21.06.2007
Cinema Moralia – Folge 3

Helle Bilder, dunkle Herzen

Berlin Alexanderplatz
Berlin Alexanderplatz

Streit um Fassbinder, Filmkritik und Korruption, Folge 3

Von Rüdiger Suchsland

»Jetzt mal ohne Scheiß«, sagt Heike, und erzählt dann davon, wie sie sich letztes Wochen­ende Rainer Werner Fass­bin­ders Berlin Alex­an­der­platz im Kino angeguckt hat, wohl­ge­merkt: den ganzen Film, 15 Stunden am Stück, gemeinsam mit der 17-jährigen Tochter und mit ihrer Mutter. »Grad bei meiner Mutter dacht ich… Ich hab nie im Leben gedacht, dass die durchhält.«

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Der lange in den Archiv­kel­lern verschwun­dene 15-teilige, vom WDR produ­zierte TV-Film lief in der neuen komplett restau­rierte Fassung nun in Köln beim Medi­en­forum und wurde so komplett auch bei der Berlinale im Februar nicht gezeigt, gleich­zeitig ist er auch auf DVD erschienen (SZ-Cine­ma­thek, 49.90 Euro). Es war seiner­zeit eines der unge­wöhn­lichsten Projekte der deutschen Fern­seh­ge­schichte, und es war, wenn das stimmt, was heute nach fast 30 Jahren darüber zu erfahren ist, das »eigent­liche Vermächtnis« (FAZ) des Regis­seurs: Fass­bin­ders 1980 entstan­dene Verfil­mung von Alfred Döblins 1929 erschie­nenem, schnell Best­seller gewor­denem Roman.

Sieht man den Film heute wieder, erstaunt man als erstes darüber, was damals im öffent­lich-recht­li­chen Fernsehen zur Haupt­sen­de­zeit noch möglich war: Durchaus unter­haltsam und heraus­ra­gend besetzt, ist »Berlin Alex­an­der­platz« doch auch zwei­fellos ein sehr anspruchs­volles Stück Fernsehen, ein Kunstwerk, das sich nur dem erschließt, der aufmerksam ist, der sich auf die Bild­sprache des Regis­seurs und die Wort­ge­walt der ziemlich werk­ge­treu verfilmten Vorlage einlässt.
Zur Erin­ne­rung: Döblins Roman handelt von Franz Biberkopf, einem guther­zigen, aber gewalt­tä­tigen Gele­gen­heits­ar­beiter, Zuhälter und Totschläger aus verlo­rener Ehre. Nach verbüßter Haft wird er aus dem Zuchthaus Tegel in eine Freiheit entlassen, oder eher geworfen, in der er nie wirklich ankommt. Er verliebt sich in die naiv-muntere, irgendwie auch raffi­nierte Mieze. Wie ein reiner, mitunter aller­dings recht brutaler Tor wandert er nun durch’s Berlin der späten Weimarer Republik, trifft auf Nutten, Krimi­nelle, Drogen­süch­tige und Kapi­ta­listen, und bleibt doch immer ein Fremder. Ein prole­ta­ri­scher Hiob auch, auf den die Schick­sals­schläge reihen­weise einpras­seln.

Wie Döblins Buch, das noch immer als der deutsche Groß­stadt­roman schlechthin gilt, und das Zeit­ge­nosse Walter Benjamin in seiner Bespre­chung »Krisis des Romans« 1930 als »die äußerste, schwin­delnde, letzte, vorge­scho­benste Stufe des alten bürger­li­chen Bildungs­ro­mans« bezeichnet hatte, quasi als Schluss­stein einer Gattung, ist auch Fass­bin­ders Verfil­mung ein Panorama aus ehema­ligen Front­sol­daten und zukünf­tigen Nazis, idea­lis­ti­schen Arbei­ter­kämp­fern und realis­ti­schen Ange­stellten, gefal­lenen Frauen und oppor­tu­nis­ti­schen Aufstei­gern. Zugleich ein Kalei­do­skop der Metropole, voll wider­sprüch­li­cher, in Monta­ge­technik zusam­men­ge­fügter Facetten, ein Panop­tikum des univer­salen Schre­ckens, getränkt in ein pessi­mis­ti­sches, aus uner­füllter Liebe verzwei­feltes Menschen­bild, das rück­bli­ckend auch als Abgesang erscheint, am Vorabend der Nazi-Diktatur.

