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23.03.2000
 
 
   
 

Ware Freundschaft
Ein polemisches Pamphlet wider die Ungerechtigkeit der Welt im allgemeinen und des Kinos im besonderen

 
Herr Spielberg
     
 
 
 
 

Es gibt keinen Gott. Zumindest keinen des Kinos. Jedenfalls keinen gerechten.
Es ist offiziell: Steven Spielbergs nächstes Projekt heißt AI.

Für alle, die's nicht mitbekommen haben: AI (kurz für "Artificial Intelligence") war Stanley Kubricks letztes (sowie vorletztes und angeblich sogar schon vorvorletztes), großes Filmvorhaben. Ein Science-Fiction-Epos sollte es werden, über eine Welt, in der New York überwiegend unter dem Meeresspiegel liegt und in der ein kleiner Junge auf der Suche nach seiner Familie ist - bis sich herausstellt, dass er ein Roboter ist. Das Ganze beruhend auf einer Kurzgeschichte von Brian Aldiss mit dem Titel "Supertoys Will Last All Summer". Sehr viel mehr ist nicht bekannt - außer, dass Kubrick seit Jahren mit der Idee für diesen Film spielte, seine umfangreichen Vorstudien bereits sehr weit vorangekommen waren (Chris Cunninghams Musikvideo für Björk ist ein Nebenprodukt davon) und er selbst - hätte ihn der Tod uns nicht geraubt - nunmehr an die Realisierung schreiten wollte. Er hatte damit so lange warten müssen, weil die Special Effects-Technologie bis vor kurzem, nein, keineswegs nicht weit fortgeschritten genug für ihn war, sondern finanziell nicht erschwinglich. (Dass ein Kubrick bei Bedarf nicht jene Budgets bekommt, wie sie den Michale Bays, Roland Emmerichs, George Lucas' nachgeschmissen werden, sagt freilich allein schon ziemlich alles, was man über die sogenannte "Kinokultur" heute noch wissen muss...)
EYES WIDE SHUT war einst tatsächlich gedacht als eine Art unaufwendiger Zeitvertreib, bis AI in die heiße Phase gehen konnte. Dass wir wenigstens diesen Film noch haben, dass er soviel mehr als ein Nebenwerk wurde (der große Stanley konnte eben keine einfachen, halben Sachen machen), dass Kubrick damit uns und dem Kino noch ein traumhaftes Abschiedsgeschenk gemacht hat, von dem wir noch länger zehren werden können - das alles tröstet. Trotzdem - es bleibt die Trauer, dass wir AI nie zu sehen bekommen werden.

Mit dieser Trauer aber wäre besser zu leben gewesen als mit dem, was nun bevorsteht. Es wäre bitter geblieben, doch hinnehmbar, weil außerhalb jeder menschlichen Kontrolle und Verantwortung. Jetzt aber läge es in Menschenhand, die Finger zu lassen von Kubricks Vermächtnis. Und nicht seinem unvollendeten Werk die schlimmste Schändung anzutun, die denkbar ist. AI nie zu sehen wäre ungleich weniger schlimm, als eine bastardisierte Version sehen zu müssen, eine sudelnde Leichenfledderei, ein unverfrorenes Schmücken mit fremden Federn. Leider: Die Chancen auf ein Einlenken, gar Einsehen womöglich, stehen extrem schlecht.

