02.05.2024
Cinema Moralia – Folge 323

artechock stands with Oberhausen

Civil War Film
Lieber Chantal im Märchenland als Civil War: Deutschland hat kein Interesse an komplizierten Debatten...
(Foto: DCM)

April war der grausamste Monat... Die Kurzfilmtage eröffnen mit Bazon Brock und Alexandra Schauer, Unterstützung kommt diesmal sogar von der antifa. Und was wir tun, damit die amerikanischen Zustände nicht nach Europa überschwappen – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 323. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»The sea was calm, your heart would have responded
Gaily, when invited, beating obedient
To control­ling hands
I sat upon the shore
Fishing, with the arid plain behind me
Shall I at least set my lands in order?
London Bridge is falling down falling down falling down
...
These fragments I have shored against my ruins«

– T. S. Eliot

»Hört auf, dies einen 'fried­li­chen Protest' zu nennen. Die Protes­tie­renden drohten uns zu töten. Sie sagten uns 'geht zurück nach Deutsch­land'. Sie sangen 'all of Palestine is Arab'. Sie riefen nach einer Intifada.
Wenn ihr keine mili­ta­ri­sierte Antwort wollt, dann beendet den Anti­se­mi­tismus.«

– Aufschrift auf einem Plakat, das eine jüdische Studentin der New Yorker »Columbia Univer­sity« in der vergan­genen Woche trug, in mehreren CNN-Repor­tagen des 26.April zu sehen.

Wir stehen zu Ober­hausen. Und wir stehen in Ober­hausen. Gleich zu zweit sind Dunja Bialas und ich vor Ort präsent und einge­bunden ins Programm, in die Debatten über die neue »Sehnsucht nach Wider­spruchs­frei­heit« und die wichtige Frage »Wozu Festivals?«, die hier in den nächsten sechs Tagen debat­tiert werden – nicht nur aus Anlass des 70. Jubiläums der Kurz­film­tage.
Aus Über­zeu­gung, denn die Fragen stoßen ins Herz heutiger Debatten. Man könnte auch fragen: Wozu (heute) Film­fes­ti­vals? Oder: Wozu (noch) Film­fes­ti­vals?

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Am heutigen Mittwoch gab es den Auftakt mit dem immer wieder groß­ar­tigen »Künstler ohne Werk« Bazon Brock. Der skiz­zierte die gegen­wär­tige Kultur­szene des Westens als »zwischen Bekennt­nis­zwang und Bekennt­nis­ekel« gefangen, als eine »Rebar­ba­ri­sie­rung«: »Die Künste spielen überhaupt keine Rolle.« Man sehe es auch an den Vorgängen, die sich gegen­wärtig in den US-ameri­ka­ni­schen Univer­si­täten abspielen (siehe unten): »Die Arbeit der Studie­renden als Künstler spielt gar keine Rolle. Sie sehen sich nur noch als Mitglied von Kultur­kol­lek­tiven.« Brock holte weit aus und ging zurück bis in die Zeit der Renais­sance, in der das Indi­vi­duum aus den Kultur­kol­lek­tiven des Mittel­al­ters heraus­trat und lernte, für sich selbst zu sprechen. Zwar wisse jedes Kultur­kol­lektiv mehr, aber erst Indi­vi­duen machen dieses Wissen aktiv.
So entstand die Idee des Autors als eines autonomen Einzelnen. Gerade weil hinter dem Einzelnen nichts steht, kein Volk, kein Kollektiv, trägt er selbst Verant­wor­tung. Und gerade deswegen wird seine Ohnmacht politisch. Sie bildet den Ausgangs­punkt zur Durch­set­zung von Argu­menten. Die Autorität der Autoren entsteht durch Ohnmacht.

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Brock zitierte Jürgen Habermas: »Bürger ist nur, wer mehr vertritt als sich selbst«. Heute sei der ein Bürger, der seine Inter­essen vertritt. »Das ist völlig absurd.« Seine Inter­essen vertritt jeder von Natur aus. Fazit: Es gibt keine Bürger mehr.
Bazon Brock beschrieb hier nichts Gerin­geres als eine Einübung in den Bürger­krieg, den er in den west­li­chen Gesell­schaften erlebt.

Ein viel­ver­spre­chender Auftakt.

