14.12.2023
Cinema Moralia – Folge 311

Der London Komplex

Tricia Tuttle (2022)
Die Überraschung zumindest ist Claudia Roth geglückt... (Tricia Tuttle 2022)
(Foto: Raph_PH · CC BY 2.0)

Tricia wer? Erste Anmerkungen zur nächsten Leitung der Berlinale – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 311. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Irgend­etwas muss es sein, das Berlin mit London verbindet; zumindest in den Augen der Kultur­funk­ti­onäre, die über Posten entscheiden. Denn es ist langsam erklärungs­be­dürftig, warum es immer wieder Menschen sind, die nicht in England oder Groß­bri­tan­nien, sondern in London arbeiten, und die auch nicht notwendig Engländer oder Briten sind, die nach Berlin geholt werden, um irgend­eine kultu­relle Insti­tu­tion vor dem Untergang zu retten. Und die sehr regel­mäßig dabei scheitern.

So war es mit Ben Gibson und der DFFB. So war es mit Chris Dercon und der Volks­bühne. So war es mit Neil McGregor und dem Humboldt-Forum.
Und so wird es, dies ist mein Verdacht, den ich hier und heute (viel zu früh natürlich) äußern möchte, auch mit Tricia Tuttle sein.

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Tricia wer? Die Über­ra­schung zumindest ist Claudia Roth geglückt. Als kurz nach 12 Uhr am Diens­tag­vor­mittag die ersten Meldungen durchs Internet purzelten, fingen alle Vertreter der inter­na­tio­nalen Filmwelt an, zu googeln.
Dann wurde klar: Tricia Tuttle, eine 53-jährige Ameri­ka­nerin, die mal in einer Indie-Rockband gespielt hatte, und in den letzten zehn Jahren in London gelebt, zuletzt von 2019-2022 als Leiterin des Londoner Film­fes­ti­vals, wird neue Chefin der Berlinale.
Es wurde viel disku­tiert, aber dieser Name fiel nie: Tricia Tuttle. Viel­leicht hat das doch seine Gründe.

Ob es klug ist, jemanden zu nehmen, dessen Ernennung im aller­ersten Moment mal befrem­dete Reak­tionen verur­sacht und dann ein »äääähhh... wer ist denn das?«, darf bezwei­felt werden.

Danach kamen schnell die Bewer­bungs­likes der üblichen Verdäch­tigen und all der Schleimer, die noch fünf Minuten zuvor nicht wussten, wer es ist und dann posteten: »Wie toll! Eine phan­tas­ti­sche Entschei­dung«

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Kann ein Prozess, der so falsch begonnen hat, gute Ergeb­nisse schaffen? Über den schlechten Entschei­dungs­pro­zess haben wir gespro­chen: Keine Ausschrei­bung, keine öffent­lich benannten Kriterien, eine »Findungs­kom­mis­sion«, die höchst einseitig und mangel­haft besetzt war, keine Trans­pa­renz, auch nicht über Suche, Findung, Kandi­daten, Entschei­dung.

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Die Aufgaben und Heraus­for­de­rungen der Berlinale haben sich nicht verändert, es ist alles im letzten Jahr nur noch schlimmer geworden: Der Ruf des Festivals und der Stel­len­wert des Festivals, die Frage, wo dieses Festival im Konzert der anderen Großen steht, ist das eine. Dagegen steht der Anspruch der Berlinale, »Publi­kums­fes­tival« zu sein, eine Propa­gan­da­formel, die Dieter Kosslick, der eigent­liche Zerstörer der Berlinale als rele­vantes A-Festival, allzu erfolg­reich in die Welt und die Entschei­der­köpfe gesetzt hat. »Publi­kums­fes­tival« heißt in der Praxis: Zuschauer machen, Einnahmen machen, Quote, auch auf Kosten der Programm­qua­lität. Es heißt, popu­lis­tisch zu sein. Tuttle ist bestimmt eine Popu­listin und die Frage ist ernst­ge­meint, was daran gut und was daran schlecht sein könnte. Sie wird jeden­falls deswegen gewollt, weil sie etwas fürs Publikum getan hat: Schwellen gesenkt, gestreamt, Filme kostenlos nach­ge­spielt. Auf Deutsch: Sie hat die Qualität des Spielorts Kino beschä­digt.
Aber ist es wirklich wichtig, dass das Publikum glücklich ist? Oder eher dass der richtige Film beim Festival läuft?

