15.11.2007
Cinema Moralia – Folge 8

»Ich hab das Zeug unter Kontrolle«

FREE RAINER
»Macht kaputt, was euch kaputt macht!« -
Free Rainer
(Foto: Studiocanal)

Hans Weingartner, Idioten, Heroin für den Kopf und Filme aus Afghanistan

Von Rüdiger Suchsland

Es ist schon inter­es­sant: Vor vier Jahren war Hans Wein­gartner noch der Darling der deutschen Film­kritik. Da war er im Wett­be­werb von Cannes, »als erster Deutscher« nach 11 Jahren. Ein patrio­ti­scher Akt, der mit Jubel und überaus wohl­wol­lenden, viel­leicht ein wenig zu wohl­wol­lenden Kritiken belohnt wurde. Es mag daran liegen, dass diese Sport­re­porter- und Fan-Haltung dem einen oder anderen heute selber peinlich ist, dass nun die Wein­gartner-Betrach­tung ins Gegenteil eskaliert. Denn für seinen neuen Film wird er jetzt geschlachtet. Die wich­tigste Gemein­sam­keit: Wieder wird alles über­trieben, und wieder gibt sich die deutsche Kritik seltsam gnadenlos, unisono und ohne Sinn für Nuancen. Man muss Free Rainer ja nicht mögen. Aber man sollte doch zumindest, wenn man alles jetzt so schlecht findet, reflek­tieren, dass man das Gleiche vor kurzem noch ganz toll und befreiend, und »frisch« fand. Denn Free Rainer macht nicht wirklich viel anders als Die fetten Jahre sind vorbei, er ist nur schärfer, poli­ti­scher, verzichtet auf den ganzen Schmuh, der im Vorgän­ger­film von der Message abgelenkt hat. Offenbar aber liebten die deutschen Kritiker dort den heim­li­chen Vater-Sohn-Subtext, die Sehnsucht von Daniel Brühl, sich mit Papa Burghard Klaussner zu verstehen. Vergleich­bares fehlt in Free Rainer. Der Film hat den Mut zur Feind­er­klärung, ohne sich am Ende versöhnen zu wollen und anzu­bie­dern. Und er sagt dem Publikum, was es nicht hören will: Ihr seid Idioten und ihr seid selber schuld.

+ + +

Was sind das überhaupt für Maßstäbe? Noch dazu von Leuten, die so einen Schnodder wie Liebes­leben erst vorige Woche in den Himmel lobten? Warum verlangt man von einem Film, der ganz offen ein Propa­gan­da­film sein will, dass er diffe­ren­ziert? Oder hat das am Ende damit zu tun, dass sich einige Leute unter den Kritikern selbst an empfind­li­cher Stelle getroffen fühlen?

+ + +

»I watched your six o'clock news today – it’s straight tabloid. You had a minute and a half on that lady riding a bike naked in Central Park. On the other hand, you had less than a minute of hard national and inter­na­tional news. It was all sex, scandal, brutal crimes, sports, children with incurable diseases and lost puppies. So I don’t think I'll listen to any protesta­tions of high standards of jour­na­lism. You're right down in the street soli­ci­ting audiences like the rest of us. All I’m saying is, if you're going to hustle, at least do it right.« (Aus dem Drehbuch zu Network, 1976)

+ + +

»Als er [Wein­gartner] die faschis­to­iden Grundzüge der Medi­en­ge­sell­schaft erläutert, scheut er auch vor einem Zitat aus Hitlers ›Mein Kampf‹ nicht zurück«, schreibt eine Zeitung im Empörungston. Mein Gott im Himmel! Ja und? Das Zitat liefern wir hier mal nach:
»Jede Propa­ganda hat volks­tüm­lich zu sein und ihr geistiges Niveau einzu­stellen nach der Aufnah­me­fähig­keit des Beschränk­testen unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. (…) Je beschei­dener dann ihr wissen­schaft­li­cher Ballast ist, und je mehr sie ausschließ­lich auf das Fühlen der Masse Rücksicht nimmt, um so durch­schla­gender der Erfolg.«
Passt doch zum Gegen­warts­fern­sehen.

