04.02.2021
Cinema Moralia – Folge 241

»Die Künstler sind dieje­nigen, die Filme und Serien erschaffen!«

Dune
»Lang lebe das Kino! Es ist unser Vermächtnis...« (Szene aus Denis Villeneuves Dune)
(Foto: Warner Bros. Entertainment Inc.)

Hier kann kein Funke überspringen, weil es keinen Funken gibt: Netflix, Diskurs-Wächter und totale Ungewissheit bei der Berlinale; Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 241. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Der Menschen­ver­stand hat sich besonders in den letzten 10 bis 15 Jahren, als Opponent der Philo­so­phie und Poesie, so häufig mit seinem Gesund­heits­ge­fühle gebrüstet, dass man schon deshalb in Versu­chung geraten sollte, ihm einige Schwäche zuzu­trauen. Beschei­dene Schrift­steller haben von jeher in den meisten Fällen den Ausdruck: 'gemeiner Menschen­ver­stand« vorge­zogen.
Heinrich von Kleist, Blogger

»Ich bin ja einer, der seine Karriere darauf begründet hat, dass er erst geredet und dann gedacht hat. Heute denke ich, und dann sage ich am besten nichts mehr.«
Thomas Gott­schalk, Enter­tainer

In eigener Sache: Provo­ka­tion ist wichtig. Kunst ohne Provo­ka­tion, ohne die Fähigkeit, zu provo­zieren, ist unin­ter­es­sant.
Neulich war ich beim Podcast »Projek­tionen« zu Gast, den der Film­wis­sen­schaftler Marcus Stig­legger und der Philosoph (und Ex-Film­kri­tiker) Sebastian Seidler zusammen machen.

Es ging darin u.a. um Bergman und Lars von Trier, Bunuel und Pasolini, DAU und die Frage, was heute im Film eigent­lich (noch) ein Skandal ist.

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Provo­ka­teure sind nicht gerade in. Sie gelten als Stören­friede, Unru­he­stifter, man vergleicht sie mit Rechts­ra­di­kalen oder bösen Clowns wie Donald Trump. In Sachen von Corona ist bei uns endgültig das Neobie­der­meier ausge­bro­chen. Sozio­logen und Sozi­al­psy­cho­logen – z.B. heute im Deutsch­land­funk der Sozi­al­psy­cho­loge Stephan Braunfels – beschreiben den Zustand der deutschen Gesell­schaft als einen vorge­zo­genen Vorru­he­stand, der die gesamte Gesell­schaft mitein­schließt und in dem es sich ein großer Teil der Gesell­schaft gemütlich einge­richtet hat.
Da möchte man dann nicht gestört werden.

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Totale Unge­wiss­heit bei der Berlinale: Seit einem guten Monat wissen wir, was wir schon lange wussten, was aber erst seitdem auch offiziell ist: Die Berlinale findet nicht wie üblich im Februar statt. Statt­dessen gibt es eine soge­nannte »Hybrid Berlinale«, das heißt: Das Film­fes­tival findet in seiner eigenen Lesart »zwei­ge­teilt« statt, einmal online/virtuell an ein paar Tagen Anfang März. Und ein zweites Mal Anfang Juni als »Publikums-Festival« in den dann hoffent­lich schon lange wieder geöff­neten Kinos. Nur ist voll­kommen unklar, was das eigent­lich heißt und was das bedeutet – für die Zuschauer, insbe­son­dere das Fach­pu­blikum, zu dem auch Film­kri­tiker gehören, aber auch – und das ist fast noch wichtiger – für die Filme. Denn die soge­nannte virtuelle Berlinale wird eine sein, bei der die Filme­ma­cher kein bisschen spüren und erfahren und erleben können, wie ihre Filme überhaupt vor Publikum funk­tio­nieren.
Hier kann kein Funke über­springen, weil es keinen Funken gibt.

