27.10.2022
Cinema Moralia – Folge 285

Tote können nicht mehr sterben

Schweigend steht der Wald
Zwei Seiten eines Films: Das Plakat von Schweigend steht der Wald in Deutschland (re) und in Frankreich (li)...
(Foto: Alpenrepublik)

Werner Herzog und das Kino jenseits von Filmförderung, Filmkritik, Medienstaatsverträge – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 285. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Will­kommen in der Dunkel­heit/ In der Dunkel­heit
In der Einsam­keit/ In der Trau­rig­keit/ Für die Ewigkeit
Will­kommen in der Wirk­lich­keit
Und wanderst du im tiefen Tal/ Seid ihr bereit?
Und sei Dein Dasein ohne Licht/ Seid ihr soweit?«

– Rammstein

»Ihr werdet sehen, sie lassen uns nicht einmal mehr die Augen zum Weinen.«
– Aus: »Der Leopard«

»Büro­kratie ist immer der erste Feind.«
– Werner Herzog

Seine Bilder waren wie Filme. Film-Noirs. Dabei hat er, im herkömm­li­chen Sinn nie einen Film gemacht. Er hat in Sète gelebt, dem Ort der Maler und des Lichts.
Aber es gab wenige moderne Maler, deren Bilder ähnlich faszi­nie­rend und Kino-artig waren wie die von Perre Soulages. Tief und plastisch, beweglich und flimmernd, flirrend. Man konnte sich in ihnen verlieren. Jetzt ist Soulages, der Mann, der auf allen drei ersten Docu­mentas vertreten war, mit 102 Jahren in Nimes gestorben.

Ein schönes Interview gibt es im Netz und eine ganze Menge Filme bzw. Film­aus­schnitte mit ihm findet man auf YouTube, darunter auch ein Porträt von ARTE.

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Wie wir schon neulich schrieben: die Stimmung ist nicht gut. Inflation, Krieg und auch der Stand des Weltkinos machen die Stimmung nicht besser.
Gleich­zeitig hat man bei vielen Akteuren der deutschen Medi­en­szene den Eindruck, dass sie den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen haben. Oder anders gesagt dass es ihnen immer noch viel zu gut geht.
Jeder kocht immer noch sein eigenes Süppchen, kaum irgendwo wird an einem Strang gezogen, nur höchst selten werden einge­fah­rene Grenzen über­schritten. Ohne all das wird es aber nicht gehen.

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Neulich habe ich über den Produ­zen­ten­ver­band geschrieben. Die gute Nachricht der vorver­gan­genen Woche lautet: Der Produ­zen­ten­ver­band wird nun doch nicht mit der Produ­zen­ten­al­lianz über eine Fusion verhan­deln.
Während ich neulich noch länger über die Aufgaben von Produ­zenten nach­dachte, fiel mir wieder der wunder­bare Nachruf ein, den Michael Althen in der FAZ zum Tod von Bernd Eichinger schrieb. Es war einer der aller­letzten Texte, den Michael geschrieben hatte, bevor er selber viel zu früh starb. Ich weiß nicht, ob er zu diesem Zeitpunkt schon von seiner schweren Erkran­kung wusste. Dass er irgend­etwas davon unbewusst gespürt hat, glaubt man bei diesem Text ganz bestimmt. In diesen Tagen, im Oktober 2022 wäre Michael Althen 60 Jahre alt geworden.

Auch wenn man nicht Film­pro­du­zent ist, lohnt sich die Lektüre seines Textes. Ist man Film­pro­du­zent, dann kann man hier erfahren, was letzt­end­lich diesen Beruf ausmacht: Passion und Risi­ko­be­reit­schaft. Beides auch manchmal jenseits der vernünf­tigen Grenzen.

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Diese Woche startet Saralisa Volms Schwei­gend steht der Wald, ein Film, den man leicht unter­schätzt. Der Unter­schied zwischen den zwei sehr verschie­denen Werbe­pla­katen zu diesem Film in Deutsch­land und in Frank­reich symbo­li­sieren überaus treffend die beiden Film­kul­turen: Platt und bieder gegen bezie­hungs­reich und doppel­deutig.

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Trotzdem kann man hoffen, dass das deutsche Genrekino und Filme, die sich etwas von den didak­ti­schen Konven­tionen des deutschen Film-Main­streams lösen, von Film­starts wie diesem, ermutigt werden. Oder von einem Projekt wie dem, das jetzt die »Mittel­deut­sche Medi­en­för­de­rung« zusammen mit dem Deutsch-Polni­schen Filmfonds (Entwick­lungs-)gefördert hat: Krux der Debütfilm von von Ulrike Tony Vahl. Ein Histo­ri­en­drama, das vom Untergang eines vorpom­mer­schen Dorfs am Ende des Zweiten Welt­krieges beginnt, und das 2023 gedreht werden soll.

