11.04.2019
Cinema Moralia – Folge 194

Das Kino ist ein Superheld

Die Blechtrommel
Martin Scorseses Netflix-Produktion THE IRISHMAN

Was ist Kulturkapitalismus? Der Spielraum wird enger. Die Zügel werden angezogen. Neue Richtlinien überall. Und Nicholas Winding Refn kommt mal wieder zu spät – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogängers, 194. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Von Rüdiger Suchsland

»The busy have no time for tears.«
Lord Byron

Gefühle sind wichtig, gerade auch im Kino. Aber sollte es uns nicht zu denken geben, dass es gerade die Geschäf­tigen, die Gschaft­el­huber und Geschäf­te­ma­cher sind, die immer wieder auf Emotionen und Gefühle sich berufen? Auf »große« Gefühle natürlich, denn Gefühl allein reicht nicht.
»Im Kino gewesen, geweint« – zumindest diesen Satz von Kafka zitiert gern ein gewisser Typ von Kino­gän­gern. Um so etwas wie die emotio­nale, melo­dra­ma­ti­sche, tränen­drü­sige Qualität des Kinos zu beschwören.
Aber viel­leicht weinte Kafka aus ganz anderen Gründen. Viel­leicht hatte er nur einen schlechten deutschen Film gesehen?

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»Im Kino gewesen, gelacht« – das wäre doch auch nicht so schlecht.

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Emil Nolde ist jetzt auch abgehängt. Aus dem Kanz­leramt. Beden­ken­träger, Sauber­männer vom Syndikat für mora­li­schen Purismus haben dafür gesorgt. Nolde war ein Nazi, klar, zumindest irgendwie, das konnte man aber schon seit mindes­tens 50 Jahren wissen. Er war aber auch, das sind schon die feineren Unter­schiede, innerhalb der NS-Ideologie ein Dissident, er war verfemt als Expres­sio­nist, weil der Versuch der einen Nazi-Fraktion, der um Joseph Goebbels, den Expres­sio­nismus als »nordische deutsche Kunst« für den NS Staat zu verein­nahmen, an der anderen, an der Alfred-Rosenberg-Fraktion schei­terte. Ist viel­leicht auch besser so, für die Expres­sio­nisten vor allem.

Wenn Nolde aus dem akzep­ta­blen, staats­män­nisch vorzeig­baren Teil der deutschen Kunst­ge­schichte getilgt werden soll, hinter­lässt das aber ein Geschmäckle.
Getilgt werden soll hier nicht das Natio­nal­kon­ser­va­tive, dann müsste nicht nur die Regie­rungs­partei erst mal bei sich selbst die Ecken auskehren, sondern ein Radi­ka­lismus an sich. Dabei wäre es solcher Radi­ka­lismus, der jeden Künstler überhaupt erst anfängt, inter­es­sant zu machen: Eisen­stein und Brecht zum Beispiel, Kommu­nisten. Riefen­stahl und Harlan, harte Nazis. Lieben­einer, Sirk und Staudte – mindes­tens krasse Mitläufer und Oppor­tu­nisten.
Das Problem ist eher die Spießig­keit von Nolde. Die hatte Merkel und ihre Berater, aber auch die »kriti­schen« Jour­na­listen, aller­dings noch nie gestört.
Einmal mehr das ästhe­ti­sche Defizit der deutschen Debatte.

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Der Spielraum wird enger. Die Zügel werden angezogen. Neue Richt­li­nien überall. Auch bei der Europäi­schen Film­aka­demie. Die hat es zwar bitter nötig, sind inter­es­santer zu machen, aber ob es der richtige Schritt ist, weiter zu normieren und zu regu­lieren, die Menge der Filme, die nominiert werden dürfen einzu­schränken, anstatt sichtbar zu machen.