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Letzte Woche schrieb ich an dieser Stelle: »Der Kultur­kampf ist da. Die deutsche Gesell­schaft muss ihn führen.«

Für diesen Kultur­kampf gibt es kein besseres Beispiel als die Vorkomm­nisse in den letzten Monaten rund um die Kurz­film­tage. Denn es wurden Unter­schriften gesammelt – gegen die Kurz­film­tage als Ganzes und persön­lich gegen Lars Henrik Gass, der seit 1997 als Leiter der Ober­hau­sener Kurz­film­tage amtiert. Sie riefen zum Boykott der Kurz­film­tage auf, sie posteten wüste Diffa­mie­rungen gegen das Festival – seit Mitte Oktober 2023 posi­tio­niert sich ein margi­naler, aber um so laut­stär­kerer Teil der inter­na­tio­nalen Filme­ma­cher und Kura­to­ren­szene gegen die Ober­hau­sener Kurz­film­tage. Einige Filme­ma­cher zogen sogar bereits einge­sandte Film­bei­träge wieder zurück – ein bizarrer Fall von Selbst-Cancel­ling.

Es ist der neueste Akt eines Dramas, das spätes­tens seit der »Documenta 15« des Jahres 2022 in Deutsch­land aufge­führt wird, und eine neue Runde im anti­se­mi­ti­schen Hexen­sabbat, der die deutsche Kultur­szene seit einem guten halben Jahr heimsucht.

Das alles nur deshalb, weil Gass wenige Tage nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023, bei dem – man muss immer wieder daran erinnern – über 1200 Juden in Israel auf brutalste Art nieder­ge­met­zelt wurden, auf dem Facebook-Account der Kurz­film­tage dazu aufge­rufen hat, an einer der ersten Berliner Demons­tra­tionen zur Soli­da­rität mit Israel und gegen den damals in Deutsch­land wieder­auf­flam­menden offenen Anti­se­mi­tismus teil­zu­nehmen: »Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamas-Freunde und Juden­hasser in der Minder­heit sind. Kommt alle! Bitte!« Diese letzten Sätze bezogen sich auf die offenen Sympa­thie­be­kun­dungen und das Verteilen von Süßig­keiten und Gebäck auf Neuköllner Straßen durch in Neukölln ansässige Araber, die das Massaker ganz offen feierten. Gass hat danach immer wieder kriti­siert, dass er wenig Unter­s­tüt­zung aus der Film- und Festi­valszene, von gesell­schaft­li­chen Gruppen und der Politik erhalten habe. Man muss hier nicht in allem zustimmen, um in der Art, wie über die Kurz­film­tage wie und von wem geschrieben und gespro­chen wird, durchaus ein System der Instru­men­ta­li­sie­rung zu erkennen – der Instru­men­ta­li­sie­rung für und gegen die Inter­essen derje­nigen, die schreiben oder die es eben nicht tun.

Und es gibt zu wenig Unter­s­tüt­zung.

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Gass erklärt die Boykott­auf­rufe damit, dass der öffent­liche Druck und das Druck­po­ten­tial der »Pro-Paläs­ti­nen­ser­szene« in linken Kultur­kreisen gegen Insti­tu­tionen hoch ist, wenn diese sich gegen Anti­se­mi­tismus einsetzen. »Das ist bestür­zend, weil so die Kampa­gnen­in­itia­toren mit ihren Methoden erfolg­reich sind. Sie versuchen Angst zu erzeugen und erreichen ihr Ziel.«

In jüngster Zeit, kurz vor dem Start der sechs­tä­gigen Kurz­film­tage, hat sich dies aller­dings in einigen Bereichen geändert. Nun springt ihm aus der linken Szene beispiels­weise das Bündnis »Es reicht! Ober­hausen soli­da­risch gegen Rechts« bei: in einer schrift­li­chen Mittei­lung bedanken sich die Anti­fa­schisten beim Festi­val­leiter und seinem Team, dass diese Boykott­auf­rufen, Beschimp­fungen und Protesten Stand gehalten haben.
Für das Team gilt diese Einschät­zung aller­dings nach Telepolis-Infor­ma­tionen nur einge­schränkt. Es gab hier sehr viel Kritik und unter der Hand auch unso­li­da­ri­sche Aktionen aus dem Team gegen den Festi­val­leiter. Das linke Bündnis bezeichnet die Kampagnen und Shit­s­torms der »inter­na­tio­nalen Palästina-Soli­da­ri­täts­blase« gegen die Kurz­film­tage als anti­se­mi­tisch. »Jetzt gilt es die Kurz­film­tage nicht alleine zu lassen. Wir appel­lieren an alle anti­fa­schis­ti­schen und demo­kra­tisch-zivil­ge­sell­schaft­li­chen Gruppen und Akteur*innen, zeigt euch soli­da­risch mit den Kurz­film­tagen! Nutzt die Chance, schaut euch den ein oder anderen Filmblog an und sollte es zu Provo­ka­tionen von Hamas-Sympa­thi­sant*innen kommen, überlasst ihnen nicht die Deutungs­ho­heit.«

