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Den Outlaw, jene klassischste aller Westernfiguren, hat Anthony
Mann nicht erfunden. Aber er hat ihm Gestalt gegeben, wie
kein anderer. Die Helden von Manns Western stehen nicht gegen,
sondern völlig außerhalb des Gesetzes. Es sind
eminent moderne Figuren, weil sie nichts mehr mit dem Pioniergeist
des klassischen Frontier-Mythos zu tun haben. Mann zeigt Individuen,
die nur noch als Einzelgänger überleben können,
die von Rache und Vergangenheit besessen sind, hart und dabei
verletzlich. Für diese Kombination war ausgerechnet James
Stewart der ideale Darsteller, weil dessen Gesicht immer noch
die jungen Optimisten der Capra-Filme in sich trug, in denen
er vorher gespielt hatte, weil die Desillusionierung des "guten
Amerikaners", die erlernte Gewaltbereitschaft in ihm
um so glaubwürdiger wirkte. Acht Western drehten Stewart
und Mann zusammen, darunter Klassiker wie WINCHESTER 73 oder
THE MAN FROM LARAMIE, oft Rachegeschichten, in denen Stewart
wortkarg und entfremdet, besessen von inneren Dämonen
über die Prärie reitet. Es ist eine umgedrehte,
pessimistische Bewegung, die in Manns Western dominiert: Nicht
wie bei Hawks und oft auch Ford die Integration des Westerners
in die Rechtsordnung und den zivilisatorischen Konsens, sondern
das Herausfallen aus ihm, jedenfalls seine scharfe Gefährdung.
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Vielleicht ließ dies Manns Filme so überraschend
aktuell wirken, als sie jetzt beim Filmfestival in San Sebastian,
wieder in den Blick gerückt wurden. Zehn Tage lang zeigte
man eine komplette Retrospektive des ca. 1907 geborenen Regisseurs
von seinen Anfängen in den frühen 40ern bis zu seinem
frühen Tod 1967 - eine Wiederentdeckung.
Überraschend stark erschienen dabei vor allem die Films
Noirs aus Manns ersten Jahren, etwa RAW DEAL von 1948: Weil
dies ein Film von Mann ist, hängt die Hauptfigur hier
trotz aller Zukunftshoffnung zugleich in ihrer Vergangenheit
und den Rachephantasien, die ihr entspringen, fest. Ähnlich
schon in THE GREAT FLAMMARION (1945): Erich von Stroheim spielt
hier einen Zirkusartisten, der in die Fänge einer Femme
Fatale gerät.
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Die Parallelen zwischen Manns Film Noirs und seinen Western
führen auf den Kern seines Werks: Es sind Portraits der
Selbstzerstörung. Das Motiv dominiert noch Manns späte
Filme, etwa den Monumentalfilm DER UNTERGANG DES RÖMISCHEN
REICHES (1964) denen aller Glanz und Pathos von Hollywoods
Sandalenfilmen ausgetrieben ist, ein Film über die Dekadenz
imperialer Macht, der sich aus heutiger Sicht auch als frühe
Vietnam-Analogie verstehen lässt.
Kein Rom unter der Sonne Italiens, sondern eines, das sich
im Western-Wald Germaniens in Guerilla-Kämpfe mit den
einheimischen Barbaren - Indianern, Vietcong - verstrickt.
Es ist kalt, Schnee und Eis Schlamm und Regen, Berge und Dickicht
behindern und lassen die Römer zusehends erstarren und
erkalten. Gefühle und Zustände drücken sich
ganz über die Natur aus. In ihrer langsamen Bewegung,
jederzeit ganz dicht, erscheinen Manns mythischen Bilderbögen
wie gotische Kathedralen des Kinos, fremd und faszinierend.
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Fast eine Märchen-Situation: Drei Kinder wandern allein
durch die Berge. Was anfangs komische, beinahe heiter-burleske
Züge trägt, eskaliert: Im Märchen sind es Hexen,
Riesen und böse Zauberer, die die Idylle (zer-)stören,
in Bahman Ghobadis Film TURTLES CAN FLY sind es die entfesselten
Geister des Krieges - verdient gewann der Film am Samstag
beim Filmfestival im baskischen San Sebastian den Wettbewerb
um die Goldene Muschel. Angesiedelt in der Berglandschaft
im Grenzgebiet zwischen Iran und Irak, erzählt der kurdische
Regisseur, der in Europa bereits für seinen Erstling
ZEIT DER TRUNKENEN PFERDE viel Aufmerksamkeit bekam, von Kindern
unmittelbar vor der amerikanischen Irak-Invasion. Die Schrecken
von Bürgerkrieg und Landminen kennen sie allerdings schon
lange. Ghobadi gelang ein bewegender Film über Menschen
am Rande der Hölle. Ohne je aufdringlich zu sein, vielmehr
über weite Strecken dokumentarisch-kühl, ist TURTLES
CAN FLY emotional dicht und seiner Mittel jederzeit sicher
- ein gelungenes Beispiel dafür, wie sich moralisch-politische
Botschaften auf die Leinwand bringen lassen.