»Die European Film Academy hat das Auswahl­ver­fahren für Spiel- und Doku­men­tar­filme im Wett­be­werb für die European Film Awards geändert. Der EFA-Vorstand hat sich dazu entschieden, einige Neue­rungen einzu­führen, die die Anzahl der ausge­wählten Filme redu­zieren, das Nomi­nie­rungs­ver­fahren demo­kra­ti­sieren und alle Länder gleich­wertig behandeln.
...müssen diese nun zusätz­lich mindes­tens eins der folgenden Kriterien erfüllen: eine Auszeich­nung bei einem großen Festival, große Aufmerk­sam­keit bei Film­fes­ti­vals, verkauft nach oder bereits verliehen in mindes­tens drei Länder (bei Doku­men­ta­tionen: ein Land).
Frist ist der 31. Mai, danach wählen die Komitees maximal 45 Spiel­filme und 12 Doku­men­ta­tionen aus, um sie den EFA-Mitglie­dern für eine Nomi­nie­rung vorzu­schlagen. Diese entscheiden anschließend über die Gewinner, die dann bei der Verlei­hung der 32. European Film Awards am 7. Dezember in Berlin verkündet werden. ....
Die volls­tän­digen EFA Regu­la­rien stehen online zur Verfügung unter www.euro­pe­an­filma­ca­demy.org«

»Auszeich­nung bei einem großen Festival«, »große Aufmerk­sam­keit bei Film­fes­ti­vals«, Verkäufe...
Das ist nur Kultur­ka­pi­ta­lismus.

»Demo­kra­ti­sieren und ... gleich­wertig behandeln« ist übrigens das, was Dikta­toren immer sagen, wenn sie ihre Macht ausweiten wollen.
Wieso übrigens sollte man Frank­reich oder England eigent­lich als Film­länder gleich behandeln wie Kroatien oder Malta?
Die europäi­schen Förde­rungen behandeln sie ja einst­weilen höchst ungleich.

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»Europäisch, im Sinne der European Film Academy, bedeutet geogra­fi­sches Europa, sowohl EU als auch nicht-EU, und schließt Israel und Palästina mit ein.«
Ein paläs­ti­nen­si­scher Film ist also ein europäi­scher? Ihr habt sie ja nicht alle!

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Video­blogs, Podcasts, Audio­files – das ist das gar nicht mehr aller­neu­este Ding. Es kommt jetzt in den deutschen Zeitungen an. Schon seit Jahren gibt es etwa Video­film­kri­tiken in der FAZ und Video­li­te­ra­tur­kri­tiken in der Süddeut­schen. Als ob wir die Autoren sehen müssen, oder gar wollen, drängen sich ihre Gesichter vor ihre Gedanken, ihr unge­schminktes Äußeres vor die genau durch­dachten Formu­lie­rungen, ihre eitlen Gesten und unge­schulten Kame­ra­auf­tritte – bei Film­kri­ti­kern immerhin merklich besser als bei Lite­ra­tur­kri­ti­kern –, vor die natürlich auch eitlen, aber immerhin geschulten Analysen der Werke.
Der nächste Schritt wäre die Stil­kritik des Auto­renäußeren auf der Modeseite anstelle der Rezension. Kommt noch. Alles leser­freund­lich, Service, die Leute »da abholen, wo sie stehen«. Die SPD zeigt, wohin das führt.
Als ob die Leute da stehen, wo sie sollen. Oder auch nur, wo sie stehen wollen. Wäre das so, bräuchten sie die Kritik nicht, die natürlich am Ende dazu da ist, sie zu besseren Menschen zu machen.

Das Phänomen der Enttex­tung schreitet derweil voran.

