69. Filmfestspiele Cannes 2016
Kein Verlangen ohne Verbot, kein Begehren ohne Gefahr |
||
Personal Shopper von Olivier Assayas (hier: Kristen Stewart) endet im Oman. Gibt’s da viel Geld für wenig Film? | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
»Ich mag keine Magazine. Magazine verkaufen den Leuten Scheiße, nur für die Anzeigenkunden, nie für die Leser.«– Kristin Stewart in Personal Shopper
»Es gibt mehr Götzen als Realitäten in der Welt.«– Friedrich Nietzsche
»Da streiten sich die Leut herum / oft um den Wert des Glücks, / der eine heißt den andern dumm, / am End weiß keiner nix! / Da ist der allerärmste Mann / dem andern viel zu reich, / das Schicksal setzt den Hobel an / und hobelt alle gleich!« –»Das Hobellied«, im Film Personal Shopper, gesungen von Marlene Dietrich,
+ + +
Man traut seinen Augen kaum: Da steht Kristen Stewart, in Jeans und Turnschuhen, in einem alten europäischen Herrenhaus, das allerdings kaum erleuchtet ist.
Und plötzlich taucht hinter ihr aus dem Dunkel ein Lichtschatten auf. Er bewegt sich ständig, hat bald die Form eines Gesichts, dann eines Totenkopfes, eines Körpers. Ein Geist, ganz offensichtlich.
+ + +
Personal Shopper ist erst wenige Minuten alt, da hat das Zwielicht, das Flirren zwischen dieser und einer anderen Welt aus ihrem größten Kino-Erfolg Kristin Stewart zurück. Und sie wird aus ihm bis zum Ende dieses Films nicht heraustreten.
+ + +
Stewart steht ganz im Zentrum von Olivier Assayas' neuem Film. Sie ist in fast jedem Bild zu sehen. Wir identifizieren uns mit ihr, wir verfallen ihr, wir distanzieren uns von ihr. Bei ihrer Figur handelt es sich um ein junges Mädchen, das im Dienst einer nicht näher definierten Popcelebrity namens Kira (Nora von Waldstätten in einem kurzen, aber einprägsamen Auftritt, von ihr hätte man gern mehr gesehen) teure Markenklamotten, Schmuck und andere teure Waren kauft oder ausleiht.
So kommt sie in der Welt herum.
Doch das ist nur die Oberfläche. Dieser Film, der zum Teil in der Welt der Stars und der Medien spielt – und darin als Fortsetzung von Die Wolken von Sils Maria angesehen werden kann – ist am ehesten ein Psychothriller. Man kann ihn auch als Geistergeschichte deuten, als Horrormovie. Er ist auch ein Film über Erinnerung und Trauerarbeit
und eine philosophische Reflexion über die alte Frage, wie rational die Welt verfasst ist, ob Esoterik und Parapsychologie, oder auch Religionen etwas zum »tieferen« Verständnis der Welt beitragen können, oder nur Humbug sind, »Opium fürs Volk«, im besten Fall ein Irrtum, im schlechteren eine große Verschwörung, Auch dies steht im Raum, denn wenn hier mitunter Geister per sms zu kommunizieren scheinen, könnte es sich am Ende doch um Phänomene handeln, die weitaus irdischere Ursachen
haben. Andererseits sieht Maureen, so heißt Stewarts Figur, tatsächlich Geister, wir tun das mit ihr, aber vielleicht bildet sie sich das ja nur ein?
Assayas hält all dies wohltuend offen.
+ + +
Ganz ohne Frage gelingt ihm aber mit diesem Film eine Dekonstruktion des Horrors, eine Deutung der Geisterwelt als weitgehend von Menschen gemachte.
Der Kern dieser Geschichte liegt aber noch woanders: An der Oberfläche, dem komplett in der Konsum- und Medienwelt verankerten Brotberuf der Hauptfigur.
Denn ihr wunder Punkt ist nicht allein der Geisterglaube, der sie für Manipulationen anfällig macht, sondern das Begehren, von den Dingen zu kosten, die ihrer Herrin
vorbehalten sind. Es ist ein Märchenglaube an die Kraft und Ausstrahlung der Objekte, ihre stabilisierende, rettende und heilende Kraft. Dieser Glaube ist das heiße Herz des Kapitalismus, er hält unsere Welt zusammen. Und Maureen weiß um die Gefährlichkeit dieses Glaubens: Sie durchschaut ihn, sagt Sätze – und aus dem Mund von Kristin Stewart klingen sie noch besser – wie »Ich mag keine Magazine. Magazine verkaufen den Leuten Scheiße, nur für die Anzeigenkunden, nie für
die Leser.« Der entscheidende Satz fällt im zweiten Drittel: »No desire if it’s not fearful.«
Es geht also um Fetischismus. Assayas verdammt den Fetischismus nicht, sondern er versteht und verteidigt ihn. Und die besten seiner Bilder feiern ihn.