Den Filme­ma­chern fehlt auch komplett das Erlebnis, selber auf einem Film­fes­tival – immerhin eine Art Festival! – präsent zu sein. Die deutschen Filme­ma­cher, die zu 85% in Berlin leben, die können zwar viel­leicht noch vor dem leeren Film­pa­last am Potsdamer Platz stehen, die März-Kälte spüren, und dann bibbernd eine Art Berlinale-Feeling aufbauen. Aber keiner von ihnen wird auf dem roten Teppich laufen. Keiner von ihnen wird im Saal sein, und von einem Moderator oder einem Festival-Direk­toren-Paar präsen­tiert werden. Keiner von ihnen wird bei der Welt­pre­miere nervös mitzit­tern. Man möchte sich das alles gar nicht vorstellen! Und werden sie darum bangen, ob sie Preise gewinnen? Irgendwie schon. Aber irgendwie ist auch dies alles unklar und in die Watte des Diffusen gepackt. Denn auch wenn die Filme­ma­cher ihre Filme längst der Berlinale zugesagt haben – bis Montag wussten sie nicht, wer überhaupt in der Jury sitzt.
Hinter den Kulissen gibt es zurzeit ein Hauen und Stechen. Es wird gekämpft. Vor allem kämpfen Welt­ver­triebe und Produk­ti­ons­firmen darum, der Presse die Filme zu zeigen, und ihnen am aller­besten sogar ein Screening innerhalb von Kinos zu ermög­li­chen. Sofern dies infek­tions- und seuchen-poli­zei­lich gestattet ist.

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Damit es niemand miss­ver­steht, was ich vor drei Wochen schrieb: Auch Joe Biden setzt wie alle seine Vorgänger auf Ästhe­ti­sie­rung der Politik. Um die geht es sowieso immer, erst recht aber in den USA. In einem provin­zi­ellen Land, wie Deutsch­land, dass sich auf die eigene Stil­lo­sig­keit noch etwas zugute hält, und diese mit Floskeln wie »Echtheit«, »Ehrlich­keit«, »Authen­ti­zität« verbrämt.

Wir sollten wieder eine über »Anstand« hinaus­ge­hende Sehnsucht nach Ästhetik und Anmut, geschlif­fener Rhetorik und insti­tu­tio­nellen Formen entwi­ckeln, und dem Kult des »echten Gefühls« abschwören.

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In einem leiden­schaft­li­chen Brief hat der kana­di­sche Regisseur Denis Ville­neuve darauf reagiert, dass sein Film Dune zeit­gleich zum Kinostart im Netz veröf­fent­licht werden soll, und sich für den Erhalt des klas­si­schen Kinos einge­setzt.

Hier sein offener Brief in Über­set­zung:

»Ich habe in den Nach­richten erfahren, dass Warner Bros. beschlossen hat, Dune zeit­gleich mit unserem Kinostart auf HBO Max zu veröf­fent­li­chen und Bilder aus unserem Film zu verwenden, um ihren Streaming-Dienst zu bewerben. Mit dieser Entschei­dung hat sich AT&T eines der ange­se­hensten und wich­tigsten Studios der Film­ge­schichte unter den Nagel gerissen. Es gibt dort absolut weder eine Liebe für das Kino, noch für das Publikum. Es geht nur um das Überleben eines Telekom-Mammuts, den derzeit eine astro­no­mi­sche Verschul­dung von mehr als 150 Milli­arden Dollar drückt. Auch wenn es in Dune also um das Kino und das Publikum geht, geht es AT&T um das eigene Überleben an der Wall Street. Da der Start von HBO Max bisher ein Fehl­schlag war, entschied sich AT&T dazu, die gesamte 2021er-Staffel von Warner Bros. in einem verzwei­felten Versuch zu opfern, um die Aufmerk­sam­keit des Publikums zu gewinnen.
Die plötz­liche Kehrt­wende von Warner Bros. von einem Erbe für Filme­ma­cher hin zu einer neuen Ära der völligen Miss­ach­tung des Kinos zieht für mich eine klare Linie. Filme­ma­chen ist eine Kolla­bo­ra­tion, die auf das gegen­sei­tige Vertrauen der Team­ar­beit ange­wiesen ist und Warner Bros. hat erklärt, dass sie nicht mehr im selben Team sind.«

Streaming-Dienste sind eine positive und starke Ergänzung des Film- und TV-Ökosys­tems. Aber ich möchte, dass die Zuschauer verstehen, dass Streaming allein die Film­in­dus­trie, wie wir sie vor COVID kannten, nicht aufrecht­erhalten kann. Streaming kann groß­ar­tige Inhalte produ­zieren, aber keine Filme von »Dune«-Ausmaß und -Größe. Die Entschei­dung von Warner Bros. bedeutet, dass Dune keine Chance haben wird, sich finan­ziell zu behaupten, um über­le­bens­fähig zu sein, und dass die Piraterie letzt­end­lich trium­phieren wird. Warner Bros. könnte das Dune-Franchise gerade getötet haben. Das hier ist für die Fans. John Stankey von AT&T sagte, »dass das Streaming-Pferd die Scheune verlassen hat«. In Wahrheit hat das Pferd den Stall verlassen, um zum Schlachthof zu gehen.