Steven Spielberg ist in jeder Hinsicht die absolute Antithese zu Stanley Kubrick. Er hat seine eigenen Verdienste, gewiss. Er ist einer der letzten Könner des klassischen Erzählkinos - gerade was Montage und Suspense angeht, beherrscht er den alten Stil wie heute kaum mehr einer. Er ist so eine Art Hitchcock ohne jegliche Selbstreflexivität und thematische Komplexität oder Konsequenz - er beherrscht noch die hohe Kunst der Publikumsmanipulation, spielt aber nie werkimmanent mit den Grundlagen dieser Kunst und setzt sie je nach Auftragslage für alles mögliche ein, von der Dinosaurier-Action bis zum Holocaust-Drama. Und war damit künstlerisch erfolgreicher, als er selbst noch überzeugt war, "nur" Unterhaltung zu produzieren. JAWS (DER WEISSE HAI) - den er selbst angeblich nicht einmal mochte - wird womöglich sein Meisterwerk bleiben. Seit er sich beauftragt fühlt, "Großes", "Wichtiges" zu schaffen, wird die Kluft zwischen den Themen und den rührseligen Mitteln immer unerträglicher. (Wobei sie sich mit dem faschistoiden Kriegstreiber-Epos SAVING PRIVATE RYAN in gewisser - und nicht minder unerträglicher - Weise wieder geschlossen hat.)
Was immer Spielbergs unbestreitbare Stärken - sie sind jedenfalls denen von Kubrick genau entgegengesetzt. Auf der einen Seite Kubrick, der ungemein belesene und universalgebildete Büchersammler. Der einsiedlerhafte Pessimist, der in seinen Filmen die Menschheit oft fast wie von einer Position außerhalb zu betrachten scheint. Der die Distanz liebte, dabei oft fast laborhaft kalt wurde in seiner Inszenierung. Der die penibel erarbeitete mise-en-scène mit langen, langen Einstellungen bevorzugte; der immer wieder selbstzweiflerisch und höchst reflektiert vorgehende Perfektionist. Dessen Kino etwas durchaus Europäisches anhaftete und der hart und kompromißlos dafür gekämpft hatte, sich eine Position außerhalb des Hollywood-Systems zu schaffen, von der aus er genau die Filme, die er machen wollte, auf genau die Art, die er für richtig hielt, machen konnte.
Auf der anderen Seite der Mitbegründer und Hauptverfechter jenes Sommer-Blockbuster-Kinos, das Kubrick durch seine Dominanz die Realisierung von Projekten zunehmend erschwerte. Spielberg, der große (und nicht einmal die unsympathischsten) Teile seiner Karriere als Auftragstäter verbracht hat, der so tief im Hollywood-Business steckt, wie kaum ein zweiter. Der Amerikaner durch und durch. Dessen Kino ganz auf der Arbeit mit Schnitten beruht, der flott, ungemein selbstsicher und ökonomisch zu Werke geht. Dem die Emotion des Publikums nicht groß, nicht nah genug am Geschehen sein kann. Der unerschöpfliche Vorräte an Süßstoff bereit hält und optimistisch ist - notfalls auch um den Preis der Verlogenheit. Der immer wieder stolz verkündet, dass er in seinem Leben noch kein einziges Buch gelesen hätte und alles, was er wisse, aus Filmen habe. (Ob man ihm's glauben mag, ist nebensächlich: Dass er's so gern erzählt sagt alles.)
Dass ausgerechnet dieser Antipode sich jetzt an die "Vollendung" von Kubricks Werk macht, dass scheint mir ähnlich, als würde Ralph Maria Siegel eine Komplettierung des Mozart-Requiems planen (allerdings ohne dass wir je die Süßmayer-Fassung gehabt hätten).