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»Das Kinojahr 2018 – Markt­zahlen aus Deutsch­land« – Die FFA vermeldet: »Der Kinomarkt in Deutsch­land musste im vergan­genen Jahr bekannt­lich bedeu­tende Einbußen verkraften – Umsatz und Besu­cher­zahlen gingen nach den Ergeb­nissen des GfK Consumer Panels jeweils um rund 15 Prozent auf 100 Mio. Besucher bzw. 893 Mio. Euro zurück. In seinem Vortrag ›Das Kinojahr 2018 – Markt­zahlen aus Deutsch­land‹ beim Kino­kon­gress 2019 analy­sierte Frank Völkert, stell­ver­tre­tender Vorstand der Film­för­de­rungs­an­stalt FFA, ... was die Markt­daten zum Vers­tändnis der Ursachen für den Besu­cher­ein­bruch beitragen können. Sicher scheint demnach, dass Jahr­hun­dert­sommer und Fußball-Welt­meis­ter­schaft zwar Einfluss auf das Besu­cher­ver­halten hatten, die Haupt­ur­sa­chen aber woanders liegen.
2018 waren knapp 25 Mio. (37 Prozent) der Deutschen über 10 Jahre mindes­tens einmal im Kino. Im Vergleich zu 2017 ist dies ein stabiler Wert, in der Lang­zeit­be­trach­tung geht die Reich­weite jedoch deutlich zurück: Vor 10 Jahren besuchten noch 44 Prozent der Deutschen ab 10 Jahren ein Kino.
Die Besuchs­in­ten­sität sank im Vergleich zum Vorjahr von 4,7 auf 4,1 Besuche pro Kopf um 14 Prozent. Es zog also nicht weniger Menschen ins Kino, sondern dieje­nigen, die ins Kino gingen, taten dies weniger häufig.
Mit 37 Prozent Reich­weite gingen 2018 immer noch mehr Personen ins Kino, als Personen, die Home-Video-Produkte (34 Prozent) nutzen. Im Vergleich zu 2017 haben sich diese Anteile nicht verändert. Auch der Anteil der Home-Enter­tain­ment-Nutzer, die ins Kino gehen, ist 2018 mit 69 Prozent stabil – obwohl die Umsätze des Teil­be­reichs SVoD 2018 um 77 Prozent zugelegt haben.
Wie im Vorjahr waren im Jahr 2018 55 Prozent aller SVoD-Nutzer gleich­zeitig Kino­gänger. Die SVoD-Konsu­menten gingen also auch in dem schwachen Kinojahr 2018 ins Kino und taten dies zwar weniger als im Vorjahr, aber dennoch weiterhin häufiger als der Gesamt­markt. Gleich­zeitig gaben sie dort auch mehr Geld aus als andere Film­kon­su­menten und zahlen im Vergleich zum Gesamt­markt vier Prozent höhere Eintritts­preis. Dennoch verändert sich für die Kino­be­treiber die Struktur ihrer Kino­gänger: Waren 2017 noch 23 Prozent der Kino­gänger gleich­zeitig SVoD-Kunden, hat sich dieser Anteil 2018 auf 28 Prozent erhöht.«

Wie lernen daraus: Video- und Strea­ming­platt­formen sind kein Feind des Kinos, sondern ein Partner.
Wir lernen auch: Kino ist auch quan­ti­tativ wichtiger als Heimkino.

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Nicolas Winding Refn kommt mal wieder zu spät. Viel zu spät. »Cinema Is Dead« erklärt der Mann allen Ernstes, und mit seriösem Gesichts­aus­druck, etwa 30 Jahre nach Peter Greenaway, 35 Jahre nach Serge Daney und zig Jahre nach vielen anderen. So ein Blödsinn. Wahr­schein­lich ist das Kino ein Superheld, das unsterb­lich ist, immer wieder aufsteht, nachdem es mit dem Stummfilm spätes­tens zum ersten Mal gestorben ist.
Arguing About Netflix Is 'so 2000' and Pointless behauptet der dänische Narziss mit dem großen Ego.

»Cinema is dead, I have come to Lyon to declare film to be dead. And now it’s resur­rected. Film clings on to our feet as we move forward. The best way to move forward [is] to bury the past. That doesn’t mean you forget it.
It’s like a cathedral. It’s where you read the first testament. You study scrip­tures to get to the second testament, if you look at Instagram or Twitter or all these things that my children use – they're all for free! What on earth are we thinking? That it doesn’t mean anything for cinema?«

Was für ein Riesen­bull­shit!

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Die soge­nannte Netflix-Debatte, die eigent­lich eine um die Streaming-Dienste ist, ist aller­dings auch Blödsinn. Sie geht vor allem die Förderer an.
Denn tatsäch­lich müssen sich ja die Förderer aller Länder in ihrer unend­li­chen Weisheit fragen (lassen), warum, Alfonso Cuarón oder Martin Scorsese (Cuarón!! Scorsese!!! Keine Nobodys) nirgendwo soviel Geld bekommen, wie von diesen Bösen­haien, die noch keinen Cent verdient haben.

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Wir brauchen einen Förder­pranger, äh eine Trans­pa­renz­web­seite, wo alle Sünden und Desi­de­rate der Förder­tä­tig­keiten einmal aufge­listet werden.
Gerech­tig­keit für Förderer. Aber auch für Filme­ma­cher. Dazu nächstes Mal mehr!

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Neueste Nach­richten vom Untergang des Abend­landes: Das Recht­schreib­pro­gramm schlägt Podolski vor, aber nicht Polanski.

(to be continued)