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30.09.2004
 
 
       

Kathedralen der Selbstzerstörung
Das Filmfestival von San Sebastian zeigt das Werk des Kino-Pessimisten Anthony Mann und wird immer besser

 
 
Entfesselte Geister des Krieges -
Der Gewinner der Goldenen Muschel TURTLES CAN FLY
   
 
 
 
 


Den Outlaw, jene klassischste aller Westernfiguren, hat Anthony Mann nicht erfunden. Aber er hat ihm Gestalt gegeben, wie kein anderer. Die Helden von Manns Western stehen nicht gegen, sondern völlig außerhalb des Gesetzes. Es sind eminent moderne Figuren, weil sie nichts mehr mit dem Pioniergeist des klassischen Frontier-Mythos zu tun haben. Mann zeigt Individuen, die nur noch als Einzelgänger überleben können, die von Rache und Vergangenheit besessen sind, hart und dabei verletzlich. Für diese Kombination war ausgerechnet James Stewart der ideale Darsteller, weil dessen Gesicht immer noch die jungen Optimisten der Capra-Filme in sich trug, in denen er vorher gespielt hatte, weil die Desillusionierung des "guten Amerikaners", die erlernte Gewaltbereitschaft in ihm um so glaubwürdiger wirkte. Acht Western drehten Stewart und Mann zusammen, darunter Klassiker wie WINCHESTER 73 oder THE MAN FROM LARAMIE, oft Rachegeschichten, in denen Stewart wortkarg und entfremdet, besessen von inneren Dämonen über die Prärie reitet. Es ist eine umgedrehte, pessimistische Bewegung, die in Manns Western dominiert: Nicht wie bei Hawks und oft auch Ford die Integration des Westerners in die Rechtsordnung und den zivilisatorischen Konsens, sondern das Herausfallen aus ihm, jedenfalls seine scharfe Gefährdung.

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Vielleicht ließ dies Manns Filme so überraschend aktuell wirken, als sie jetzt beim Filmfestival in San Sebastian, wieder in den Blick gerückt wurden. Zehn Tage lang zeigte man eine komplette Retrospektive des ca. 1907 geborenen Regisseurs von seinen Anfängen in den frühen 40ern bis zu seinem frühen Tod 1967 - eine Wiederentdeckung.
Überraschend stark erschienen dabei vor allem die Films Noirs aus Manns ersten Jahren, etwa RAW DEAL von 1948: Weil dies ein Film von Mann ist, hängt die Hauptfigur hier trotz aller Zukunftshoffnung zugleich in ihrer Vergangenheit und den Rachephantasien, die ihr entspringen, fest. Ähnlich schon in THE GREAT FLAMMARION (1945): Erich von Stroheim spielt hier einen Zirkusartisten, der in die Fänge einer Femme Fatale gerät.

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Die Parallelen zwischen Manns Film Noirs und seinen Western führen auf den Kern seines Werks: Es sind Portraits der Selbstzerstörung. Das Motiv dominiert noch Manns späte Filme, etwa den Monumentalfilm DER UNTERGANG DES RÖMISCHEN REICHES (1964) denen aller Glanz und Pathos von Hollywoods Sandalenfilmen ausgetrieben ist, ein Film über die Dekadenz imperialer Macht, der sich aus heutiger Sicht auch als frühe Vietnam-Analogie verstehen lässt.
Kein Rom unter der Sonne Italiens, sondern eines, das sich im Western-Wald Germaniens in Guerilla-Kämpfe mit den einheimischen Barbaren - Indianern, Vietcong - verstrickt. Es ist kalt, Schnee und Eis Schlamm und Regen, Berge und Dickicht behindern und lassen die Römer zusehends erstarren und erkalten. Gefühle und Zustände drücken sich ganz über die Natur aus. In ihrer langsamen Bewegung, jederzeit ganz dicht, erscheinen Manns mythischen Bilderbögen wie gotische Kathedralen des Kinos, fremd und faszinierend.