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»Das einzige was zählt, ist, was ich auf der Leinwand sehe. Seelen­qualen sind mir völlig egal.«, erzählte Werner Herzog auf dem Film­ge­spräch bei der Viennale, die gerade in Wien statt­findet. Dieses Statement zeigt nicht nur, worauf es tatsäch­lich ankommt im Kino und anderen Künsten, nämlich nicht das Drumherum, nicht Produk­ti­ons­be­din­gungen und auch nicht »Content«, sondern das Sichtbare. Es zeigt auch, wie weit sich Herzog schon von den derzeit herr­schenden Diskursen und den Verhält­nissen, die sie prägen, verab­schiedet hat.

Man kann sie, erst recht in Wien gespro­chen, auch als Kommen­tare zur immer noch unter­gründig weiter­blub­bernden Debatte um Ulrich Seidl begreifen:

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Es ist zum Beispiel voll­kommen egal, ob eine Film­kri­ti­kerin den Eindruck hat, dass es einem Kind bei einer bestimmten Szene in Ulrich Seidls »Sparta« schlecht ging, genauso wie es voll­kommen egal ist, dass ich den Eindruck habe, dass die Kinder bei diesem Dreh Spaß hatten. Wir sind hier beide komplett inkom­pe­tent, und sehen nur, was wir sehen wollen. Wenn ein Kind kurz weint, kann das viele Gründe haben: Es kann unter Umständen einfach sehr gut spielen; es kann geübt haben, kurz zu weinen; es kann auf geschickte Weise vom Regisseur und den anwe­senden Betreuern hervor­ge­rufen sein; es kann müde sein; es kann trau­ma­ti­siert sein. Ist diese letzte vage Möglich­keit ein Grund, alle anderen Möglich­keiten auszu­schließen? Ist sie ein Grund, in Zukunft die Arbeit mit Kindern beim Film massiv zu behindern, sie praktisch in vielem unmöglich zu machen? Vor allem ist sie kein Grund, einem Regisseur retro­spektiv den Prozess zu machen, ihn öffent­lich an den Pranger zu stellen.

Tatsäch­lich geht es in der Kunst mehr um die Kunst, als um das Weinen oder wie Herzog sagt, die Seelen­qualen von Betei­ligten. Sie sind schon deswegen unin­ter­es­sant, weil es auch jenseits der Kunst zu Seelen­qualen kommt, und weil man natürlich das Anliegen haben kann, eine Welt ohne Seelen­qualen zu schaffen. Nur ist dieses Anliegen ziemlich aussichtslos, wie die Erfahrung zeigt.

Auch möchte ich die Frage stellen, ob mit den Seelen­qualen mögli­cher­weise dann auch die Kunst zu Ende ginge? Und ob eine Welt lebens­wert wäre, in der es keine Kunst gibt? Kann ja sein. Kann aber auch nicht sein.

Ich bin jeden­falls Kunst­kri­tiker geworden, weil ich mich lieber mit Kunst beschäf­tige als mit Seelen­qualen. Und mit Seelen­qualen vor allem dann, wenn sie Kunst erzeugen.

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Die anderen Fragen (die nach Produk­ti­ons­be­din­gungen) sind keines­wegs irrele­vant. Irre­le­vant ist es aller­dings, was Film­kri­tiker über sie denken – jeden­falls, soweit es über das ganz private Urteil eines jeden Bürgers und Zuschauers hinaus­geht. Denn wir Film­kri­tiker sind komplett inkom­pe­tent in Bereichen, die Kinder­psy­cho­logie betreffen. Eben­so­wenig sind wir Spezia­listen im Bereich Arbeits­recht, im Bereich Klima­schutz, in Fragen der Ener­gie­si­cher­heit oder in Fragen der richtigen Ernährung. Trotzdem schleicht sich eine Tendenz ein, dass wir Film­kri­tiker uns mit allem möglichen Kram beschäf­tigen, der die Rahmen­be­din­gungen einer Film­pro­duk­tion betrifft – etwa Ernährung, »Green Producing«, Arbeits­recht und neuer­dings auch Kinder­psy­cho­logie – und uns dafür immer weniger mit dem befassen, was eigent­lich allein unsere Expertise und damit auch unsere eigent­liche Arbeit ausmacht: Ästhetik. Filmkunst. Die Frage nach dem Ort eines bestimmten Films in der Kunst­ge­schichte und in der Gegen­warts­kunst, nach dem Verhältnis eines Films zu anderen Filmen, zu anderen Kunst­werken, zur Literatur und natürlich nach dem Verhältnis des Films zu den poli­ti­schen, sozialen, kultu­rellen und insbe­son­dere philo­so­phi­schen und welt­an­schau­li­chen Fragen und Debatten, die die Gegen­warts­ge­sell­schaft gerade so beschäf­tigen.
Des Films, nicht der Produk­ti­ons­be­din­gungen.
Und ja: Ich weiß, dass man beides nicht glasklar trennen kann. Es geht um eine Tendenz.

