20.06.2019
Cinema Moralia – Folge 198

Sommer­spiele

Matrix
Ein Film, der das Kino verändert hat: Matrix

Wenn man die rote und die blaue Pille schluckt, und dann noch Pola X schaut: Eingrooven ins Münchner Filmfest und eine Erinnerung an den Sommer vor 20 Jahren – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogängers, 198. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Roman­person gesagt wird.«
Roland Barthes: »Über mich selbst«

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Es war ein ganz beson­derer Sommer, der Sommer 1999. Es war der erste Sommer, in dem ich ein wirklich »profes­sio­neller« Film­kri­tiker war. Oder der zweite, denn eigent­lich hatte schon 1998 alles richtig ange­fangen.
Wir saßen im alten Büro des Filmfests, Bodo Fründt und ich. Wir machten den Katalog. Ich zum aller­ersten Mal. Schrieben über Filme wie zum Beispiel Yu Lik-wais »All Tomorrows Parties«, »Die Liebenden des Polar­kreises« von Julio Medem, »New Rose Hotel« von Abel Ferrara, »Fin Aout, Debut Septembre« von Olivier Assayas. Es waren gute Jahre.
Im Innenhof des Stadtcafe saß ich irgend­wann mit Nina Roeder, George Hicken­looper, Julia Teichmann und Jason Freeland.

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Ich weiß noch, wie wir jeden Morgen die Berichte aus Cannes lasen, in der Zeitung, denn mit dem Internet fing alles erst an. Michael Althen erzählte in der »Süddeut­schen«, wie er nachts bestohlen worden war: »Man schläft im Hotel­zimmer, man hat das Fenster aufge­lassen – und schwach­sin­ni­ger­weise auch die Fens­ter­läden. Als man am anderen Morgen aufwacht, sind der Geld­beutel fort, die Ausweise, Kredit­karten – alles. Immerhin ist der Festi­val­aus­weis noch da – ohne den wäre man in Cannes ein toter Mann.«
Er berich­tete von »Lovers« einem fran­zö­si­schen Dogma-Film, und vor allem von Leos Carax' Pola X, die dann beide auf dem Filmfest liefen. So leiden­schaft­lich, wie Michael zwei Jahre später von einem anderen Film berich­tete, der nicht im Programm von Cannes lief. Warum, das ist mir heute noch so schlei­er­haft, wie ihm schon damals: »Amelie«, Die fabel­hafte Welt der Amélie.
Es war die Zeit, als Eberhard Hauff, damals der Leiter des Filmfests, immer so schöne trashige Mottos erfand, die eigent­lich hoch­not­pein­lich waren, aber auch schon wieder darü­berweg waren, und die wir auf den Katalog aufdru­cken mussten: »Das Schönste am Film sind die Frauen«, »Vom Kino besessen«, »Wer das Leben liebt, liebt das Kino«.

Welches war es in diesem Jahr? In jedem Fall war es das Jahr von Roman Polanski. Ich weiß noch, wie wir damals Polanski vor allem beschützen mussten, vor den Dämonen der Vergan­gen­heit, die auch in München plötzlich über die Straße liefen. Der Münchner Vergan­gen­heit meine ich. Und die Warschauer. Die Pariser. Die in Krakau. Die von Beverly Hills, aber nicht des Jahres 1977. Von »me too« sprach damals niemand. Es war eine gute Zeit, eine bessere.
Frauke Hanck kam gele­gent­lich zu uns zu Besuch. Mit ihr zusammen hab ich dann Polanski inter­viewt und erlebt wie sie kurz polnisch mit ihm sprach. Drei Jahre später war sie tot und kurz nach einem unserer weiteren Kataloge kümmerten sich Bodo und ich um den Nachlass.

Das Filmfest-Büro lag in der Kaiser­straße. Hier war die Welt noch in Ordnung: Oben war der FFF Bayern, unten die Constantin und dazwi­schen das Filmfest.

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Hier in der Kaiser­straße erlebten wir auch das Cham­pi­ons­le­ague-Finale des FC Bayern München gegen Manchester United. Genau gesagt: wir hörten es.
Warum ich es mir nicht ange­schaut habe, auch das ist mir heute schlei­er­haft. Aber viel­leicht war es besser, denn ich erinnere mich noch wie heute an Jubel­schreie und an das Stöhnen, das die ganze Stadt erfasste, zweimal kurz hinter­ein­ander, beim zweiten Mal wie ein Kreischen.
Das waren die letzten 180 Sekunden des Spiels, die niemand vergessen wird, der sie sah – so heißt es. Ich sah sie nicht und werde sie auch nicht vergessen. »Der Mutter aller Nieder­lagen« nannte die SZ dieses Finale jetzt.
Bodo Fründt ist leider auch längst tot. Er war für mich so etwas wie die Seele des Filmfests, und das Filmfest München wird ohne diese Seele nie wieder so sein, wie es war.

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Martin Blaney machte für uns die engli­schen Über­set­zung. Er kam abends und hackte dann in die Tasten. Bodo sprach tagsüber immer von »Mr. Blaney«, und was der am Abend alles machen müsse. Ich solle ihn daran erinnern.
In einem anderen Jahr, da war das Filmfest schon umgezogen, 2001 oder 2002, über­nach­teten wir zwei oder drei Mal im Büro unter den Tischen. Denn in der Endphase, der letzten Woche vor Kata­log­schluss, über­schwemmte uns die Arbeit. Bilder kamen damals oft noch nicht digital, sondern als Dias, oder als Posi­tiv­ab­züge und sie wurden aus teuer gestal­teten Pres­se­heften zusam­men­ge­scannt. Die Pres­se­hefte und Bilder hatte Robert Fischer, Filmfest-Programmer, in seinem Auto aus Cannes mitge­bracht. Ich habe das Auto einmal gesehen, der Koffer­raum zum Bersten voll, die Hinter­achse hing durch – das Fundament des »Filmbild Fundus Robert Fischer«.