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Zugegeben: Auch dieser Film fügt sich in einen Trend,
der bereits die diesjährigen Wettbewerbe von Berlin und
Venedig dominierte: ein neuer Hang zum Thesenfilm, der sich
moralisch ganz auf die Seite der Opfer stellt und damit jedenfalls
auf die sichere Seite. Künstlerische Innovation und Stilbewußtsein
bleiben dagegen oft auf der Strecke. Doch im Gegensatz zu
Filmen wie etwa Mike Leighs VERA DRAKE, vor zwei Wochen in
Venedig mit dem Goldenen Löwen prämiert, der inhaltlich
sympathisch sein mag, ansonsten aber nichts zu sagen hat,
handelt es sich bei Ghobadis Film nicht um moralisches Erbauungskino,
das den Zuschauer einlullt, sondern um eine erschütternde
Erzählung, die ihn aufgewühlt und verstört
voller Fragen zurücklässt - zweifellos die produktivere
Erfahrung.
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In den letzten Jahren hat sich das Filmfestival von San Sebastian
erheblich gemausert. Als man vor zwei Jahren im baskischen
Seebad das 50. Festivaljubiläum feierte, erinnerten ältere
Besucher noch an jene Jahre, in denen man vor allem wegen
der guten Küche und der malerischen Concha hierherkam,
jener weißen Sandbucht, die inmitten der Felsenlandschaft
wie eine Mini-Copacabana aussieht. Nebenbei sah man dann ein
paar Filme. Wie auch in Cannes oder Venedig war das Filmfestival
zunächst einmal die clevere Idee eines Touristenortes,
um in der Nebensaison das Geschäft anzukurbeln. Aber
schon als sich in den späten 60ern das kulturelle Klima
auch im repressiven Franco-Spanien allmählich zu öffnen
begann, besserte sich die Qualität der Filmschau stark.
Ausländische Regisseure kamen gern, das immer gegenüber
der Madrider Zentralregierung oppositionelle Baskenland war
ein Hort offener Diskussion und Gedankenfreiheit. So konnte
man hier seinerzeit Francis Ford Coppola mit seinen frühen
Werken sehen, in San Sebastian gewann er seinen ersten internationalen
Preis.
Stetig entwickelte man sich weiter, zeigte gute Filme, doch
der Quantensprung kam erst in den 90er Jahren unter dem Leiter
Diego Galan, einem Filmkritiker. Als dann 1999 das hochmoderne
neue Kulturzentrum in der Stadtmitte eröffnet wurde,
wo seitdem das Festivalzentrum liegt, und abends direkt am
Meeresufer die großen Premieren stattfinden und die
Stars über den roten Teppich flanieren, war man in der
Championsleague der Festivals angekommen: Neben den großen
drei Festivals Cannes, Berlin, Venedig bezeichnet sich San
Sebastian heute stolz als viertwichtigstes Filmfestival der
Welt.
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Direkt konkurriert man um diese Position vor allem mit Locarno,
weniger mit dem gleichfalls stark an Bedeutung gewinnenden
Toronto, das - genau zwischen Venedig und San Sebastian angesiedelt
- zwar der wichtigste Überseemarkt ist, aber ohne bedeutenden
Wettbewerb und daher künstlerisch wenig attraktiv. Die
Konkurrenz zwischen Locarno und San Sebastian spiegelt dagegen
viel von der Lage der hart umkämpften internationalen
Festivalszene: Seit ein paar Jahren befindet diese sich im
Umbruch. Immer härter wird um einzelne Filme gerungen.