Die öffent­liche Sicher­heit kommt zuerst. Das wird niemand bestreiten. Deshalb habe ich die Entschei­dung, den Start von Dune um fast ein Jahr zu verschieben, verstanden und unter­s­tützt, als sich abzeich­nete, dass der Winter eine zweite Welle der Pandemie bringen würde. Der Plan war, dass Dune im Oktober 2021 in die Kinos kommen sollte, wenn die Impfungen fort­ge­schritten sind und das Virus hoffent­lich hinter uns liegt. Die Wissen­schaft sagt uns, dass im nächsten Herbst alles wieder normal sein sollte.

Dune ist bei weitem der beste Film, den ich je gemacht habe. Mein Team und ich haben mehr als drei Jahre unseres Lebens darauf verwandt, ihn zu einem einzig­ar­tigen Erlebnis für die große Leinwand zu machen. Bild und Ton unseres Films wurden akribisch für das Kino konzi­piert.

Ich spreche in meinem eigenen Namen, aber ich stehe in Soli­da­rität mit den sechzehn anderen Filme­ma­chern, die nun das gleiche Schicksal erleiden. Bitte wisst, dass ich bei euch bin und dass wir gemeinsam stark sind. Die Künstler sind dieje­nigen, die Filme und Serien erschaffen.

Ich glaube fest daran, dass die Zukunft des Kinos auf der großen Leinwand liegen wird, egal was irgend­welche Wall-Street-Dilet­tanten sagen. Seit Anbeginn der Zeit haben die Menschen ein tiefes Bedürfnis nach gemein­schaft­li­chen Geschich­ten­er­leb­nissen. Kino auf der großen Leinwand ist mehr als ein Geschäft, es ist eine Kunstform, die Menschen zusam­men­bringt, die Mensch­lich­keit feiert und unsere Empathie fürein­ander stärkt – es ist eine der aller­letzten künst­le­ri­schen, persön­li­chen kollek­tiven Erfah­rungen, die wir als mensch­liche Wesen teilen.

Wenn die Pandemie vorbei ist, werden die Kinos wieder mit Film­lieb­ha­bern gefüllt sein. Das ist meine feste Über­zeu­gung. Nicht weil die Film­in­dus­trie es braucht, sondern weil wir Menschen das Kino als kollek­tive Erfahrung brauchen.

So wie ich als Filme­ma­cher sowohl eine treuhän­de­ri­sche als auch eine kreative Verant­wor­tung zu erfüllen habe, rufe ich AT&T dazu auf, mit der gleichen Verant­wor­tung, dem gleichen Respekt und der gleichen Achtung schnell zu handeln, um dieses lebens­wich­tige kultu­relle Medium zu schützen. Der wirt­schaft­liche Einfluss auf die Stake­holder ist nur ein Aspekt der sozialen Verant­wor­tung von Unter­nehmen. Wege zu finden, die Kultur zu verbes­sern, ist ein anderer. Das Erlebnis eines Kino­be­suchs ist wie kein anderes. In den abge­dun­kelten Kinosälen fangen Filme unsere Geschichte ein, bilden uns, beflügeln unsere Vorstel­lungs­kraft und erheben und inspi­rieren unseren kollek­tiven Geist. Es ist unser Vermächtnis.

Lang lebe das Kino!

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Die Diskurs-Wächter in Deutsch­land haben noch viel zu tun. Zwei Monate lang haben sie geschlafen, und erst dann, nach der Wieder­ho­lung ausge­rechnet im dritten Programm des WDR doch noch entdeckt, dass Thomas Gott­schalk und seine Freunde es tatsäch­lich gewagt haben, darüber zu disku­tieren, ob man noch »Zigeu­ner­soße« sagen darf. In den Kreisen der Diskurs-Wächter sagt man das jeden­falls nicht, sondern spricht vom »Z-Wort« analog zum »M-Wort« und zum »N-Wort« – und wenn sie jetzt wirklich nicht wissen, was das ist, liebe Leser, dann müssen Sie es googlen.