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Als Fass­bin­ders Serie Ende 1980 als 13-Teiler im Fernsehen ausge­strahlt wurde, schrieb sie Fern­seh­ge­schichte und sorgte für heftigste Kontro­versen. Der Boulevard, allen voran die Springer-Presse, hetzte gegen den als »links« geltenden Fass­binder und seinen Film: »Zu dunkel« sei der Film, das war der tech­ni­sche Vorwurf, aber vor allem sei der Film zu ordinär, zu gewalt­tätig, es enthalte »Schmud­delsex« (was ist das eigent­lich?) und zeige einen Krimi­nellen als Haupt­figur – und man fragt sich heute beim Wieder­lesen, ob die, die so etwas schrieben, es eigent­lich selber glaubten, und nicht wenigs­tens merkten, dass all diese Vorwürfe, wenn schon, dann auch dem Roman gelten müssten. Fass­bin­ders Wohnung jeden­falls musste sogar zeitweise unter Poli­zei­schutz gestellt werden. Eine Ausstel­lung der Berliner »Kunst­werke« stellte diese Kontro­verse in den vergan­genen Monaten umfang­reich dar.

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Fass­bin­ders Verfil­mung war übrigens nicht die erste. Bereits 1931 hatte Phil Jutzi einen Film gedreht, der ganz auf seinen Star Heinrich George in der Rolle des Biberkopf setzte. Im Gegensatz zum Roman, der ein Best­seller wurde, war dieser Film kein Erfolg. 1931 kriti­sierte Siegfried Kracauer die Verfil­mung, weil sie Döblins Absicht in ihr Gegenteil verkehrt habe: Der an sich ideale Filmstoff sei dem Starkult geopfert worden. Man habe den Focus einseitig auf Heinrich George gelegt, während die Stadt und die monta­ge­ar­tige Erzähl­weise des Romans zur bloßen Staffage verkommen seien.

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In den letzten Wochen entzün­dete sich im Vorfeld der 25. Wieder­kehr von Fass­bin­ders Todestag nun ein heftiger Streit, der vor allem um die restau­rierte Fassung des Films und die für sie verant­wort­liche Berliner »Fass­binder Foun­da­tion« kreiste. Vier Jahre nach Fass­bin­ders Tod 1982 gründete Fass­bin­ders Mutter Lilo Eder die Berliner Foun­da­tion, um Nachlass und Rechte des Regis­seurs zu verwalten.
Von »hand­werk­li­chen Mängeln« ist nun im Zusam­men­hang mit Berlin Alex­an­der­platz die Rede, der Film sei in der Restau­ra­tion unge­bühr­lich aufge­hellt und somit verfälscht worden, lauten die Vorwürfe. Sie wurden in einer gemein­samen Erklärung von nicht weniger als 25 ehema­ligen Mitar­bei­tern und Freunden Fass­bin­ders erhoben, darunter Regisseur Werner Schroeter, Kame­ra­mann Michael Ballhaus und Fass­bin­ders frühere Ehefrau, die Schau­spie­lerin und Sängerin Ingrid Caven. Die Unter­zeichner forderten den Rücktritt der Foun­da­tion-Leiterin Lorenz. Lorenz war in Fass­bin­ders späten Jahren dessen Cutterin der letzten 11 Filme, und ist als Erbin von Fass­bin­ders Mutter Lilo Eder, seit 1992 indirekte Allein­erbin des Regis­seurs. Zusätz­li­chen Zündstoff liefert der Debatte Lorenz' Behaup­tung, sie sei mit Fass­binder in den USA verhei­ratet gewesen – Beweise dafür hat sie bisher nicht vorgelegt, und deutsche Behörden erkennen diese »Ehe« nicht an. Ein wenig wirkt alles also von außen wie ein Rosen­krieg, ein Streit unter eifer­süch­tigen Witwen, Groupies und Mitar­bei­tern. Zwei­fellos spielen Eitel­keiten und gegen­sei­tiges Belei­digt­sein hier eine Rolle.