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An diesem Montag wurde bekannt, dass Gass eine hohe Auszeich­nung der »Deutsch-Israe­li­schen Gesell­schaft« (DIG) erhält: ihm wird in Würdigung seiner beson­deren Verdienste um die Deutsch-Israe­li­schen Bezie­hungen die »Ernst-Cramer-Medaille am 8. Juni im Berliner Rathaus verliehen. Die DIG begründet diese Ehrung in einer Pres­se­mit­tei­lung so: ›wir ehren Lars Henrik Gass für seine Zivil­cou­rage, seinen Anstand und für sein Rückgrat ange­sichts des anti­se­mi­ti­schen Ressen­ti­ments: als der jüdische demo­kra­ti­sche Staat und seine Menschen vom elimi­na­to­ri­schen Anti­se­mi­tismus der Hamas ange­griffen wurden, zeigte er Flagge für Mensch­lich­keit und gegen Judenhass. Wer die Diskus­sion um die documenta und den Isra­el­boy­kott im Kultur­be­trieb verfolgt hatte, weiß, dass diese huma­nis­ti­sche Klarheit nicht ohne Risiko war.‹«

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Es gibt auch sonst Merk­wür­diges zu berichten über den Stand der Dinge. Robert Zion hat auf Facebook darauf aufmerksam gemacht, dass der hervor­ra­gende Civil War in den aktuellen Kino­charts in vielen Ländern auf Platz 1 oder 2 liegt, zum Beispiel USA Platz 1, Frank­reich Platz 2, Schweiz Platz 2, und weltweit Platz 3. In Deutsch­land dagegen klar unter­durch­schnitt­lich unter ferner liefen. Zions treffende These »In Deutsch­land will man so etwas nicht über die USA sehen, nicht darüber nach­denken, sondern dem 'großen Bruder' folgen. Man will von dort ein Gut-Böse-Schema, Ideo­lo­geme, Anwei­sungen, Unter­hal­tung, Projek­tionen, einen Atom­schirm und Produkte des Konsums und der Kultur­in­dus­trie.«

Chantal im Märchen­land ist den Deutschen offenbar lieber… Ausge­rechnet Deutsch­land, das sich in so vielen Belangen, auch sehr schlechten, als der ameri­ka­ni­sier­teste aller europäi­schen Staaten erweist, und sich politisch auch unter grüner Mitre­gie­rung eher noch stärker im Wind­schatten der USA bewegt, hat kein Interesse an jenen intel­lek­tu­ellen und politisch-kultu­rellen Debatten in den USA, die etwas kompli­zierter sind als Wokeness und »Post­ko­lo­nia­lismus«.
Viel­leicht ahnen manche Deutsche auch, dass Civil War gar kein Film über Amerika ist, sondern universal.

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Die oben zitierte Aufschrift auf dem Plakat einer jüdischen Studentin der New Yorker »Columbia Univer­sity« beschreibt klarer und unzwei­deu­tiger, als es die meisten jour­na­lis­ti­schen Berichte oder Kommen­tare können, was derzeit an vielen Univer­si­täten in den Verei­nigten Staaten los ist.

An den US-Univer­si­täten herrscht der Hass gegen Juden. Offene oder verklau­su­lierte Mord­auf­rufe sind an der Tages­ord­nung. Etwa jener maskierte Student, der in New York vor einer Gruppe von Studenten, die die israe­li­sche Flagge schwenkten, posierte und sich dabei filmen ließ, wie er ein Poster schwang mit der Aufschrift »Al quassams next targets«, also übersetzt: Die nächsten Opfer der Hamas. Dies ist ein offener Mord­aufruf, ähnlich wie die gerne skan­dierten Parolen: »Al-Qassam, make us proud, take another soldier out« oder »We say justice, you say how? Burn Tel Aviv to the ground.« oder »Go Hamas, we love you. We support your rockets too.«

Ausge­rechnet die sonst so sensiblen, »woken« US-Studenten, die in jeder Hinsicht gegen soge­nannte Hassreden sind und hoch­emp­find­lich reagieren, wenn es um Indianer geht, um Schwarze, um N- und Z-Worte, um soge­nannte weiße Privi­le­gien geht, die sind auf einmal überhaupt nicht empfind­lich, wenn es Anti­se­mi­tismus betrifft. Die gleichen, die lautstark einen angeb­li­chen »Genozid« an den Arabern in Gaza beklagen, üben sich fort­wäh­rend selbst in der geno­zi­dalen Rede »From the river to the sea«.

Die Vorgänge in den USA zeigen den unver­hüllten Kern der angeb­li­chen oder im Fall von manchen vermeint­li­chen Palästina/Araber-Soli­da­rität auch in Deutsch­land.