Wenn jetzt nicht nur mehr »proble­ma­ti­sche« Worte proble­ma­ti­siert werden, sondern man anfängt, das Proble­ma­ti­sieren solcher proble­ma­ti­schen Worte wiederum zu proble­ma­ti­sieren, oder es gleich zu verbieten, dann wird es langsam nicht mehr lustig. Die WDR-Diskus­sion »Die letzte Instanz« hat – in einem Stil, über den man gewiss streiten kann – die Frage disku­tiert, was für und was gegen den Gebrauch dieses Wortes spricht. Und sie ist zu einem Ergebnis gekommen, das manchen nicht passt. Nämlich, dass es nicht so schlimm ist »Zigeu­ner­sauce« zu sagen und dass unsere Gesell­schaft weißgott gerade wich­ti­gere Probleme hat. Man kann auch dieses Ergebnis blöd finden; aber wäre die Diskus­sion zu einem gegen­tei­ligen Ergebnis gekommen, hätte das auch wieder anderen Leuten nicht gepasst, und auch sie hätten das dann akzep­tieren müssen. Die Diskus-Wächter aber, bei denen es sich im Übrigen eindeutig um eine Minder­heit unserer Gesell­schaft handelt, wenn auch eine sehr laute und mächtige, in den Medien und in der Wissen­schaft sehr gut vernetzte Minder­heit, feuern ihre Breit­seiten ab, und über­ziehen den WDR mit einem Shitstorm, worauf dieser dumm genug ist, wie im Fall der Oma, die im Hühner­stall Motorrad fährt, einzu­kni­cken.
In diesem Fall standen die Diskurs-Wächter rechts­außen, im neuem Fall stehen sie in der linken Mitte – gemeinsam ist beiden Wäch­ter­gruppen das iden­ti­täre Denken, das Denken in Gut-Böse und Freud-Feind-Kate­go­rien.
Leider macht sich das auch die Redaktion des Deutsch­land­radio-Kultur zu eigen. Breit wird da erklärt, warum das Z-Wort tabui­siert gehört. Keine Debatte wird geführt, sondern ein Urteil gespro­chen.

Auch Minder­heiten haben ihre Echoräume, und für die macht Deutsch­land­radio-Kultur offenbar derzeit sein Programm. Nur leider fehlt da neben dem Maß der genaue Blick auf die Sache. Zum Beispiel, dass das »Z-Wort« in jedem anderen Land der Welt ein G-Wort ist, dass selbst­ver­s­tänd­lich auch von den Bezeich­neten als Selbst­be­zeich­nung gebraucht wird: Gypsy, Gitane, Gitano, etc.

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»Wenn man jetzt aus heutiger Sicht Orwells ‘1984' und dessen Idee einer Sprach­ty­rannei liest, wird man fest­stellen, dass uns Befürch­tungen, von einer bösar­tigen, auf allge­meine Herr­schaft getrimmten ominösem Super­macht dominiert zu werden, nicht beun­ru­higen müssen. Uns züchtigt keine Sprach­po­lizei, wir kontrol­lieren uns längst selbst. Um die Sprache zu entschärfen, auszu­blei­chen und zu steri­li­sieren benötigen wir keine Obrigkeit. Eifrig­dumme Sprach­rei­niger und Sprach­rei­ni­ge­rinnen durch­forsten, getrieben von einer imaginären Norm poli­ti­scher Korrekt­heit, das Revier und merzen den Wildwuchs aus. Sie tun dies freilich mit ähnlicher Wut und teilweise ebenso verbissen wie ihre Gegner, die mit Wörtern ohne jede Bindung an Reali­täten, frei von Verant­wor­tung um sich schießen und die Menschen lustvoll ins Verderben reden. Die ›Ordnung des Diskurses‹ ist in Gefahr, verloren zu gehen. Es wäre das Gebot der Stunde, den nahezu verlo­renen dritten Raum zwischen den verhär­teten Posi­tionen kraftvoll zu vertei­digen und die Extre­misten beider Seiten in die Schranken zu weisen.«
Jürgen Wert­heimer, ehemals Professor an der LMU-München, im DLF.

