26.08.2010
Cinema Moralia – Folge 27

Alles Kultur!

Salt
Es empfiehlt sich, nach Salt eine kalte Dusche zu nehmen.
(Foto: Sony Pictures Entertainment Deutschland)

Die Ehre der Kritiker, alberne Sportarten, Tierfilme über Babys, das Böse im deutschen Kino und andere merkwürdige kulturelle Erfindungen

Von Rüdiger Suchsland

Das Erlebnis der Woche ist Salt. Ein Film so straight wie banal, aber extrem elegant. Und vor allem hält er, was er verspricht, was man von Inception ja nicht gerade sagen kann, der genauso sinnfrei ist, aber dazu nicht stehen will. »Sinnfrei« heißt, das nur der Ordnung halber, natürlich nicht, dass der Film uns nicht trotzdem eine Menge erzählen würde – ganz im Gegenteil. Er tut das halt nur nebenbei, nicht program­ma­tisch. Vor allem die Perfek­tion von Angelina Jolie ist unfassbar – um das zu konsta­tieren, muss man sie nicht mögen.

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Mein aktueller Lieb­lings­trailer ist ein merk­wür­diger Trailer für The Expen­da­bles, der sich »Call to Arms«-Trailer nennt.

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»Wenn die Mensch­heit im Ganzen träumen könnte, käme Moos­brugger heraus.« schreibt Robert Musil irgendwo im »Mann ohne Eigen­schaften«. Moos­brugger ist ein verrückter Seri­en­mörder. Aber ist Moos­brugger auch böse?

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Vom Bösen zu reden, heißt Meta­physik ernst zu nehmen. Horror­par­odien handeln daher nicht vom Bösen. Das Böse kennen nur die Filme, die ein Gutes kennen, und darum kennen Asiaten und Hollywood das Böse immer noch besser als europäi­sche Filme. Zugleich ist dem europäi­schen Kino das Böse vertrauter, nicht ein Anderes (dies ist aber nicht das Gleiche wie es zu kennen). Seit jeher war das Böse daher im deutschen Kino zuhaus. Der Tod ist ein Meister aus Deutsch­land – gleich zweimal finden jetzt junge deutsche Filme­ma­cher in ihren Debüts das Grauen in der Provinz, genauer gesagt: Seri­en­killer, Mörder »aus niederster Gesinnung«. In Thomas Siebens Distanz heißt die Provinz zwar Berlin, doch die Gegend um den Bota­ni­schen Garten und die Spießer­woh­nung des Mörders lassen die Haupt­stadt so eisgrau aussehen, als stünde die Mauer noch. In Baran Bo Odars Das letzte Schweigen ist es die Provinz, die durch den Mauerfall nicht weiter verändert wurde. Und doch könnten beide Filme zugleich nicht unter­schied­li­cher sein.

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Werbe­etats bezahlt die Film­för­de­rung. Distanz ist ein Low Budget-Film, von der Förderung ignoriert – weil »zu häßlich«, »zu schwierig«, was zur Folge hat, dass der Film auch keine Verleih­för­de­rung bekommt, und ergo nur einen minimalen Werbeetat, und daher erst nach knapp zwei Jahren im Kino erscheint, trotz diverser Festi­val­teil­nahmen und Preise. Das letzte Schweigen umgekehrt ist bis in die Neben­rollen prominent besetzt, und, wie man es so nennt, »durch­ge­för­dert«. Allein der Werbeetat beläuft sich auf über 300 000 Euro – dafür machen andere Leute halbe Filme. Werbe­etats bezahlt bei uns übrigens zu großen Teilen die Film­för­de­rung. Moral: Wer einmal gefördert wird, wird immer gefördert.
Distanz ist so straight und konse­quent in der Verfol­gung seines einen Gedankens, wie er dann auch darauf beschränkt ist. Während Das letzte Schweigen fort­wäh­rend Kompro­misse macht, und viel zu viele Gedanken hat, zwischen denen er sich nicht entscheidet. So ist dies vor allem ein Film, der nichts falsch machen will. So ist dies ein Film für alle und jeden, in dem jeder irgend­etwas findet, was ihm gefallen kann. Was beide gemeinsam haben: Junge Regis­seure, Erst­lings­werke, die Sehnsucht nach Genre.

