23.03.2023
Cinema Moralia – Folge 298

Gefühlte Wahr­heiten...

La bête de la jungle
Eröffnungsfilm der Grazer Diagonale: La bête dans la jungle
(Foto: Patric Chiha | Diagonal Graz)

Das Geschäft des Kinos, der Kunst, im besten Fall nicht der Politik: So muss Festival sein! Verteidigung der Graustufen und anderes zur Eröffnung der Diagonale in Graz – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 298. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Die Kritik der gegen­wär­tigen Produk­tion richtet sich mithin keines­wegs ausschließ­lich gegen die Industrie, sie wird genauso an der Öffent­lich­keit geübt, die dieser Industrie sich auszu­leben erlaubt. Mitge­fangen, mitge­hangen – das gilt hier im strengen Sinn.«
Siegfried Kracauer: »Der heutige Film und sein Publikum«, 1928

»Kultur­kritik teilt mit ihrem Objekt dessen Verblen­dung.«
Th. W. Adorno: »Prismen – Kultur­kritik und Gesell­schaft«

»'Sammle den Untergang' hieß es unlängst, es klang wie ein Gebot. Das möchte ich nicht. Wenn es eine Bitte wäre, so wäre sie zu überlegen, aber Gebote jagen mir Angst ein.«
Ilse Aichinger: »Schlechte Wörter«

Prismen – das Licht ist gebrochen und strahlt in allen Regen­bo­gen­farben, das Material ist grob, in den ersten Momenten denkt man, hier hat jemand Found Footage zusam­men­ge­tragen, Doku­men­tar­filme aus den 70er, den 60er, viel­leicht sogar den 50er Jahren. Ziegelrot leuchtet New York City, es ist eine andere Stadt als die saubere, aufgeräumte Metropole, die wir heute kennen. Es ist die Stadt von Filmen wie Cruising und Brenn­punkt Brooklyn. Eine andere Ära – das leitet den Abend ein auf eine Weise, mit der man in diesem Moment noch gar nicht rechnen kann.
Es sind dann doch Bilder von heute, das Licht steht schräg in ihnen und es ist 16 Milli­meter-Material, das der kurze Film »NYC RGB« von Viktoria Schmid zeigt, mit dem der Eröff­nungs­abend der Diagonale ‘23 losgeht.

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Die Schönheit der Bilder, die zum Prisma für alle möglichen indi­vi­du­ellen Sehn­süchte werden, wird abge­nommen und weiter­ge­führt, entfaltet von der Eröff­nungs­rede des Inten­dan­ten­duos. »… und am Ende die Silhou­ette des ikoni­schen Empire State Building. Ein neuer Tag beginnt, die Zeit nimmt ihren Lauf. Wenn uns ein Licht­strahl von Graz aus nach New York mitnehmen kann, dann sind wir im Kino.«

Es ist nicht die letzte Diagonale, aber es ist die letzte von Sebastian und Peter, also von Peter Schern­huber und Sebastian Höglinger, die nach acht kurz­wei­ligen, pande­mie­be­dingt langen, begeis­ternden Jahren aufhören.

Noch einmal zeigen die beiden in dieser Eröff­nungs­rede und mit dieser Eröffnung, was sie immer am aller­besten konnten: begeis­tern, verbinden, entfes­seln, popu­la­ri­sieren im aller­besten Sinn des Wortes, nämlich Popmo­mente schaffen, also Intel­li­genz und Sexyness, Film und Musik, Gefun­denes und Erfun­denes und das Wissen darum, dass es nichts Neues gibt, mit dem ganz inno­va­tiven und die Inno­va­tion perfor­mativ perfekt zusam­men­führen.

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»Das Aufre­gende am Kino ist ja viel­leicht, dass wir hier in dieser portio­nierten Moment­ge­mein­schaft alle die gleiche Postkarte erhalten und doch mögli­cher­weise einen ganz anderen Film gesehen haben. Denn im Kino liegen indi­vi­du­elles Fühlen und kultur­in­dus­tri­elles Kalkül so nah beiein­ander wie kaum woanders. Was indi­vi­duell gefühlt werden soll, wird häufig minutiös geplant, gewiss ist jedoch nichts – wirklich niemals –, und stets bleibt eine Lücke. Gefühlte Wahr­heiten sind das Geschäft des Kinos und der Kunst, im besten Fall nicht jenes der Politik«, so heißt es dann.

Und weiter geht es um das Vermögen des Kinos, uns aus dem »oft allzu einge­zä­unten Schre­ber­garten« heraus­zu­reißen in die Perspek­tiven und Erleb­nisse der Anderen. Sie reden von Sehn­suchtsorten, Kulissen, Aben­teuern, Liebes­be­kun­dungen, auch dem Grauen. Gefeiert wird die Dissonanz des Kinos, die »der eigenen Engstir­nig­keit und Klein­ka­riert­heit den Marsch bläst.«

Kinos sind poli­ti­sche Orte, Orte, an denen wir unseren Alltag abstreifen oder in Relation zu etwas anderem, viel­leicht noch nicht Gekanntem setzen. Aber – auch das hat die Geschichte gezeigt – Kinos sind auch Orte, an denen sich Norma­lität erhärten und vorgeb­liche Gewiss­heit fort­ge­schrieben werden kann.