Trotzdem wäre eine Spielberg-Version von AI ja möglicherweise noch zu ertragen - haftete ihr nicht gar so arg der Ruch an, nur Instrument von Spielbergs immer grenzenlos werdender Profilierungssucht zu sein. Es haben sich schon andere kreative Geier auf die Nachlässe verblichener Giganten gestürzt, um Projekte hervorzubringen, die meist wenig genug von den Vorbildern hatten, um sich ihrentwegen aufregen zu müssen: George Hickenloopers Interpretation von Orson Welles' THE BIG BRASS RING-Skript ist ein jüngeres Beispiel dafür, wie so etwas nach eigenen Regeln und Gesetzen scheitern (meinentwegen auch gelingen) kann, ohne dass dem damit angeblich geehrten Idol irgendein Schaden angetan wäre. Aber Steven Spielberg scheint in letzter Zeit immer penetranter dem Wahn verfallen, seine Mutation zum edlen und unberührbaren "St.Steven" zu vollenden. Das hat mit seiner Entdeckung des Gutmenschfilm-Genres angefangen und wabert und wuchert mittlerweile in immer mehr Bereiche seines Wirkens und Waltens. Seine umstrittene Shoah-Foundation scheint mir Teil davon - die im Geld- und Machbarkeitsrausch weder Respekt vor der Arbeit unzähliger gewissenhafter und wissenschaftlich genauer Holocaust-ForscherInnen hat, noch irgendwelche Grenzen des Fassbaren sieht. Egal wie groß das Grauen, wie unendlich schwierig eine fundierte und mitfühlende Annäherung - es gibt nichts, was Spielberg mit viel Kohle, Kameras und Kolportage nicht aufarbeitbar glaubt.
Nachdem er mit SAVING PRIVATE RYAN eigenhändig mit den letzten Resten von Amerikas Vietnam-Trauma aufgeräumt hat, alle nun das Kämpfen und Sterben für ihr Land wieder toll finden, und die Mainstream-Kritik ihn dafür endgültig in den Pantheon großer Kinokünstler gehievt zu haben scheint, fehlt ihm nur noch eines: Die cineastische Salbung von höchster Hand, die Eintrittskarte in den Club der ewiglich Respektierten, die Absegnung vom ehedem verfeindeten Lager. Und irgendwann hat Spielberg wohl angefangen, in Stanley Kubrick den Schlüssel zu sehen zur Erlangung dieses Nimbus wahrer Filmkunst.
Es ist verbürgt, dass Stanley Kubrick E.T. sehr gerne mochte (was ihm selbstverständlich vergönnt sei), und dass ihn JURASSIC PARK außerordentlich interessiert hat, weil der mit seinen Computer-Special-Effects für ihn der erste deutlich auf der Leinwand sichtbare Beweis war, dass die technischen Mittel und Wege nun so gut wie greifbar waren, um seine langegehegte Vision von A.I. tatsächlich umsetzen zu können. Auch weiss man, dass er mit Spielberg daraufhin in Kontakt trat und sich eben über Special-Effects rege ausgetauscht und mit ihm auch sonst wohl häufiger per Fax verkehrt hat (wie er das mit einer großen Zahl von Leuten zu pflegen tat). Ebenso verbürgt ist aber auch, dass seine Reaktion auf das erste Zusammentreffen mit Steven Spielberg - in Londoner Studios, wo beide zufällig gleichzeitig drehten - war: "He's a jerk." (Was man nach Belieben mit "Er ist ein Trottel" oder "Er ist ein Wichser" übersetzen darf.) Und als ihm Matthew Modine einen Witz erzählte, dessen Prämisse war, dass Steven Spielberg verstorben ist, soll Kubrick schon vor der Pointe sehr zu lachen angefangen haben und gemeint: "Steven Spielberg's dead? That's funny!"
Nun ist aber halt gänzlich unlustiger Weise der arme Stanley zuerst verschieden - und seither war Steven Spielberg irgendwie schon immer sein bester Freund und wird nicht müde, das zu behaupten wo und wie er nur kann. So richtig unangenehm fiel das erstmals auf, als er letztes Jahr bei den Oscars den Tribut an den verstorbenen Meister zollen durfte. Als ob diese klebrig-schmierigen, typischen "Oh, wir haben ihn zu Lebzeiten nie wert befunden, eine Auszeichnung von uns zu erhalten, und das Establishment, für das wir stehen, hat ihm gerne Knüppel zwischen die Beine geworfen - aber jetzt, wo er uns nicht mehr gefährlich werden kann, haben wir ihn selbstverständlich immer schon geliebt"-Affären nicht so schon widerlich genug wären, war das ein besonders perfider Afront - eben weil da einer quasi die Grabrede halten durfte, der genau für alles diametral Entgegengesetzte stand wie der so "Geehrte". Um aber noch so richtig einen draufzusetzen faselte Spielberg dann etwas von Kubricks "vision of hope and humanity" (dachte er dabei an PATHS OF GLORY, CLOCKWORK ORANGE oder doch eher FULL METAL JACKET?) und bewies damit, dass er entweder nie einen von Kubricks Filmen gesehen oder nie einen auch nur entfernt im Ansatz begriffen hat. Gruselig sind beide Optionen in etwa gleich.
Jetzt, da Kubrick sich nicht mehr dagegen wehren kann, wird die angeblich ach so große Freundschaft zu ihm für Spielberg immer mehr zum Handelsgut, mit dem er sich kaufen zu können glaubt, was er für all sein Geld nicht haben konnte: Cineastische Street-Credibility. Ware Freundschaft.
Wenn diese Freundschaft aber denn so innig und tief war, fragt man sich, warum hat Spielbergs Dreamworks-Filmproduktion nicht einfach das Geld auf den Tisch gelegt, das Kubrick für AI fehlte? Warum war kein Mucks der Einflussnahme von ihm zu hören, als die MPAA mit ihren kindischen Zensurauflagen darauf bestand, dass die (ja nun wirklich harmlose und sowieso nie als aufreizend konzipierte) Orgien-Sequenz aus EYES WIDE SHUT für den amerikanischen Markt durch zusammengeschusterte Computergrafik verschandelt werden musste?