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Flache Abgründe. Es verwun­dert nicht, dass Distanz im Münchner Merkur hinge­richtet wird. Freund­lich und gelang­weilt, ungefähr so wie dort der Mörder seine Opfer erwischt. Da wird dann ohne Anteil­nahme oder auch nur einen Schimmer von filmi­scher Substanz ein wenig volks­tüm­lich herum­ge­spöt­telt: »Unter den jungen Filme­ma­chern des Landes muss ein geheimes Handbuch kursieren. Es heißt vermut­lich ›Wie lande ich einen Kritiker-Erfolg‹ oder ›Wie beein­drucke ich Festival-Jurys‹. Mit Kritikern oder Festi­val­jurys iden­ti­fi­ziert sich der Autor – viel­leicht doch auch ein Kritiker? Viel­leicht doch auch mal irgend­wann Festival-Mitar­beiter? – offenbar nicht, dafür mit dem gesunden Volks­emp­finden der ange­nom­menen Merkur-Leser-Mehrheit. Warum eigent­lich? Weil er sich so Aufträge sichert, in Zeitungen, deren Prinzip es ist, einem fiktiven Leser nach dem Mund zu reden, und das zu schreiben, was der vermut­lich immer schon denkt? Wäre es nicht die wahre Kriti­ker­ehre, den Zuschauern etwas zu zeigen, was ihnen noch unbekannt ist, ihnen nahe­zu­bringen, was unver­traut scheint. Oder die Regis­seure zu vertei­digen. Oder selbst einmal den eigenen Problemen mit einer Ästhetik auf den Grund zu gehen, sich zu fragen: Warum macht er das? Sieht er etwas anderes, als ich? Statt sich dumme Witze auszu­denken. Wie diesen: ›Darin stehen folgende Zutaten: lange Einstel­lungen, wenig äußere Handlung, schwei­gende Prot­ago­nisten mit einem Geheimnis, bei Gewalt oder Liebe auf gar keinen Fall die Moti­va­tion erklären. ... Nun muss ein Film nicht die Welt erklären. Aber ein klein wenig über die Figuren würde man gern erfahren, weil man sich sonst fragen könnte, welchen Zweck der Film überhaupt haben soll.‹ Wie wär’s mit nach­denken?«

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Tatsäch­lich ist es reichlich bescheuert, dass der Regisseur, der doch einen Täter zeigt, dessen Moti­va­tion unklar ist, diese dann für die Kritiker im Pres­se­heft nach­schiebt: »schizoide Persön­lich­keits­störung«. Aha!

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Das Konzert läuft immer noch im Kino. Leider. Tschai­kowsky mag noch so populär sein, einen wirklich guten Ruf hat er nicht. Er gilt als Komponist von Platz­kon­zerten für die besseren Kreise, pathe­ti­scher Exzesse der späten Romantik, denn als wirklich großer Künstler. Zu Unrecht. Vor 40 Jahren schon hat Ken Russel in The Music Lovers in Tschai­kowsky auch den Hippie entdeckt und im Swingin' London auch den Geist des 19. Jahr­hun­derts frei­ge­legt. Der in Paris lebende Rumäne Radu Mihai­leanu neuer Film, in dem man Tschai­kow­skys berühmtes Violin­kon­zert etliche Male zu hören bekommt, ist nun eher geeignet den schlechten Ruf des Russen wieder zu bestä­tigen: Es geht um ein paar abge­hal­terte Musiker, die sich in Paris als große Bolschoi-Stars ausgeben, und ein Konzert veran­stalten. Das Ganze beginnt als Farce à la Lubitsch, ist eine witzige, wenn auch von Anfang an etwas bemühte Satire auf den Post­kom­mu­nismus. Je länger es dauert, um so rühr­se­liger und klamot­tiger wird alles, um so mehr domi­nieren auch (Anti-)Russen­kli­schees, und um so weniger scheint sich der Regisseur für mehr zu inter­es­sieren, als ein über­flüs­siges und in jeder Hinsicht senti­men­tales Nach­hut­ge­fecht mit dem Staats­kom­mu­nismus auszu­tragen. Das mag biogra­phisch vers­tänd­lich sein, funk­tio­niert aber im Kino noch nicht mal als grobe Unter­hal­tung.

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Wasser­bal­lett. Sport ist sowieso eine merk­wür­dige kultu­relle Erfindung, und Synchron­schwimmen zwei­fellos eine der besonders albernen Sport­arten. Es macht die Sache nicht vernünf­tiger, wenn Männer, das unge­len­kere und häßli­chere Geschlecht, in diese Domäne einbre­chen, die aus guten Gründen bislang Frauen vorbe­halten war. Aber es macht sie ungemein witzig. Tatsäch­lich hat Måns Herngrens Komödie Männer im Wasser sogar ein Vorbild in der Wirk­lich­keit: Ein schwe­di­scher Männer­syn­chron­schwimm­club, der von einer Frau trainiert wird und eines Tages um Welt­meis­ter­schaft schwamm – Dylan Williams, selbst Mitglied, hat darüber die Doku­men­ta­tion Men Who Swim gedreht. Wer die gesehen hat, weiß, dass Herngren nichts mehr erfinden musste. Er macht aus dem Fall eine absurde Komödie, in deren Zentrum die Frage steht, was es eigent­lich heute heißt, ein Mann »in seinen besten Jahren« zu sein. Würde der Regisseur die Frage wirklich ernst meinen, wäre dies womöglich ein trauriger Film geworden. So aber ist Männer im Wasser ein angenehm unbe­schwerter Feelgood-Movie im Geist eines »typisch skan­di­na­vi­schen« Absur­dismus – manchmal melan­cho­lisch, manchmal aber auch inspi­riert vom visuellen Wahnsinn der Wasser­bal­lette Holly­woods und seiner »badenden Venus«.