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Dann gab es Doro, eine Freundin von Bodo, die manchmal mit uns abends nach der Arbeit etwas trinken ging. Ich glaube, sie war es, die uns an diesen Film erinnerte, der so gut sein sollte. Etwas Beson­deres, ein Hype ging ihm voraus. Das schien inter­es­sant zu werden, wert die Arbeit zu unter­bre­chen.
Wir sahen Matrix am Abend, in einer späten Pres­se­vor­füh­rung im Cinemaxx 2, und wahr­schein­lich ist es falsch, aber bis heute denke ich, dass es seitdem nie wieder einen Film gab, der so deutlich eine Wasser­scheide darstellte. Es gab ein »vor Matrix« und »nach Matrix«.
Dieser Film hat das Kino verändert. Danach entdeckte man überall »Cyber-Filme«. eXistenZ von Cronen­berg (über den Bodo eine SZ-Kritik schrieb, die Michael Althen so schlecht fand, dass er Bodo ihret­wegen als freien Mitar­beiter raus­ge­schmissen hat, die Bodo-Abneigung, die nicht auf Gegen­sei­tig­keit beruhte, war eines der wenigen Dinge, die ich bei Michael überhaupt nicht verstanden habe); »The 13th Floor von Joseph Rusnak, heute voll­kommen vergessen, mit Armin Mueller Stahl... Der lief auch auf dem Filmfest 1999.«

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Aber was wollte der Film uns sagen? Hatte Cypher nicht recht? Was spricht gegen ein Steak, das schmeckt, auch wenn es nur Illusion ist?
Musste man Baudril­lard gelesen haben? Sein Buch »Simu­la­cres et Simu­la­tion« ist das Geheim­ver­steck für Neos Software. Die armen Schau­spieler mussten das Werk lesen, bevor sie das Drehbuch lesen durften. Eine der Kern­thesen: Moderne Medien sind selbst­re­fe­ren­zi­elle Zeichen­sys­teme, die auf nichts Konkretes mehr verweisen, sondern für sich selbst stehen.

Aber was soll falsch daran sein, Menschen eine virtuelle Realität vorzu­gau­keln? Man stelle sich vor: Man nimmt eine Pille und reist virtuell nach Berlin oder München, und wir haben unsere Ruhe, die Biere kosten nur 1.50, weil Filmleute sich mehr nicht leisten können, und die Hipster liegen in London im Solarium, und machen Selfies mit Boris-Johnson-Puppen, statt Kunst in Berlin-Mitte.

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Das waren Zeiten, als das Kino noch eine neue Welt defi­nierte.

Tut es das heute auch? Noch? Oder hat all das nur mit Jugend zu tun, damit, dass es eine andere Wahr­neh­mung der Welt war, ja, dass wir selber uns jünger fühlten. Und nicht nur fühlten.

Wir sahen Matrix. »Welt am Draht« sagte Frauke Hanck.

Es war der Sommer 1999 und es wird nie wieder so sein.
Aber München steht noch.

PS:

Man muss diesen Text zu Pola X von Michael Althen aus der SZ vom 15.05.1999 lesen, weil er heute, gestern geschrieben sein könnte, weil er unglaub­lich schön ist, weil er Lust macht zurück­zu­reisen und alles wieder­zu­sehen und zu erleben:

»Das Kino ist kein Trost, aber es liefert Bilder für jene Gefühle der Über­wäl­ti­gung, für die wir keine Erklärungen haben. ... Ein Film aus einem Niemands­land, das irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn liegt, ein Phan­tom­film, der aus den Gräbern aufsteigt, kurz ins Sonnen­licht blinzelt und wieder ins Reich der Schatten verschwindet. ... Carax ist mit ›Pola X‹ wieder ein mißra­tenes Meis­ter­werk gelungen, daß wie ›Pont-Neuf‹ von dem Mut lebt, Teile zusam­men­zu­schweißen, die nicht zusam­men­gehören. Dadurch entstehen Bilder und Rhythmen, die im heutigen Kino ihres­glei­chen suchen. Europa wird darin zu einem Märchen­land, das aus sanften Wiesen und düsteren Wäldern, finsteren Ecken und berü­ckenden Idyllen besteht. Und aus dem Osten dieses Konti­nents kommt die Schwester, womöglich aus Bosnien, wo sich auch Carax in den Jahren seiner Abwe­sen­heit zeitweise aufge­halten haben soll.
Womit der Film bei den Forde­rungen des Tages wäre, wonach sich das Kino auf die ein oder andere Weise mit dem Krieg ausein­an­der­zu­setzen habe. Denn natürlich ist das Auftau­chen jener abge­ris­senen Frau, die nur noch in Bruchs­tü­cken von ihrer Vergan­gen­heit reden kann, kein schlechtes Bild für das, was in Europa gerade passiert: Auch da sind Leute auf der Flucht, die uns plötzlich an eine frühere geschwis­ter­liche Koexis­tenz erinnern. Und ›Pola X‹ erzählt von einem, der bereit ist, die Hand zu reichen – um den Preis von Wahnsinn und Tod. Der Film ist – das muss man so sagen – ein Wunder und als solches auch genauso verst örend.«

(to be continued)