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Fast eine Märchen-Situation: Drei Kinder wandern allein durch die Berge. Was anfangs komische, beinahe heiter-burleske Züge trägt, eskaliert: Im Märchen sind es Hexen, Riesen und böse Zauberer, die die Idylle (zer-)stören, in Bahman Ghobadis Film TURTLES CAN FLY sind es die entfesselten Geister des Krieges - verdient gewann der Film am Samstag beim Filmfestival im baskischen San Sebastian den Wettbewerb um die Goldene Muschel. Angesiedelt in der Berglandschaft im Grenzgebiet zwischen Iran und Irak, erzählt der kurdische Regisseur, der in Europa bereits für seinen Erstling ZEIT DER TRUNKENEN PFERDE viel Aufmerksamkeit bekam, von Kindern unmittelbar vor der amerikanischen Irak-Invasion. Die Schrecken von Bürgerkrieg und Landminen kennen sie allerdings schon lange. Ghobadi gelang ein bewegender Film über Menschen am Rande der Hölle. Ohne je aufdringlich zu sein, vielmehr über weite Strecken dokumentarisch-kühl, ist TURTLES CAN FLY emotional dicht und seiner Mittel jederzeit sicher - ein gelungenes Beispiel dafür, wie sich moralisch-politische Botschaften auf die Leinwand bringen lassen.

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Zugegeben: Auch dieser Film fügt sich in einen Trend, der bereits die diesjährigen Wettbewerbe von Berlin und Venedig dominierte: ein neuer Hang zum Thesenfilm, der sich moralisch ganz auf die Seite der Opfer stellt und damit jedenfalls auf die sichere Seite. Künstlerische Innovation und Stilbewußtsein bleiben dagegen oft auf der Strecke. Doch im Gegensatz zu Filmen wie etwa Mike Leighs VERA DRAKE, vor zwei Wochen in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämiert, der inhaltlich sympathisch sein mag, ansonsten aber nichts zu sagen hat, handelt es sich bei Ghobadis Film nicht um moralisches Erbauungskino, das den Zuschauer einlullt, sondern um eine erschütternde Erzählung, die ihn aufgewühlt und verstört voller Fragen zurücklässt - zweifellos die produktivere Erfahrung.

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In den letzten Jahren hat sich das Filmfestival von San Sebastian erheblich gemausert. Als man vor zwei Jahren im baskischen Seebad das 50. Festivaljubiläum feierte, erinnerten ältere Besucher noch an jene Jahre, in denen man vor allem wegen der guten Küche und der malerischen Concha hierherkam, jener weißen Sandbucht, die inmitten der Felsenlandschaft wie eine Mini-Copacabana aussieht. Nebenbei sah man dann ein paar Filme. Wie auch in Cannes oder Venedig war das Filmfestival zunächst einmal die clevere Idee eines Touristenortes, um in der Nebensaison das Geschäft anzukurbeln. Aber schon als sich in den späten 60ern das kulturelle Klima auch im repressiven Franco-Spanien allmählich zu öffnen begann, besserte sich die Qualität der Filmschau stark. Ausländische Regisseure kamen gern, das immer gegenüber der Madrider Zentralregierung oppositionelle Baskenland war ein Hort offener Diskussion und Gedankenfreiheit. So konnte man hier seinerzeit Francis Ford Coppola mit seinen frühen Werken sehen, in San Sebastian gewann er seinen ersten internationalen Preis.

Stetig entwickelte man sich weiter, zeigte gute Filme, doch der Quantensprung kam erst in den 90er Jahren unter dem Leiter Diego Galan, einem Filmkritiker. Als dann 1999 das hochmoderne neue Kulturzentrum in der Stadtmitte eröffnet wurde, wo seitdem das Festivalzentrum liegt, und abends direkt am Meeresufer die großen Premieren stattfinden und die Stars über den roten Teppich flanieren, war man in der Championsleague der Festivals angekommen: Neben den großen drei Festivals Cannes, Berlin, Venedig bezeichnet sich San Sebastian heute stolz als viertwichtigstes Filmfestival der Welt.

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Direkt konkurriert man um diese Position vor allem mit Locarno, weniger mit dem gleichfalls stark an Bedeutung gewinnenden Toronto, das - genau zwischen Venedig und San Sebastian angesiedelt - zwar der wichtigste Überseemarkt ist, aber ohne bedeutenden Wettbewerb und daher künstlerisch wenig attraktiv. Die Konkurrenz zwischen Locarno und San Sebastian spiegelt dagegen viel von der Lage der hart umkämpften internationalen Festivalszene: Seit ein paar Jahren befindet diese sich im Umbruch. Immer härter wird um einzelne Filme gerungen. Tradition zählt wenig, Marktinteressen bestimmen die Entscheidungen. Und hier hat San Sebastian, mit einem Etat von 5,5 Millionen Euro zu 55 Prozent mit öffentlichen Geldern finanziert, entscheidende Vorteile. Denn der zum Festival gehörige Filmmarkt, an dem Rechte und Projektfinanzierungen verhandelt werden, ist allein seit 2002 von 800 auf 1300 Besucher angestiegen - auch wenn sich diese Zahlen bei genauerer Betrachtung relativieren, ein klares Indiz für die gewachsene Bedeutung des Festivals. Vor allem aber ist der schwierige, aber große spanische Kinomarkt für Filmproduzenten einfach attraktiver als das Schweizer Locarno. Zudem hat San Sebastian die Funktion einer Brücke nach Lateinamerika, für dessen Presse und Produzenten das Festival auch durch die Sektion "Horizontes Latinos" (30 Filme) das wichtigste Schaufenster ist.