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Doch darüber hinaus bleibt ein harter Kern an Vorwürfen, der auch dann seriös geprüft werden muss, wenn man Lorenz' Verdienste um die Pflege von Fass­bin­ders Nachlass für unbe­streitbar hält. Die eine Kritik richtet sich auf die Rechts­form der »Fass­binder-Foun­da­tion«, die nur dem Anschein nach eine Stiftung, tatsäch­lich aber eine GmbH ist – »Es gibt absolut keine Kontrolle, was Lorenz tut«, so Caven im Gespräch auf Nachfrage, »theo­re­tisch kann sie die Filme aus dem Fenster werfen. … Man kann rechtlich eigent­lich nichts sagen, weil sie es ja geschafft hat, Erbin zu sein. Zwar hat sie es nicht geschafft mit dieser soge­nannten Ehe, die wahr­schein­lich überhaupt nicht besteht – mit dieser Lüge hat sie es nicht geschafft. … Eine Stiftung? Da denkt man doch, das ist gemein­nützig.«
Der zweite Vorwurf kreist um die restau­rierte Fassung von Berlin Alex­an­der­platz, die Lorenz in Zusam­men­ar­beit mit Fass­bin­ders Kame­ra­mann Xaver Schwar­zen­berger verant­wortet hatte. Dass deren Bilder im Vergleich zur Ursprungs­fas­sung deutlich aufge­hellt wurden, ist unbe­stritten. Lorenz und Schwar­zen­berger betonen, die jetzige Farb­pa­lette entspräche Fass­bin­ders Absicht, 1980 hätten dazu nur die tech­ni­schen Mittel gefehlt.
Die Gegen­seite spricht von Verfäl­schungen »aus Gründen besserer Verkäuf­lich­keit«. »Was ist denn gut, wenn man soge­nannte ›verbes­sernde Eingriffe‹ vornimmt?«, so Caven, »Wieso kann ein Kame­ra­mann unwi­der­spro­chen behaupten, er wisse, wie Rainer das gern gehabt hätte? Er hat die Dunkel­heit vertei­digt – das war sein Stil, ein ästhe­ti­sches Prinzip, das dem Roman und seiner vorna­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Atmo­sphäre entsprach.« Und auch Fass­bin­ders damalige Regie­as­sis­tentin Renate Leiffer sagt »Das ist schlecht restau­riert.« Die Aufhel­lung sei nicht Fass­bin­ders Intention gewesen, da werde das Werk »der Massen­ver­träg­lich­keit und dem Eigen­in­ter­esse geopfert«.

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Alles erinnert ein wenig an den Streit um die Restau­ra­tion der Sixti­ni­schen Kapelle: Ohne alle Patina, deutlich heller und viel bunter erschienen Michel­an­gelos Fresken plötzlich nach der Über­ar­bei­tung. Darüber kann man endlos streiten. Im Kern geht es darum, ob das Recht des Künstlers auf Unan­tast­bar­keit des Origi­nal­werks, und damit auch auf Fehler, auch auf tech­ni­sche und unfreil­lige, im Rückblick nicht mehr korri­gier­bare Fehler, schwerer wiegt, oder die zwei­fellos fundierte, aber in ihrem Perfek­tio­nismus auch ein wenig spießige Quel­len­fuch­telei und Fakten­hu­berei von Philo­logen, Epigonen und selbst­er­nannten Nach­laß­ver­wal­tern. Diese Formu­lie­rung enthält natürlich schon auch meine Position in der Sache. Aber immerhin ist der Streit hier nun da ange­kommen, wo er hingehört und geführt werden muss: Bei der Kunst. Und bei der wichtigen, ganz grund­sätz­li­chen Frage: Wie geht Deutsch­land eigent­lich mit dem Werk seines wich­tigsten Nach­kriegs­re­gis­seurs um?

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Was der sich getraut hat! Der Epilog Fass­bin­ders sei »ein zweis­tün­diges Drogen­de­li­rium«, sagt Heike, aber fügt gleich hinzu: »Danach kann man sich normales Fernsehen nicht mehr angucken, so normiert wie es ist.« »Es war immer so«, sagt Heike auch noch: »Alles, was mich am Ende wirklich inter­es­siert hat, war meistens anstren­gend und ich hatt' auch meistens keine Lust dazu.« Also Fass­binder gucken, hell oder nicht!