Mit akti­vis­ti­scher Film­kritik hat das alles sowieso nichts zu tun. Film­kritik, wenn sie sich richtig versteht, ist eher passi­vis­tisch als akti­vis­tisch: Sie lässt den Film kommen; sie lässt sich vom Film sagen, wie dieser Film gesehen werden will, anstatt eine Schablone über diesen Film zu stülpen, die sowieso nicht passt, und die nur wie der Wald funk­tio­niert, aus dem es so heraus­schallt, wie man hinein­ge­rufen hat.
Film­kritik sollte beschei­dener sein, sollte sich auf ihre Kern­auf­gaben konzen­trieren. Anders gesagt: Schuster bleib bei deinen Leisten.

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»'Alle Offen­ba­rungen des sizi­lia­ni­schen Wesens', sagte der Fürst, 'kommen aus krank­hafter Träumerei, auch die heftigsten! Unsere Sinn­lich­keit ist Sehnsucht nach Vergessen; unsere Flin­ten­schüsse und Messer­stiche Sehnsucht nach dem Tod; eine Sehnsucht nach woll­lüs­tiger Unbe­weg­lich­keit – das heißt: wiederum nach Tod – sind unsere Trägheit und auch unsere Eisge­tränke; unsere grüb­le­ri­sche Art richtet sich auf das Nichts, als wollten wir die Rätsel des Nirvana lösen. Etwas Neues zieht uns nur an, wenn es schon verbli­chen ist.'«

Bei anderer Gele­gen­heit sagte Tomaso di Lampedusa, der Verfasser des »Leopard« diesen Satz: »Das eigent­liche Interesse der Literatur sind die verlo­renen Paradiese.«
Diesen Satz kann man getrost auf die ganze Kunst über­tragen, und viel­leicht sollte ihn sich das Kino jeden­falls zu Herzen nehmen: Nur Filme die Imaginäre zeigen, die Phan­ta­sien wecken (und viel­leicht auch schon abbilden) sind es wert überhaupt gemacht zu werden.

Warum sollte die schlichte Wirk­lich­keit inter­es­sant sein? Oder so etwas Banales wie objektive Wahrheit?

Die ist nur viel einfacher zu filmen, als das Paradies oder die Hölle oder andere, ähnlich diskrete Räume.

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Es gibt einen neuen Medi­en­staats­ver­trag, der nach langem hin und her hinter den Kulissen und nach Stel­lung­nahmen der Verbände, die noch immer nur auf eine Weise veröf­fent­licht sind, die eigent­lich einer Nicht­ver­öf­fent­li­chung gleich­kommt, nun sehr plötzlich und ohne weitere öffent­liche Debatte fast schon fertig vorliegt.

Im Juli des kommenden Jahres soll der neue Staats­ver­trag in Kraft treten. Schon vergan­gene Woche wurde mit der Unter­zeich­nung durch die Länder­chefs begonnen. Fast alle Minis­ter­prä­si­denten unter­zeich­neten am letzten Freitag die Änderung des Medi­en­staats­ver­trags, wie die Staats­kanzlei Rheinland-Pfalz auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mitteilte. Demnach werden drei Länder­chefs, die die Minis­ter­prä­si­den­ten­kon­fe­renz in Hannover früher verlassen mussten, ihre Unter­schrift in Kürze noch nachholen. Danach muss der Staats­ver­trag, der zum 1. Juli 2023 in Kraft treten soll, noch sämtliche Länder­par­la­mente passieren.

Man kann sich fragen, ob da überhaupt noch was dran zu ändern ist, und ob er all die vielen klugen Anre­gungen der um Anregung gebetenen Verbände und Branchen Teil­nehmer und auch einfacher Bürger bzw. Zuschauer berück­sich­tigt.
Das scheint aber unbedingt nötig zu sein, um die gras­sie­rende, alle paar Wochen aufkom­mende Debatte über den öffent­lich-recht­li­chen Rundfunk zu befrie­digen. Affären wie die beim rbb sind für den schlei­chenden Vertrau­ens­ver­lust weniger gefähr­lich, als der durch eindeu­tige Umfragen in der breiten Bevöl­ke­rung gras­sie­rende Eindruck – egal ob der nun sachlich zutref­fend ist oder nicht – die Medien würden nur selektiv berichten, man könne nicht unge­straft »alles sagen«, die Medien seien zu regie­rungs­nahe, zu konfor­mis­tisch, zu unkri­tisch, zu staats­tra­gend und würden über viele Themen, etwa die Corona Pandemie oder den Ukraine Konflikt nur einseitig berichten.

Jetzt, in den letzten Tagen, ist plötzlich die Rede von einem »Medi­en­kon­vent«, der vor allem von den noto­ri­schen Kritikern des öffent­lich-recht­li­chen Rundfunks flehent­lich herbei­ge­sehnt wird.

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Es ist Herbst, es ist wieder viel los. Wir bleiben dran.

(to be continued)