+ + +

Noch 'ne Beob­ach­tung: Je »intel­lek­tu­eller« und »linker«, um so mehr wird auf Wein­gartner einge­dro­schen. Als ob man den Kindern ihr Spielzeug wegge­nommen hätte, als ob sie irgend­einen Allein­ver­tre­tungs­an­spruch auf Welt­re­vo­lu­tion vertei­digen müssen. Wenn wir es schon nicht geschafft haben, sollen’s die anderen bitte auch nicht versuchen: Die »Jungle World« muss man viel­leicht nicht lesen. Aber die »taz« schon.

+ + +

Immer wieder wieder­holt werden jetzt zwei inhalt­liche Einwände: 1. Der Film benutzt selbst die Mittel, die er kriti­siert. 2. Dass Fernsehen dumm ist und dumm macht, wissen wir doch schon lange.
Beides ist zwar in sehr allge­meiner Weise richtig. Aber warum ist beides ein Einwand gegen den Film? Als ob jeder Film etwas Neues bringen würde. Als ob tatsäch­lich alle Menschen sich der mani­pu­la­tiven Wirkung des Fernsehen bewusst wären, und nicht viele, die es sind, trotzdem dauernd vor der Glotze hängen und dabei immer dümmer werden, sich in abge­klärte Ironie retten und über das »jugend­liche Klein­bür­gertum spotten«, das Wein­gartner anspricht. Es gibt aber nicht nur die, die sich viel drauf einbilden gar nicht mehr fern­zu­sehen, sondern auch jene, die fröhlich zugeben, jeden Schrott zu gucken, und glauben, dass sie trotzdem intel­li­gent bleiben.
Wenn Fernsehen, wie Wein­gartner behauptet, Heroin ist, macht es krank und süchtig, und dann genügt es nicht, um die schlimme Wirkung der Droge zu wissen, um von ihr loszu­kommen. Wer da sagt, Wein­gartner renne nur offene Türen ein, der erinnert nur an einen Süchtigen, der sagt: »Ich hab das Zeug unter Kontrolle«. Da müsste man dann schon erklären, warum Trash-TV nichts Schlimmes ist.
Und der Einwand des künst­le­ri­schen Selbst­wi­der­spruchs ist auch etwas dünn. Denn Wein­gart­ners Film propa­giert nichts anderes, als »Macht kaputt, was euch kaputt macht!« Das ist nur ein Selbst­wi­der­spruch, wenn das kaputt­ma­chen als solches verboten ist – aber die Zeiten des 70er-Jahre Kinder­la­dens sind ja gott­sei­dank vorbei. Man darf auch wieder mit Kriegs­spiel­zeug spielen, und trotzdem den Wehr­dienst verwei­gern.

+ + +

Wer in Frankfurt lebt, kann das alles im Deutschen Film­mu­seum am 17. November selbst mit dem Regisseur disku­tieren: In der Reihe »Was tut sich – im deutschen Film?«