Jetzt plötzlich aber war Spielberg eigentlich schon immer Kubricks Wunschregisseur für AI - auch wenn Stanley das möglicherweise selbst gar nicht so recht wusste. Es gab schon länger Gespräche, so heißt es nun, dass Kubrick bei AI nur produzieren und Spielberg die Regie übernehmen solle. Da Kubrick erstens bisher noch nie als Produzent für einen anderen Regisseur fungierte (ausgerechnet er, der Perfektionist und Controll-Freak, hätte das tun sollen - lachhaft!) und er zweitens seit Jahren gerade an diesem Projekt sehr konkret gearbeitet und gefeilt hat und er es selbst wohl auch als eine Art Schwanengesang gesehen hat, kann man sich in etwa vorstellen, wie diese Gespräche - so es sie denn überhaupt gegeben hat - ausgesehen haben:
SPIELBERG: "Stanley, how about you just produce AI and let me direct it?"
KUBRICK: "Fuck off, you jerk."
Dass in der ganzen Affäre Jan Harlan - Kubricks letzter Produzent und ein Verwandter seiner Frau (damit auch des berüchtigten Veit Harlan) - so glücklich über Spielbergs Entscheidung ist und seine Version der Geschichte rückhaltlos stützt ist dabei lediglich ein Beweis dafür, dass er ganz genau weiß, dass er eine Chance, finanziell dermaßen abzuräumen, nicht wieder bekommen wird.

Letztlich ist Steven Spielberg in dem ganzen Spiel aber auch nur ein Stellvertreter für den Hollywood-Mainstream an sich. Stanley Kubrick, das war für Hollywood (in diesem Fall Warner Bros.) so eines jener Prestige-Tierchen, die man sich hält, obwohl es finanziell nicht unmittelbar lukrativ ist - weil es Respekt bringt, weil man immer drauf zeigen kann, wenn man gerade mal wieder jemandem beweisen will, dass man eben doch Kunst produziert und nicht Konsumware. Solche Prestige-Projekte (die hin und wieder auch unerwartet viel Geld abwerfen) sind eine alte Gepflogenheit Hollywoods und dazu auch einer der Mechanismen, wie sich der Mainstream kreativ am Leben erhalten kann - man läßt dort, vom Druck großer Gewinnerwartung befreit, das frische Blut ein bißchen freier fließen und zapft sich dann, wenn's Anklang findet, ein bißchen davon ab. Es ist eine der absichtlichen Lücken (oder auch nur Nischen) im System und durchaus nicht als nur einseitig ausbeuterisch und kalkuliert zu sehen: Jemand wie Kubrick wusste sehr genau, wie er diesen Status zu seinem Vorteil nutzen konnte.
Es bleibt aber für beide Seiten eine prekäre Situation: Die so ausgehaltenen KünstlerInnen müssen immer fürchten, dass von ihnen plötzlich doch handfester Profit gefordert, dass ihnen die gegönnte Gunst plötzlich entzogen wird. Das Mainstream-System hingegen muss tunlichst darauf achten, dass es sich da nicht selbst den allzu deutlichen Beweis heranzüchtet, dass seine Vormachtstellung nicht gott- oder naturgegeben, nicht selbstverständlich ist. Wenn die Outsider zu oft zu große Erfolge feiern, dann fangen vielleicht mal die, die sich brav an die Regeln halten, an sich zu fragen, warum sie das eigentlich tun.
Und so entwickeln sich da oft seltsame Hass-Lieben. Die, wie die meisten Hass-Lieben (siehe Werner Herzogs MEIN LIEBSTER FEIND), sofort in angeblich reine Liebe umschlagen, wenn der/die PartnerIn endgültig unter Kontrolle gebracht ist - was nichts so gründlich erledigt wie der Tod. Sobald das Gegenüber nicht mehr virulent werden kann, läßt es sich prima lieben. (Da wären wir auch wieder bei der Sache mit den Oscars...)
Kubrick ist tot, das Hollywood-System lebt. Spielbergs AI wird auch die Funktion haben, der mit SPARTACUS begonnenen Entzweiung closure zu verleihen. Es ist ein als Freundschaftsbeweis getarnter Triumphschrei, ein als post-mortem-Streicheleinheit verkleideter K.O.-Schlag."Unsere Vision siegt über Deine," sagt das. "Wir werden Dir zeigen, wie man Filme unter Einhaltung des Drehplans und Budgets macht, wie man herzerwärmende Stories anrührend präsentiert, wie man zu allem ein Happy End findet und damit viel mehr Zuschauer erreicht, als Du je hattest."
Weil man Stanley so wahnsinnig gern gehabt hat, fickt man jetzt noch ein wenig seine Leiche in den Arsch.

Dass sich an dem grundlegenden System so schnell etwas ändert, darauf ist vorerst nicht zu hoffen. Aber immerhin ist im vorliegenden Fall noch nicht alles verloren. Noch gibt es Spielbergs AI nicht, und bei solchen Dreharbeiten kann ja noch immer manches daneben gehen.
Falls es also doch einen gerechten Gott des Kinos geben sollte, sei ihm gesagt: Hallo, Sie da... ääähhh, jetzt wäre es langsam an der Zeit einzuschreiten.

Thomas Willmann

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