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Sie kommt vom Manage­ment her, tat viel für Netflix und LGTBQ, quasi etwas für alle Seiten des neoli­be­ralen Komplex.

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Ist es eigent­lich gut, dass Tricia Tuttle nicht in den üblichen Bubbles unterwegs ist? Und wissen wir das überhaupt wirklich, oder ist sie nur in unseren Bubbles nicht unterwegs?

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Sie ist eigent­lich schwach, denn sie hat keine Hausmacht. Nicht in der Industrie, nicht in Berlin. Sie kennt die Berlinale nicht, und die Berlinale kennt sie nicht. Auch Berlin kennt sie nicht, und das Argument, das gegen ihren Vorgänger vorge­bracht wurde, dass er nämlich auch nach vier Jahren kaum Deutsch kann, das wird einst­weilen auch gegen sie vorge­bracht werden.
Ihre Position ist keines­wegs benei­dens­wert. Viel­leicht wollte man aber genau das im BKM: Viel­leicht wollte man eine »schwache« Person, eine, die gegen das BKM nicht gegen­halten kann, eine, die »formbar« ist, die Anwei­sungen folgt, für die dieser Job die Chance ihres Lebens ist.
Andere mögliche Kandi­daten wären keines­wegs schwach gewesen. Die Frage ist, ob es ein Pluspunkt ist, dass sie von außen kommt, denn sie spielt nicht auf Augenhöhe mit den Barberas und den Frémaux und den ganzen anderen. Das gefällt zwar manchen, aber auf die kommt es nicht an, und selbst sie werden sofort anders denken, wenn sie selbst unter dem weiteren Sinkflug der Berlinale leiden.

Am Ende geht es nur darum, wie die Berlinale performt. Und bei der Perfor­mance der Berlinale in der Film­com­mu­nity inter­es­siert sich niemand dafür, ob die Leiterin nett ist, oder ob sie eine Außen­sei­terin ist; man inter­es­siert sich nur für die Perfor­mance.

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Es wird auch für sie darum gehen, Politik zu machen und zwar Politik im tradi­tio­nellen Sinn. »Sie muss Verant­wor­tung abgeben«, sagen jetzt viele, vor allem jene, die immer dann Angst bekommen, wenn einer allein etwas bestimmen darf. Das ist einer­seits richtig, denn die Frau wird nicht alles machen können, insbe­son­dere nicht die Film­aus­wahl komplett persön­lich verant­worten.
Ande­rer­seits muss sie genau das tun. Sie muss ein Alphatier sein, sie muss eine Super­heldin sein. Denn wie ein Fußball­trainer wird am Ende sie nach den Ergeb­nissen gemessen werden, nicht der Assis­tenz­trainer, nicht der Scout, nicht der, der im Hinter­grund viel­leicht irgend­welche Stra­te­gie­ge­spräche führt. Das alles inter­es­siert niemanden, es inter­es­siert nur, wer dem Ganzen vorsteht, wer die Direk­torin ist. Sie wird ihren Kopf hinhalten müssen, und im Miss­erfolgs­fall wird dieser Kopf rollen.

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Zuerst rollten andere Köpfe: Minuten nach der Meldung befrem­dete die Nicht­ver­län­ge­rung des Vertrags von Dennis Ruh, des Chefs des Film­markts.
Andere Verträge wurden, wie man hört, über 2024 hinaus verlän­gert. Aber warum?
Man fragt sich schon, warum jemand der auch nicht mal richtig im Amt ist, schon Entschei­dungen trifft und vor allem Perso­nal­ent­schei­dungen und Verträge nicht verlän­gert?

Dass das alles – wie immer wenn Claudia Roth etwas anpackt –, auch mal wieder ein Kommu­ni­ka­ti­ons­de­saster der tram­pe­ligen, nur von sich selbst begeis­terten Kultur­staats­mi­nis­terin ist, sei nur erwähnt.