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Ein kleines Geschmäckle bleibt natürlich, wenn ausge­rechnet in der »Süddeut­schen« von Fritz Göttler im Streit allzu eindeutig pro-Lorenz Position bezogen und das Verdienst der Foun­da­tion betont wird, flankiert von einem Schwar­zen­berger-Interview, kaum über­ra­schend pro Restau­rie­rung. Hierzu ein treffend-bissiger Kommentar in der »taz«: »Was Göttler nicht schreibt: Die restau­rierte Fassung von Berlin Alex­an­der­platz wird als ein Höhepunkt der DVD-Edition der SZ ange­priesen. Schon vor einem Jahr warnte Enno Patalas, lang­jäh­riger Leiter des Münchner Film­mu­seums, in der Zeit­schrift 'Revolver' davor, in welch heikle Position Film­kri­tiker geraten, wenn sie im Auftrag ihres Verlags Öffent­lich­keits­ar­beit für dessen DVD-Editionen betreiben.«

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Film­kritik und Korrup­tion ist ein Thema, das zu wenig beachtet wird, und mehr beachtet werden sollte. Ein Beispiel: Pres­se­hefte schreiben. Es ist, wie ins Bordell zu gehen: Viele tun das, kaum einer redet darüber.
Klar: Honorare stagnieren auf der Stufe der Mitte der 90er Jahre. Während quali­täts­volle Film­kritik zunehmend in die ehren­amt­liche Tätigkeit über­zu­wech­seln scheint, halten sich immer mehr Autoren – so sie nicht einen verdienst­brin­genden Zweit­beruf ausüben – am Tropf der Produ­zenten und Verleiher über Wasser: Sie schreiben Pres­se­hefte und fertigen »elec­tronic press kits«, dolmet­schen, sind Consul­tant, oder wechseln gleich ganz die Seiten. Schlei­chende Korrup­tion. Im Einzel­fall der persön­li­chen Exis­tenznot ist das kaum jemandem zu verdenken, doch prin­zi­piell ist es schlichtweg unak­zep­tabel, und trägt zum Ruin des ganzen Berufs­tandes bei.
Etwa der leitende Redakteur eines eh schon bran­chen­nahen, absolut unkri­ti­schen »Bran­chen­ma­ga­zins«, der seit Jahren pro Monat mehrere Pres­se­hefte für die Verleiher schreibt und dann über die Plat­zie­rung der gleichen Filme in seinem Heft entscheidet. Ein anderes Beispiel ist der Fall eines – im Übrigen persön­lich recht sympa­thi­schen – Berliner »Kritikers«, der 2006 für einen Film das Pres­se­heft verfer­tigte, bei den Inter­views für die Kollegen dolmetschte, um dann noch gleich selbst ein Interview im Radio zu veröf­fent­li­chen und eine Kritik in einem Magazin schrieb.
Kann ja alles noch kommen, aber ich selbst hatte es glück­li­cher­weise bisher noch nicht nötig, Pres­se­hefte zu schreiben. Einmal habe ich eines redak­tio­nell über­ar­beitet, und einen Beitrag neu geschrieben. Einmal wurde ein in anderem Zusam­men­hang geschrie­bener, fertiger Beitrag auf Anfrage über­nommen. Und dreimal habe ich Inter­views geführt, die dann ins Pres­se­heft aufge­nommen wurden. Wenn darunter dann der eigene Name steht, liegen die Karten für alle offen auf dem Tisch, es dürfte kein Problem geben. Aber viel­leicht sollte man sogar das lassen.

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Zweites Beispiel fürs Thema Film­kritik und Korrup­tion: Darüber reden. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, ist der beliebte und fast immer prak­ti­zierte Spruch »in der Branche.« Stimmt ja auch, was wäre ein Film­kri­tiker ohne seine Augen. Aber wenn der Blick getrübt ist, soll man dass dann nicht sagen? Täte der Film­kritik nicht ein wenig mehr Kritik der Kritik gut, ein beim-Namen-nennen der Dinge. Wer korrupt ist, muss auch korrupt genannt werden. Und wer dumm ist dumm. Aber schon hier kann ich keine Namen nennen, will ich nicht morgen noch ein Tele­fon­ge­spräch führen wie heute vormittag: Über die Kolle­gen­namen im artechock-Cannes-Tagebuch. »Das macht man nicht«, sagte die Dame am Telefon. Warum eigent­lich? Es gibt nicht nur Kada­ver­ge­horsam, sondern auch Kada­ver­so­li­da­rität.

Rüdiger Suchsland