+ + +

Themen­wechsel: Etwas wirklich Unge­wöhn­li­ches zeigen ab nächster Woche die »Freunde der Deutschen Kine­ma­thek« im Berliner Kino Arsenal: Dort läuft vom 22. – 26. November »SPLICE IN«, ein »Film­fes­tival zu Gender und Politik in Afgha­ni­stan, seinen Nach­bar­län­dern und Europa«, das von »mazefilm« kuratiert und von der Kultur­stif­tung des Bundes (und anderen) gefördert wird. Neben aktuellen Doku­men­tar­film­pro­duk­tionen und Spiel­filmen sind dort erstmals auch histo­ri­sche Filme aus dem »Film­ar­chiv Afghan Film« und kurze Aufklärungs­spiel­filme zu sehen, die als Auftrags­pro­duk­tionen von Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen entstanden. Das Festival wird von Diskus­sionen zum Thema begleitet.
Eröffnet wird am Donnerstag 22.11., um 19 Uhr mit Kabul Transit von David Edwards, Gregory Whitmore, Maliha Zulfacar. Der 2006 gedrehte Film doku­men­tiert Facetten des Alltags in Kabul. Weitere Filme: 3,2,1? von Alka Sadat, Se noqta (Three Dots) von Roya Sadat, Edame Rah (Path To Follow) von Nazifa Zakizada – über junge Mädchen, die Taekwondo trai­nieren –, Enemies Of Happiness von Eva Mulvad und Anja Al-Erhayem, Zanan Va Sinema (Women And Cinema) von Amina Jafari, Passing The Rainbow von Elfe Bran­den­burger und Sandra Schäfer, RUSCHANY von Latif Ahmadi, If I Stand Up von Shakiba Adil, Halima Hussaini und Kristina Tikke Tuura. Alle Filme sind zwischen 2002 und 2007 entstanden und zeigen das Leben afgha­ni­scher Frauen zwischen tradi­tio­nellen Fami­li­en­struk­turen.
Kontras­tiert wird dies mit zwei beson­deren Filmen: Talabgar (THE Marriage Candidate) von Khaleq A'lil stammt aus dem Jahr 1969 und erzählt von einem Hoch­stapler und Gauner, der um die Hand der Studentin Sima anhält, die aus der Kabuler Mittel­schicht stammt. Doch Sima sieht ihr Glück weder in Reichtum noch in Heirat, sondern im Studium. Postcards From Tora Bora von Kelly Dolak und Wazmah Osman mischt Super-8-Aufnahmen aus dem Kabul der 70er Jahre, die Frau­en­leben im west­li­chen Stil doku­men­tieren, mit Bildern der Rückkehr nach fast 30 Jahren: Denn nach der Invasion der Sowjet-Armee 1979 war die Regis­seurin mit Mutter und ihren Schwes­tern in die USA geflohen.
Auch Filme aus Indien und Iran dienen dazu, Gemein­sam­keiten und Unter­schiede heraus­zu­ar­beiten: Nari Adalat (Women’s courts) von Deepa Dhanraj und Rupa Metha erzählt von Frau­en­ge­richten, einer infor­mellen Rechts­praxis, die Mitte der 90er Jahre von einer Gruppe von Frauen in der indischen Provinz Gujarat einge­führt wurde und sich für Frau­en­rechte einsetzt. Le Mouvement De Libéra­tion Des Femmes Irani­ennes – Année Zéro (Die Befrei­ungs­be­we­gung Der Irani­schen Frauen – Im Jahre Null) stammt aus 1979, dem Jahr der Khomeini-Revo­lu­tion. Der Film doku­men­tierte die Proteste am Inter­na­tio­nalen Frauentag gegen das am Vorabend (7. März 1979) erlassene Dekret zum Kopf­tuch­zwang für Frauen. 5.000 Frauen demons­trierten damals an der Teheraner Univer­sität. Such A Strange Time It Is, My Dear von Mira Habibi porträ­tiert sechs aus dem Iran emigrierte Frauen, die seit fast dreißig Jahren in Berlin wohnen, und über ihr Verhältnis zu Politik, Revo­lu­tion, Sexua­lität und Flucht berichten.

+ + +

Neulich beim Festival von Venedig, von einem, der es wissen muss: »Hollywood-Movies are getting more and more stupid. Sorry to be negative, but that’s what I think.« Soweit Brad Pitt.

+ + +

»There is no America. There is no democracy. There is only IBM, and ITT, and AT & T, and DuPont, Dow, Union Carbide, and Exxon. Those are the nations of the world today! … This company is now in the hands of CCA, the Commu­ni­ca­tion Corpo­ra­tion of America. And when the twelfth largest company in the world controls the most awesome, god-damned propa­ganda force in the whole godless world, who knows what shit will be peddled for truth on this network. So, you listen to me! Tele­vi­sion is not the truth. Tele­vi­sion is a goddamned amusement park. Tele­vi­sion is a circus. So turn off your tele­vi­sion sets. Turn them off and leave them off!« (Aus dem Drehbuch zu Network, 1976)

(To be continued)

Rüdiger Suchsland

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.