie die meisten
Hass-Lieben (siehe Werner Herzogs MEIN LIEBSTER FEIND), sofort in
angeblich reine Liebe umschlagen, wenn der/die PartnerIn endgültig
unter Kontrolle gebracht ist - was nichts so gründlich erledigt wie
der Tod. Sobald das Gegenüber nicht mehr virulent werden kann, läßt
es sich prima lieben. (Da wären wir auch wieder bei der Sache mit
den Oscars...) Kubrick ist tot, das Hollywood-System lebt.
Spielbergs AI wird auch die Funktion haben, der mit SPARTACUS
begonnenen Entzweiung closure zu verleihen. Es ist ein als
Freundschaftsbeweis getarnter Triumphschrei, ein als
post-mortem-Streicheleinheit verkleideter
K.O.-Schlag."Unsere Vision siegt über Deine," sagt das. "Wir
werden Dir zeigen, wie man Filme unter Einhaltung des Drehplans und
Budgets macht, wie man herzerwärmende Stories anrührend
präsentiert, wie man zu allem ein Happy End findet und damit viel
mehr Zuschauer erreicht, als Du je hattest." Weil man
Stanley so wahnsinnig gern gehabt hat, fickt man jetzt noch ein
wenig seine Leiche in den Arsch.
Dass sich an dem grundlegenden System so schnell etwas ändert,
darauf ist vorerst nicht zu hoffen. Aber immerhin ist im
vorliegenden Fall noch nicht alles verloren. Noch gibt es
Spielbergs AI nicht, und bei solchen Dreharbeiten kann ja noch
immer manches daneben gehen. Falls es also doch einen gerechten
Gott des Kinos geben sollte, sei ihm gesagt: Hallo, Sie da...
ääähhh, jetzt wäre es langsam an der Zeit einzuschreiten.
Thomas
Willmann
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