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19 Filme laufen im Wettbewerb, 35 in der zweiten, jüngeren Reihe "Zabaltegi", darunter auch der fesselnde IM NORDWIND von der jungen Schweizerin Bettina Oberli, und das interessante und sehr sehenswerte Debüt IN DIE HAND GESCHRIEBEN vom jungen Kölner Rouven Blankenfeld. Er erzählt von einer jungen Frau, die sich in einer schlechten Ehe gefangen fühlt, und mit der Pflege ihres schwerkranken Vaters aufreibt. Auch Moral und Kirche bieten keinen Trost, da bekommt sie plötzlich mysteriöse Anrufe eines Unbekannten - von Gott? Außer durch seinen eindringlichen, sehr konzentrierten Stil besticht IN DIE HAND GESCHRIEBEN auch durch die hervorragende Leistung seiner Hauptdarstellerin Irma Schmitt. Diesem nur 4000 Euro teuren Hochschulabschlußfilm sieht man seine Produktionsbedingungen deutlich an. Trotzdem gelingt ihm mehr atmosphärische Dichte, als vielen teuren Produktionen - hoffentlich bekommt er noch seine Chance in Kino und Fernsehen.

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Der Wettbewerb ist durchweg von guter Qualität, wenn auch die ganz großen Namen fehlen - falls man sie nicht durch einen persönlichen Sonderpreis anlockt. Doch immerhin gab es die neuen Filme von John Sayles, Michael Winterbottom, Oliver Stone, Carlos Saura und Istvan Szabo zu sehen.
Ganz excellent war BROTHERS (vgl. vorige Woche) von der Dänin Susanne Bier, der neben dem Sieger die meiste Aufmerksamkeit erhielt. Connie Nielsen und Ulrich Thomsen gewannen am Ende sehr verdient beide Darstellerpreise für ihre Auftritte als Ehepaar, das mit zwei Kindern eine normale Mittelstandsexistenz lebt - bis zu dem Tag an dem der Mann, ein Berufsoffizier, für eine UNO-Mission nach Afghanistan abkommandiert und kurz darauf abgeschossen wird. Später kehrt er zurück, doch nichts ist, wie es war. Biers kühles, eindringliches Melodram, beschreibt, wie Europäer die neuen Kriege erleben, an denen sie mittelbar sehr wohl beteiligt sind.

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Noch schärfer nach dem Politischen fragt John Sayles in seiner Satire SILVER CITY. Es ist Gouverneurswahlkampf in Colorado, Richard Dreyfus ist der gerissen-zwiespältige Wahlkampfmanager des konservativen Wahlfavoriten, Kris Kristoffersson in erzreaktionärer Lobbyist, Danny Huston ein desillusionierter Ex-Journalist, der als Privatdetektiv eigentlich im Auftrag der Konservativen ermittelt, aber plötzlich im falschen Moment zu viel nachfragt. Grandios ist aber nicht zuletzt Chris Coopers Part als Gouverneurskandidat, der mühsam seine vorgestanzten Phrasen reproduziert - und kaum selbst versteht, was er redet. Unübersehbar sind hierbei die Anklänge an die Wahlkampfrhetorik des George W. Bush, dessen Tonlagen und Eigenheiten Cooper hervorragend parodiert.
Wie die meisten von Sayles Filmen ist auch SILVER CITY zugleich ein Heimatfilm der anderen Art. Anspielungsreich und hintergründig dekonstruiert Sayles die Mythen der Silberminen, der Naturverbundenheit und des Frontierlebens. Was übrig bleibt, und da liegt er ganz nahe bei Anthony Mann, ist auch in diesem Fall Selbstzerstörung.

Rüdiger Suchsland

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  Tragödie ist Komödie ist Tragödie ist... Rüdiger Suchslands Bericht über den Auftakt des Filmfestivals in San Sebastian erschien vorige Woche
   
 
 
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