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Die Ankün­di­gung von Netflix Ende des Jahres, ein tradi­tio­nelles lineares Streaming-Angebot für Abon­nenten in Frank­reich zu testen, hat viele über­rascht, aber es gibt einige gute Gründe für diesen Schritt, kommen­tieren Analysten. »Obwohl Netflix seit Jahr­zehnten den Tod des linearen Angebots voraus­ge­sagt hat, habe ich erwartet, dass sie diesen Ansatz irgend­wann einführen werden«, sagt Colin Dixon, Chef­ana­lyst und Gründer von Screen Media: »Es geht effektiv mit der Tyrannei der Wahl um und wird den Leuten helfen, Inhalte zu entdecken, die sie viel­leicht nie gefunden hätten. Es ist eine gute Option für die Zuschauer und nimmt dem On-Demand-Viewing nichts weg.«
Der lineare Kanal mit dem Namen Direct wird eine Mischung aus fran­zö­si­schen, inter­na­tio­nalen und US-ameri­ka­ni­schen Spiel­filmen und TV-Serien anbieten, die auch auf dem Streaming-Dienst verfügbar sind.

Dixon sagte der US-Bran­chen­zeit­schrift Variety, dass Netflix' Messung der Auswir­kungen von Direct wahr­schein­lich die Gesamt­zeit des Zuschauens (erhöht sich diese für die Nutzer?), die Verweil­dauer (wie lange verbringen die Nutzer von Direct damit?), die Abwan­de­rung (bleiben die Nutzer länger bei Netflix?) und die Nutzungs­rate (sehen sie bei den Inhalten, die auf Direct gezeigt werden, einen Anstieg der Zuschau­er­zahlen dieser Sendungen außerhalb von Direct) unter­su­chen wird.

Guy Bisson, Research Director bei Ampere Analysis, ist der Meinung, dass Direct ein logisches Expe­ri­ment ist, das Netflix nichts kostet, da es einfach genug ist, nicht-lineare Programme auf lineare Weise auszu­spielen, ohne dass eine zusätz­liche Eingangs­struktur erfor­der­lich ist.

»Wir vergessen oft, dass das lineare Fernsehen immer noch den größten Teil des täglichen Fern­seh­kon­sums auf der ganzen Welt ausmacht«, sagt Bisson. »Einen Teil dieses Publikums praktisch kostenlos einzu­fangen, ist eindeutig von Interesse, weil es andere Vorteile für das lineare Fernsehen gibt, die Netflix durch das Einfangen dieses Publikums erreichen kann.«

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Die tradi­tio­nellen briti­schen öffent­lich-recht­li­chen Sender sieht die britische Regu­lie­rungs­behörde Ofcom »an einem kriti­schem Punkt«, da die Zuschauer zu den Streamern strömen. Die britische Medi­en­auf­sichts­behörde hat eine deutliche Warnung an die öffent­lich-recht­li­chen Sender (PSBs) BBC, ITV, STV, Channel 4, S4C und Channel 5 heraus­ge­geben: Wenn sie ihre bestehenden Praktiken nicht radikal über­ar­beiten, laufen sie Gefahr, weiter an Streaming- und Online-Dienste zu verlieren.

Ofcoms Studie »Small Screen: Big Debate« ist äußerst lesens­wert. Diese Unter­su­chung des öffent­lich-recht­li­chen Rundfunks in Groß­bri­tan­nien, ergibt, dass im Jahr 2019 nur 38% der Zuschauer unter den 16- bis 34-Jährigen (und 67% unter allen Erwach­senen) auf tradi­tio­nelle Rund­funk­in­halte entfielen. Einer von vier Zuschauern von Streaming-Diensten sagt, dass sie sich vorstellen können, in fünf Jahren überhaupt kein lineares Fernsehen mehr zu sehen, so die Studie.
Um dieses Problem anzugehen, hat Ofcom eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Die aktuellen Regeln und Gesetze rund um den öffent­lich-recht­li­chen Rundfunk stammen aus der Zeit, als das Internet noch in den Kinder­schuhen steckte. Ofcom bittet um Stel­lung­nahmen zu Ände­rungen der Regeln, die sicher­stellen sollen, dass PSB-Inhalte auf verschie­denen Online-Platt­formen über­tragen werden.