Tradition zählt wenig, Marktinteressen bestimmen die
Entscheidungen. Und hier hat San Sebastian, mit einem Etat
von 5,5 Millionen Euro zu 55 Prozent mit öffentlichen
Geldern finanziert, entscheidende Vorteile. Denn der zum Festival
gehörige Filmmarkt, an dem Rechte und Projektfinanzierungen
verhandelt werden, ist allein seit 2002 von 800 auf 1300 Besucher
angestiegen - auch wenn sich diese Zahlen bei genauerer Betrachtung
relativieren, ein klares Indiz für die gewachsene Bedeutung
des Festivals. Vor allem aber ist der schwierige, aber große
spanische Kinomarkt für Filmproduzenten einfach attraktiver
als das Schweizer Locarno. Zudem hat San Sebastian die Funktion
einer Brücke nach Lateinamerika, für dessen Presse
und Produzenten das Festival auch durch die Sektion "Horizontes
Latinos" (30 Filme) das wichtigste Schaufenster ist.
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19 Filme laufen im Wettbewerb, 35 in der zweiten, jüngeren
Reihe "Zabaltegi", darunter auch der fesselnde IM
NORDWIND von der jungen Schweizerin Bettina Oberli, und das
interessante und sehr sehenswerte Debüt IN DIE HAND GESCHRIEBEN
vom jungen Kölner Rouven Blankenfeld. Er erzählt
von einer jungen Frau, die sich in einer schlechten Ehe gefangen
fühlt, und mit der Pflege ihres schwerkranken Vaters
aufreibt. Auch Moral und Kirche bieten keinen Trost, da bekommt
sie plötzlich mysteriöse Anrufe eines Unbekannten
- von Gott? Außer durch seinen eindringlichen, sehr
konzentrierten Stil besticht IN DIE HAND GESCHRIEBEN auch
durch die hervorragende Leistung seiner Hauptdarstellerin
Irma Schmitt. Diesem nur 4000 Euro teuren Hochschulabschlußfilm
sieht man seine Produktionsbedingungen deutlich an. Trotzdem
gelingt ihm mehr atmosphärische Dichte, als vielen teuren
Produktionen - hoffentlich bekommt er noch seine Chance in
Kino und Fernsehen.
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Der Wettbewerb ist durchweg von guter Qualität, wenn
auch die ganz großen Namen fehlen - falls man sie nicht
durch einen persönlichen Sonderpreis anlockt. Doch immerhin
gab es die neuen Filme von John Sayles, Michael Winterbottom,
Oliver Stone, Carlos Saura und Istvan Szabo zu sehen.
Ganz excellent war BROTHERS (vgl. vorige Woche) von der Dänin
Susanne Bier, der neben dem Sieger die meiste Aufmerksamkeit
erhielt. Connie Nielsen und Ulrich Thomsen gewannen am Ende
sehr verdient beide Darstellerpreise für ihre Auftritte
als Ehepaar, das mit zwei Kindern eine normale Mittelstandsexistenz
lebt - bis zu dem Tag an dem der Mann, ein Berufsoffizier,
für eine UNO-Mission nach Afghanistan abkommandiert und
kurz darauf abgeschossen wird. Später kehrt er zurück,
doch nichts ist, wie es war. Biers kühles, eindringliches
Melodram, beschreibt, wie Europäer die neuen Kriege erleben,
an denen sie mittelbar sehr wohl beteiligt sind.
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Noch schärfer nach dem Politischen fragt John Sayles
in seiner Satire SILVER CITY. Es ist Gouverneurswahlkampf
in Colorado, Richard Dreyfus ist der gerissen-zwiespältige
Wahlkampfmanager des konservativen Wahlfavoriten, Kris Kristoffersson
in erzreaktionärer Lobbyist, Danny Huston ein desillusionierter
Ex-Journalist, der als Privatdetektiv eigentlich im Auftrag
der Konservativen ermittelt, aber plötzlich im falschen
Moment zu viel nachfragt. Grandios ist aber nicht zuletzt
Chris Coopers Part als Gouverneurskandidat, der mühsam
seine vorgestanzten Phrasen reproduziert - und kaum selbst
versteht, was er redet. Unübersehbar sind hierbei die
Anklänge an die Wahlkampfrhetorik des George W. Bush,
dessen Tonlagen und Eigenheiten Cooper hervorragend parodiert.
Wie die meisten von Sayles Filmen ist auch SILVER CITY zugleich
ein Heimatfilm der anderen Art. Anspielungsreich und hintergründig
dekonstruiert Sayles die Mythen der Silberminen, der Naturverbundenheit
und des Frontierlebens. Was übrig bleibt, und da liegt
er ganz nahe bei Anthony Mann, ist auch in diesem Fall Selbstzerstörung.
Rüdiger Suchsland
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