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Kind­chen­schema. Dem artechock-Lob für den Film Babys kann ich mich ganz und gar nicht anschließen. Wieder mal ist das eine fran­zö­si­sche Doku­men­ta­tion, die alle Tugenden, die gerade der fran­zö­si­sche Doku­men­tar­film über Jahr­zehnte gepflegt hat, außer Acht läßt: Der alles vorher weiß, und nichts fragt, sondern predigt, der kitschig ist. Wenn man diesen Film sieht, möchte man schon deshalb keine Kinder in die Welt setzen, damit es nicht noch mehr solcher Filme gibt. Vier Babys aus vier Konti­nenten sind ein zu einfaches Schema, auch wenn es den Machern dieses Doku-Werbe­films für die Gleich­heit aller Menschen in ihren Unter­schieden offen­kundig nie um etwas anderes ging, als um wohlfeile Botschaften. Es stimmt ja: Überall auf der Welt lachen Babys gleich. Sie machen, schon weniger apart, auch überall ungefähr das Gleiche in die Hose. Trotzdem kann es, wenn es sehr dumm läuft, passieren, dass eines der süßen Kleinen – Mari, Bayar­jargal, Hattie, Ponijao aus Japan, der Mongolei, den USA und Namibia – in 20 oder 30 Jahren einem anderen den Schädel einschlägt. Schon wahr­schein­li­cher ist, dass Ponijao später unter anderem deshalb hungert, weil Hattie eine miserable Klima­bi­lanz hat. Das muss doch nicht sein, oder? Stimmt, nur trägt gerade diese schreck­lich tolerante Aller­welts­gleich­ma­cherei, die den ganzen Film prägt, dazu bei, dass die Zuschauer, die es anginge, alles nach fünf Minuten wieder vergessen haben. Die Ideologie, nach der die Natur immer recht hat, und die hier gepflegte reduk­tio­nis­ti­sche Moral des Natu­ra­lismus ist genauso reak­ti­onär wie jene in Tier­filmen. An die erinnert dieses vom Kind­chen­schema domi­nierte schlichte Thesen­werk sowieso andauernd: Sind sie nicht süß? Dudi­d­a­di­d­a­didu.

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Der Begriff des Bösen wird heute wieder ohne Anfüh­rungs­zei­chen benutzt. Das Böse ist normal geworden. Wir trauen es jedem zu, sagt der Krimi­nal­psy­cho­loge Reinhard Haller in seinem Buch »Das ganz normale Böse«. Beide genannten Filme zeigen die Norma­lität des Bösen. Entgegen der verbrei­teten Ansicht, dass, wird ein Täter überführt, es im Rückblick immer Auffäl­lig­keiten gab. Das Böse ist dann eine wohlfeile Erklärung. Ein Täter will absolute Macht ausüben, und will Aufmerk­sam­keit. Er will, wie Dosto­jew­skis Raskol­nikow, ein Herostrat sein. Aber Unter­su­chungen zufolge haben 50 Prozent aller Menschen in den west­li­chen Ländern schon mindes­tens einmal ernsthaft daran gedacht, einen Menschen zu ermorden. Es sind meistens winzige Auslöser, die am Ende den Schritt in die Wirk­lich­keit bedeuten. Seit jeher haben die Menschen diverse Erklärungen gefunden: Die Täter-Physio­gnomie des 19. Jahr­hun­dert, die Hirn­for­schung, die Theorie des »doppelte Y-Chromosom« der 80er Jahre. Aber nur etwa zehn Prozent aller Mörder weisen Unter­su­chungen zufolge eine psychi­sche Störung auf. Das Böse ist eher etwas Gelerntes, als von vorn­herein gegeben.

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Früher, da gab es Filme, aus denen man herauskam, und ein besser Mensch werden wollte. Oder wenigs­tens sein Leben ändern. Heute hat man nach dem Kino vor allem das Bedürfnis, eine heiße oder eine kalte Dusche zu nehmen. Salt ist eher der Typ Film für eine kalte Dusche, was ohne Frage für den Film spricht.

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.