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»Da Netflix in Groß­bri­tan­nien und in anderen inter­na­tio­nalen Märkten weiter wächst, wollen wir, dass unsere Unter­neh­mens­struktur diesen Fußab­druck wider­spie­gelt«, hatte ein Unter­neh­mens­spre­cher des Streaming-Giganten im Jahr 2020 gesagt. »Daher werden ab dem nächsten Jahr die in Groß­bri­tan­nien gene­rierten Umsätze in Groß­bri­tan­nien verbucht und wir werden entspre­chend Körper­schafts­steuer zahlen.«

Jetzt – offenbar begüns­tigt durch den Brexit – inves­tiert Netflix massiv in die Produk­tion in Groß­bri­tan­nien, das Budget ist auf eine Milliarde Dollar ange­wachsen. Zu den bereits sehr erfolg­rei­chen, in Groß­bri­tan­nien produ­zierten Serien des Strea­ming­an­bie­ters gehören die globalen Erfolge »The Crown« und »Sex Education«.

Netflix zahlte im Jahr 2019 3,2 Millionen Euro an briti­scher Körper­schafts­steuer. Netflix hat drei Unter­nehmen, die in Groß­bri­tan­nien gelistet sind, sie meldeten einen Umsatz von 120 Mio. Pfund und erklärten einen Vorsteu­er­ge­winn von 13 Mio. Pfund im Jahr 2019. Dies berichtet der Guardian.

Netflix zahlt nur Steuern auf den Gewinn, nicht auf die Einnahmen. In den letzten fünf Jahren hat Netflix rund 50% der Einnahmen in die Produk­tion in Groß­bri­tan­nien reinves­tiert. Das Team von Netflix in Groß­bri­tan­nien ist weiter gewachsen, von 29 festen Mitar­bei­tern im Jahr 2018 auf mehr als 260 im Jahr 2020. Das Unter­nehmen hat in einen lang­fris­tigen Miet­ver­trag für Büro­flächen im Zentrum von London inves­tiert.

Das Markt­for­schungs­un­ter­nehmen Ampere Analysis schätzt, dass Netflix im Jahr 2019 1,28 Milli­arden US-Dollar an Abon­ne­ment­ge­bühren verdient hat.

Die Steu­er­zahlen kommen zu einer Zeit, in der die Orga­ni­sa­tion für wirt­schaft­liche Zusam­men­ar­beit und Entwick­lung (OECD) dabei ist, Vorschläge zur Redu­zie­rung der Steu­er­ver­mei­dung durch multi­na­tio­nale Unter­nehmen zu prüfen. Die Vorschläge werden im Rahmen von zwei Säulen­plänen debat­tiert. Säule 1 befasst sich mit der Änderung von Steu­er­vor­schriften, so dass Unter­nehmen in Ländern Steuern auf der Grundlage der Anzahl ihrer Kunden zahlen würden, und Säule 2 schlägt eine globale Mindest­steuer vor. Es wird erwartet, dass die Vorschläge bis Mitte 2021 in die natio­nalen Entschei­dungs­fin­dungs­phasen der Regie­rungen gelangen. Die Unter­nehmen, die am ehesten von den Ände­rungen betroffen sein werden, sind digitale Unter­nehmen mit globaler Präsenz, darunter Streaming-Anbieter wie Netflix.

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Lustig, über was man sich alles streiten kann: Im Jahr 0 wurde Christus geboren, nicht im Jahr 1 und deswegen beginnt mit seiner Geburt, wenn man an sie glaubt, und mit dem Jahr 0 streng genommen das erste Jahr­tau­send. Und das zweite beginnt im Jahr 1000 und nicht im Jahr 1001. Und deswegen beginnen die 20er Jahre vor etwas mehr als einem Jahr. Aber auch hier wie gesagt, kann man streiten und der Streit kann sogar produktiv sein zwischen Lumières und Méliès zum Beispiel, zwischen Godard und Truffaut und so weiter...

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Poli­zei­liche Tages-Mitt­hei­lungen. Ein brotloser Hand­lungs­diener ist gestern Abend um 11einviertel Uhr vor einem Hause in der Leipziger Straße in seinem Blute gefunden und bald darauf verschieden. In seiner rechten Lende hat er im dicken Fleische eine drei­eckige Wunde, die seiner Aussage nach durch ein Unfall verur­sacht worden sein soll, welches indessen höchst unwahr­schein­lich ist. Ein Amt-Chirurgus hat ihn kurz vor seinem Tode verbunden, und es werden jetzt über den Verlauf der Sache Nach­for­schungen ange­stellt.
Berliner Abend­blätter, den 4ten Dezember 1810

(to be continued)