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Im besten Fall, so verstehe ich die beiden, ist Kino der Ort, an dem ein anderes Zeichen­system geboren wird. Es muss nicht unbedingt ein gemein­sames Zeichen­system sein. Kann es aber: »Erlauben Sie uns, hier etwas auszu­holen: Sie werden andere Filme schauen als wir. Weniger öster­rei­chi­sche vermut­lich. Sie werden andere Bücher lesen und andere Musik hören. Und dennoch, so hoffen wir, werden wir alle – auch wenn wir noch so unter­schied­lich sein mögen – gemein­same Nenner ausmachen: Dinge, die unserem kollek­tiven Gedächtnis einge­schrieben sind, Erfah­rungen, die wir nicht nur indi­vi­duell, sondern als Gesell­schaft gemacht haben, auf denen wir aufbauen, wenn wir die Welt zu begreifen versuchen.«

So macht Kino Gesell­schaft. Und so macht ein Festival Kino.

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»Prismen – Kultur­kritik und Gesell­schaft.« Bei Adorno heißt es: »Ginge man aber dem Beruf des Kritikers in der bürger­li­chen Gesell­schaft nach, der schließ­lich zum Kultur­kri­tiker avan­cierte, so stieße man fraglos auf ein usur­pa­to­ri­sches Element im Ursprung, wie es etwa noch Balzac vor Augen stand. Die berufs­mäßigen Kritiker waren vorab 'Bericht­erstatter': sie orien­tierten über den Markt geistiger Erzeug­nisse. Dabei erlangten sie zuweilen Einsicht in die Sache, blieben stets jedoch auch Agenten des Verkehrs, im Einver­s­tändnis wo nicht mit dessen einzelnen Produkten so doch mit der Sphäre als solcher.«

Jeder Film ist Kritik und Kritiker in diesem Sinn. Jedes Festival. Anders geht es nicht.

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Eine Ode an die Club­kultur, inspi­riert immerhin von Henry James, der dem Kino schon einige leiden­schaft­liche oft genug melo­dra­ma­ti­sche Stoffe geschenkt hat. In diesem Fall The Beast of the Jungle, der zweite Eröff­nungs­film des Abends. Auch dort ist die Sehnsucht Kern und Quint­essenz: eine Sehnsucht wider alle Wider­s­tände und alle Vernunft.

Patrick Chihas Ode an die Club­kultur von den 70ern bis in die 2000er. Alles beginnt mit Jugend­li­chen wieder in 16mm-Nostalgie. 1979 irgendwo in Paris. Hoch­ha­ckige Damenfüße stöckeln in High Heels und roten Strümpfen über verreg­neten Asphalt, vier Menschen stehen Schlange vor einem Club. Die Türste­herin – großartig verkör­pert von der zwischen geis­ter­hafter Nacht­ge­stalt und realer Rand­exis­tenz chan­gie­renden Beatrice Dalle – scannt die Nacht­schwärmer und gewährt dem Quartett Einlass. Der Film feiert die Nacht, die Club­kultur den Teufels­pakt mit ihr.
Ein ganz erstaun­li­cher Film! Denn so etwas wäre undenkbar in Deutsch­land: ein Film in fran­zö­si­scher Sprache, der, wenn überhaupt irgendwo auf dieser Welt, dann jeden­falls nicht im Herkunfts­land des Films, in Öster­reich, sondern in Paris spielt. In einem imaginären Paris, das alle möglichen Filme, auch die, mit denen Beatrice Dalle berühmt wurde, zusam­men­denkt mit Phan­ta­sien, die zurück­rei­chen zu Jean Cocteau und Georges Franju, ins Paris der »Miséra­bles« und zur Jako­bi­ner­ju­gend der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion und zu Gift­mi­scher­ro­manen um das Fräulein von Scuderi.
Ein fiebriger Diagonale-Eröff­nungs­film, der schon im Berlinale-Panorama spaltete, ein Stück globales Kino, das kontro­vers ist und so sein soll, das provo­ziert und heraus­for­dernd ist, rätsel­haft, mythisch und von schwarz-glän­zender Dunkel­heit.

»Es ist immer alles möglich«, heißt es da. Und »Man muss tanzen, das kann uns niemand nehmen«. Das ist fast schon »Frauen, Leben, Freiheit«.

Lassen wir uns beide Sätze nicht nehmen.

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»Zweifel und Grau­stufen sind aus der Mode gekommen. Von der eigenen Meinung abzu­schweifen liegt längst nicht mehr im Trend.«, sagten Peter und Sebastian dann noch.
Es ist klar: Ein Festival und jeder Film sind dazu da, Zweifel und Grau­stufen zu vers­tärken. Will­kommen auf der Diagonale!

(To be continued)