05.01.2023
Cinema Moralia – Folge 291

»Ich bin hier. Ich bleib hier. Und fuck you!«

Bones and All
Dieser Film hat uns auf gute Weise niedergerungen: Bones and All
(Foto: Warner Bros.)

Ein erster rückblickender Streifzug durchs Kinojahr 2022 – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 291. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»seht in den spiegel: feig,
scheuend die mühsal der wahrheit,
dem lernen abgeneigt, das denken
über­ant­wor­tend den wölfen,
der nasenring euer teuerster schmuck,
keine täuschung zu dumm, kein trost
zu billig, jede erpres­sung
ist für euch noch zu milde.«
Hans Magnus Enzens­berger: vertei­di­gung der wölfe gegen die lämmer

Dass es diesen Film überhaupt gibt. Wunder­bares deutsches Kino, und heute plötzlich auch ein Kommentar zur letzten Silves­ter­nacht und jenen Ereig­nissen, die tatsäch­lich unent­schuldbar sind, und doch anders und diffe­ren­zierter erklärt werden müssen, als man das gerade tut.

Cem Kayas Ask, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod ist für mich einer der besten, wenn nicht wahr­schein­lich sogar der aller­beste deutsche Film des letzten Jahres: Voller Leiden­schaft und Inten­sität, sehr humorvoll und dabei ungemein schmerz­haft! Mir sind die Tränen gekommen, mehr als einmal, sowohl, weil das Gefühl und die Sympathie einen übermannt, aber auch aus Scham für das, was die Deutschen all denen angetan haben, die sie je nachdem Gast­ar­beiter, Ausländer oder Kanaken genannt haben.
Ich glaube, dieser Film hat in jeder Hinsicht noch mehr öffent­liche Aner­ken­nung verdient. Es ist mir ein Rätsel, warum so etwas nur beim DOK.fest München (Pardon, Freunde!) Premiere hatte, nicht bei der Berlinale oder DOK Leipzig, aber viel­leicht gibt es dafür Erklärungen.

[Anmerkung der Redaktion: Die Premiere war auf der Berlinale, Sektion Panorama, wo der Film mit dem Publi­kums­preis ausge­zeichnet wurde.]

Dieser Film ist auch eine Erin­ne­rung an die alte Bundes­re­pu­blik, an D-Mark-Zeiten, eine Art des Überfluss und des Hedo­nismus, der nur vor dem Hinter­grund des Mangels möglich ist, nur vor dem Hinter­grund einer Gesell­schaft in Bewegung und nicht in einer fest­ge­fügten neurei­chen Gesell­schaft wie der unsrigen, jetzigen Berliner Republik.
Zeiten, die kein morgen kannten, nur Arbeit; Zeiten, in denen Kartons von Cham­pa­gner und Raki gebechert wurden.

Am meisten rühren die Kinder der Gast­ar­beiter. Einer sagt mal: »Als wir doch geblieben sind, war unsere Jugend vorbei.«
Zugleich empfindet man Empörung über Rassismus und Türken­feind­lich­keit. Zorn und Hass mancher Migran­ten­kinder sind vers­tänd­lich ange­sichts dieser Geschichte.
Ein Jüngerer bringt das Bewusst­sein seiner Alter­ge­nossen auf den Punkt: »Ich bin hier. Ich bleib hier. Und fuck you!«

+ + +

661 Neustarts gab es im vergan­genen Jahr, damit war 2022 fast schon wieder das schlimme Normalmaß des deutschen Kinos. Je mehr Filme, desto weniger Kassen­er­folge, am Überfluss dieser Art geht das Kino zugrunde, und doch ist dieser Überfluss, die vielen Film­starts, nur eine Folge der Ausdif­fe­ren­zie­rung einer diversen Gesell­schaft.
Rechnet man die Pandemie der ersten Monate noch mit ein, in denen insgesamt viel weniger Filme starteten – »nur« 138 Filme in den ersten drei Monaten – dann gab es eher mehr Starts als vor der Pandemie. Einschrän­kend kann man allen­falls sagen, dass es eine riesige Menge Wieder­auf­füh­rungen gab.

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Der Monat mit den meisten Film­starts im Jahr 2022 war der vergan­gene November mit 73. Knapp dahinter liegen September und Oktober. Die Woche mit den meisten Film­starts war die letzte Novem­ber­woche mit 22 Starts.
Im Durch­schnitt starteten jede Woche 12,7 Filme.

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Die besten von ihnen waren für mich (in wertender Reihen­folge):

Elvis Regie: Baz Luhrmann
Atlantide Regie: Yuri Ancarani
Petite Maman Regie: Céline Sciamma
Mona Lisa and the Blood Moon Regie: Ana Lily Amirpour
Verlorene Illu­sionen Regie: Xavier Giannoli
Ask, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod Regie: Cem Kaya
Triangle of Sadness Regie: Ruben Östlund
Vortex Regie: Gaspar Noé
Medusa Regie: Anita Rocha da Silveira
Sonne Regie: Kurdwin Ayub
EO Regie: Jerzy Skoli­mowski
To the Ends of the Earth Regie: Kiyoshi Kurosawa
Belle Regie: Mamoru Hosoda
Leander Haußmanns Stas­ikomödie Regie: Leander Haußmann
Schwei­gend steht der Wald Regie: Saralisa Volm
Zeiten des Umbruchs Regie: James Gray

Auch sehr gut waren:
An einem schönen Morgen Regie: Mia Hansen-Løve
Das Ereignis Regie: Audrey Diwan
Sundown Regie: Michel Franco
A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe Regie: Nicolette Krebitz
Vaters­land Regie: Petra Seeger
Niemand ist bei den Kälbern Regie: Sabrina Sarabi
Come on, Come on Regie: Mike Mills
Als Susan Sontag im Publikum saß Regie: RP Kahl
Der beste Film aller Zeiten Regie: Mariano Cohn, Gastón Duprat
Bones and All Regie: Luca Guad­a­gnino
Eine Frau Regie: Jeanine Meerapfel

Zu allem Weiteren das nächste Mal.

(to be continued)