11.06.2020

Aufbruch ins Morgen

Aufbruch Kino
Mit dem Schleifgerät in die Zukunft
(Foto: Arena Kino)

Beim Neustart der Kinos nach der Corona-Pause schlägt vor allem für die kleineren Arthouse-Kinos die Stunde

Von Dunja Bialas

Einer der verrück­testen Filme, in denen Michel Piccoli mitge­wirkt hat, ist sicher­lich Claude Faraldos Themroc (1972). Mit lust­voller Anarchie zeigt der fran­zö­si­sche Regisseur, getrieben vom Geist der noch nach­wir­kenden 68er-Revo­lu­tion, wie sich der Anstrei­cher namens Themroc zuerst in seinem Zimmer einmauert, um dann mit großer Geste die Außen­mauern nieder­zu­reißen. Fortan führt er ein wildes Privat­leben wie auf einer Bühne. Themroc ist heute der Film der Stunde. Ein furioser Appell, die alten Mauern einzu­reißen, die uns am Leben gehindert haben, um ein neues, anar­chis­ti­scheres, freieres und offeneres Dasein zu führen.

Als mir Kino­be­treiber Christian Pfeil heute Fotos vom hundert­acht­jäh­rigen Arena-Kino schickt, muss ich sofort an Themroc denken. Das Kino liegt da als Stein­bruch, der große Saal ist entkernt, die Tape­ten­schichten sind frei­ge­legt. Auch hier wird einge­rissen. Aber nicht um abzu­reißen: Der Abbruch ist ein Aufbruch, in ein neues Morgen des Kinos, das nun nach drei Monaten Zwangs­pause wieder weiter­gehen kann.

Aller­dings erst einmal ohne das Arena-Kino. Pfeil nutzt die Stunde und rund­erneuert gründlich. Attraktiv wird das durch Inves­ti­ti­ons­zu­schüsse durch den Bund, der seine Förder­kri­te­rien für das »Zukunfts­pro­gramm« deutlich ausge­weitet hat. Anstatt bislang vierzig werden nun satte achtzig Prozent vom Bund für Inves­ti­ti­ons­maß­nahmen – Reno­vie­rung, Moder­ni­sie­rung und Sanierung, um die Kinos auf der baulichen Höhe der Zeit zu halten – bereit­ge­stellt. Ein Kino kann nun mit zwanzig Prozent Eigen­an­teil loslegen. Das rechnet sich, ist aber bis Jahres­ende begrenzt. Auch die City Kinos in München kündigen deshalb schon Reno­vie­rungen an. Zu erwarten ist, dass in den nächsten Monaten ein regel­rechter Moder­ni­sie­rungs­schub durch die Kino­land­schaft gehen wird.

Lange Gesichter gibt es derzeit eigent­lich nur bei den Mulit­plexen, die auf die Block­buster gehofft haben. Während der Neustart der Kinos nach Corona den kleinen Verlei­hern eine Chance bietet, mit ausge­fal­lenen Arthouse-Filmen viel Aufmerk­sam­keit zu bekommen, haben die Kinos, die schon bei den umfas­senden Corona-Sofort­hil­fe­maß­nahmen leer ausgingen und die besu­cher­starke Filme jetzt dringend brauchen, das Nachsehen. Kein Bond in Sicht, »Keine Zeit zu Sterben«, davon wurde schon im Februar berichtet, als China die James-Bond-Tour absagte. Jetzt macht auf ungleich regio­na­lerer Ebene die Münchner Constantin Film den Rück­zieher und verlegt den neuen Eberhofer-Krimi Kaiser­schmarrn­drama auf unbe­stimmte Zeit – es gibt Gerüchte, die von August 2021 sprechen.

Da schiebt so manch ein größerer Kino­be­treiber jetzt den Leber­kas­blues. Die Eberhofer-Krimis sorgen bayern­weit stets für ein Millio­nen­pu­blikum. Es herrscht dann Bier­zel­t­at­mo­s­phäre in den Kinosälen, fröhlich-baye­ri­sche Ausge­las­sen­heit. Mit den Hygie­never­ord­nungen für die baye­ri­schen Kinos, die ab Montag in Kraft treten, scheint das nicht vereinbar. So wäre der Film, anstatt die Kino­kassen halbwegs zu sanieren, aus Verleih­per­spek­tive ein rechter Flop – für den erst gar nicht die Werbe­trommel ange­schmissen wird. Für das Publikum ein schlechtes Signal, wenn es wie sonst immer im August »seinen« Eberhofer diesmal nicht bekommt.

Die Stunde schlägt nun eindeutig für die kleineren Arthouse-Kinos, und die machen sich bereit. So ganz aber glauben sie noch nicht an die Zukunft. Manche fürchten berech­tig­ter­weise, dass nun nach der Corona-Krise ähnlich wie nach der Spani­schen Grippe vermehrt konfek­tio­nierte Kinoware auf den Markt geschwemmt wird, ganz nach dem Motto: Geld muss in die Kassen, also setzen wir auf das Bewährte. So kam nach dem Ende der Spani­schen Grippe der Siegeszug von Hollywood, der die vormalige Vielfalt des ameri­ka­ni­schen Films zunichte machte. Wir erinnern uns an die Mono­kultur von Monsieur Claude & Co., was das Schlimmste befürchten lässt, sollten die Kassan­dras recht behalten.

Ande­rer­seits aber konnten viele mündige Cineasten nun im Internet die unglaub­liche Vielfalt und echte Verschie­den­heit des Film­an­ge­bots entdecken. Wenn nun den ersten Kinos in anderen Bundes­län­dern – aus Mangel an Filmen und Fantasie – nichts besseres einfällt als Die Känguru-Chroniken, Nightlife und Das perfekte Geheimnis zu zeigen, dann kommt unter den Filma­fi­cio­nados augen­blick­lich Koma auf. Es könnte nun also die Zeit gekommen sein, wo die kleinen Verleiher mit »beson­deren« Filmen (als Chiffre für alles, was nicht eigent­lich markt­taug­lich ist), Verleih- und Samm­ler­nerds mit einem Spezi­al­pro­gramm, das auch Genre und B-Movies enthält, ihren Platz im Kino­pro­gramm finden.

Wenn sich das schön ausba­lan­ciert, könnte nach Corona sogar mehr Vielfalt in den Kinos herrschen. Wenn die Verleiher die Kino­be­treiber machen lassen, und wenn die Kino­be­treiber die Lust und den Mut haben, sich auf dieses Expe­ri­ment einzu­lassen. Themroc immerhin, der radi­kalste Film, den Piccoli je gemacht hat, hat es einst vom Geheim­tipp zum Kultfilm geschafft.