Die US-Zustände können wie vieles Iden­ti­täts­po­li­ti­sche zuvor – allge­meine »Wokeness«, Post­co­lo­nia­lismus, ideo­lo­gisch verengte Gender-Studies – aus den USA in ähnlich primi­tiver Form nach Europa über­schwappen.

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Es muss daher unser gemein­sames Interesse sein, dass solche Zustände in Europa und besonders in Deutsch­land vermieden werden. Das kann nur funk­tio­nieren, wenn es gelingt, dass sich die rechts­staat­lich orien­tierten, anti-iden­ti­tären Teile der Linken mit der breiten Mitte der Gesell­schaft und den libe­ral­kon­ser­va­tiven Teilen der Union verbünden.

Was konkret nötig ist, auch das kann man aus den USA lernen, sind klare Regeln für die Univer­sität und den öffent­li­chen Raum insgesamt: Regeln, aus denen hervor­geht, was ist in unserer Gesell­schaft »sagbar« und was nicht? Wann wird Kritik zur »Hassrede«? Wie schafft man es, einer­seits Meinungs- und Rede­frei­heit so weit wie möglich unein­ge­schränkt zu garan­tieren, und ande­rer­seits dafür zu sorgen, dass jede Form von Anti­se­mi­tismus an den Univer­si­täten verboten bleibt, und dass solche Verbote auch durch­ge­setzt werden? Wichtig hierfür sind nicht nur »Code of Conducts« – das sind eher die Voraus­set­zungen. Wichtig ist, dass man die Möglich­keit schafft, wo sie noch nicht existiert, Exma­tri­ku­lie­rungen vorzu­nehmen – etwa bei körper­li­chen Angriffen gegen Studenten oder Lehr­kräfte sollte es möglich sein, sofort ein Betre­tungs­verbot des Campus und der Univer­si­täts­räume auszu­spre­chen.
Selbst­ver­s­tänd­lich müssen ebenso Klage­mög­lich­keiten gegen solche Verbote und Exma­tri­ku­la­tionen garan­tiert sein, um nicht dozen­ti­scher oder insti­tu­tio­neller Willkür und voraus­ei­lenden, reiner Angst geschul­deten Verboten Tür und Tor zu öffnen und rechts­staat­liche Verfahren zum Schutz der Bürger zu garan­tieren. Das liegt im gemein­samen Interesse aller Betei­ligten.

Wichtig ist die Grund­ein­sicht, dass es nicht gelingen wird, Univer­si­täten oder andere öffent­li­chen Räume zu puri­fi­zieren, zu reinigen. Wider­sprüch­lich­keiten und Dissense, auch harte Dissense, müssen zuge­lassen und ausge­halten werden. Die Grenze, eine rote Linie ist aber erreicht, wenn aus Streit und Dissens verbale Angriffe und Vernich­tungs­auf­for­de­rungen – und seien es auch nur verklau­su­lierte Vernich­tungs­auf­for­de­rungen – werden. Vom Gebrauch körper­li­cher Gewalt gar nicht zu reden.

Ausge­rechnet zu Pessach ist den Juden in Amerika jetzt etwas Unwie­der­bring­li­ches genommen worden: Die Freiheit der Unver­sehrt­heit und die Freiheit, ohne Angst studieren zu können. Es ist ein Elend. Ein Elend, dass nicht nur die USA, sondern das Prinzip der Demo­kratie beschä­digt und auf lange Zeit nach­wirken wird.

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Wider­spruchs­frei­heit wünschen sich wahr­schein­lich viele, in der Kunst wie anderswo. Aber wie so manche Wünsche geht auch dieser selten in Erfüllung. Erst recht in der Kunst. Denn man könnte sagen, dass es gerade der Sinn von Kunst und Kultur­ver­an­stal­tungen ist, Wider­sprüche zu provo­zieren, heraus­zu­ar­beiten, das Publikum zu irri­tieren und vor den Kopf zu stoßen. Provo­ka­tion, nicht Harmo­niesauce ist das Mittel der Kunst. Diese Einsicht ist nicht neu und schon gar nicht auf den »Kurz­film­tagen Ober­hausen« – immerhin verab­schie­dete man hier vor 62 Jahren jenes berühmte, auch ein bisschen berüch­tigte Ober­hau­sener Manifest, das zur Geburts­ur­kunde des deutschen Autoren­films wurde.

»Dieser neue Film braucht neue Frei­heiten. Freiheit von den bran­chen­üb­li­chen Konven­tionen. Freiheit von der Beein­flus­sung durch kommer­zi­elle Partner. Freiheit von der Bevor­mun­dung durch Inter­es­sen­gruppen.«

So hieß es einst im legen­dären Ober­hau­sener Manifest, 1962.