+ + +
Personal Shopper ist keineswegs restlos geglückt. Vor allem versucht er zu viel, teased zuviele Aspekte an, die er dann nicht richtig zu Ende erzählt. Auserzählen tut Assayas ja eigentlich nie, aber mitunter ist er hier etwas zu spartanisch. Aber das ändert nichts daran, dass Personal Shopper unendlich interessanter ist als die meisten Filme auch in einem guten Cannes-Jahr wie diesem. Für die Buhs am Ende gibt es insofern keinen Grund. Aber längst hat der Dämon des Mainstream-Geschmacks das Festival wieder übernommen.
+ + +
Der perfektere, und noch fetischistischere Film, einer der Filme, die mir bisher am besten gefallen haben, ist Mademoiselle des Koreaners Park Chan-wook. Auch hier zeigt die Reaktion vieler Filmkritiker – nicht die der Freunde und Bekannten, mit denen ich rede und die hier zu Wort kommen, aber der Mehrheit im Saal oder in manchen Kritikerspiegeln, nur deren eigene Beschränkungen. Die Reaktion zeigt ein grundsätzliches Unverständnis für asiatische Film auch zwölf Jahre nach 2004, als das Kino Asiens hier seinen Durchbruch feierte – unter anderem mit Park Chan-wooks Oldboy, seinem ersten Film in Cannes. Mademoiselle spielt in den 1930er Jahren, aber man spürt die viktorianische Atmosphäre der Vorlage von Sarah Waters. Die 1930er Jahre waren jedoch die Zeit der japanische Besetzung von Korea und der Mandschurei.
+ + +
Es geht los mit einer jungen Frau. Sie ist Koreanerin, und kommt in ein Riesenhaus mit englischem und japanischem Trakt, verwirrend, labyrinthisch, wie in einer klassischen Gothic Tale. Sie bekommt erstmal eine Führung und wir mit ihr. Zentral ist die kostbare Bibliothek des Onkels ihrer Herrin, eines Büchersammlers.
Sie bekommt eine kleine fensterlose Kammer zugewiesen, direkt neben dem Schlafzimmer ihrer Herrin. Die ist eine unverheiratete Frau, und kurz nach dieser
Exposition begreifen wir, dass die Dienerin eigentlich perfekt ausgebildete Taschendiebin ist, die bereits mit fünf Jahren echte Steine von falschen unterscheiden konnte und alle Tricks kennt. Wir wissen nun, dass es einen Plot gegen die reiche Erbin gibt.
Doch bald beginnt eine Liebesgeschichte zwischen Herrin und Dienerin, und der Plan gerät ins Wanken. Oder ist alles wieder ganz anders?
+ + +
In mehreren Kapiteln, mit Perspektivwendungen und Überraschungen erzählt Park Chan-wook überaus virtuos eine komplexe Liebesgeschichte, die zugleich ein romantischer Kriminalthriller ist. Mademoiselle ist ein Film voller Drive und Dynamik, getrieben von schöner Musik und bemerkenswerter Inszenierungskunst. Und eine koreanisch-japanische lesbische Liebesgeschichte ist
schon als solche ein Tabubruch.
Auch hier aber steht der Fetischismus im Zentrum: Der des Zuschauers, versteht sich. Denn alles hier ist prachtvoll anzusehen: Nicht nur die nackten Frauenleiber bei den Sexszenen, sondern die kostbaren Bücher der Bibliothek, die Wandgemälde, Möbel und Tapeten, selbst ein riesiger Octopus, der einmal in einem viel zu kleinen Aquarium im für die Story bedeutenden Keller des Onkels auftaucht, auch als lustiges Selbstzitat des Regisseurs (in Oldboy wurde ein kleiner Octopus lebendig gegessen) ist herrlich.
+ + +
Park erfüllt damit alle Erwartungen an sei Kino: Mademoiselle argumentiert in Bildern, dies ist ein Film der sinnlichen Gewissheiten, nicht der Analyse und psychologischen Triftigkeit, die auch die guten Filme der Europäer oft im Würgegriff hält.
Übrigens hat der Film, dessen koreanischer Titel »Unverheiratete Frau« bedeutet, den internationalen Titel The Handmaiden. Die beiden Titel bezeichnen unterschiedliche Figuren – ein zusätzlicher Beleg, dafür, dass im Kino alles im Auge des Betrachters liegt. (Anm. d. Red: In Deutschland kommt der Film unter dem Titel Die Taschendiebin in die Kinos)
+ + +
Überaus bemerkenswert ist auch Bruno Dumonts Ma Loute, der verrückteste, auch ausgelassenste Film im bisherigen Wettbewerb. Wir befinden uns wieder in der nordöstlichsten Küstengegend Frankreichs, und in jenem stilistischen Terrain, das der Franzose in seinem letzten Film P'tit Quinquin ausgelotet hat, der auf Festivals im Kino und danach als Serie auf Arte lief.
+ + +
Starker Dialekt, Karikatur, Slapstick, Running Gags und Overacting, dazu das Casting von Laien mit Segelohren, Sprachfehlern und schlechter Haut markieren den sehr speziellen Humor Dumonts, einen lakonischen Absurdismus, der am ehesten den Komödien von Jacques Tati verwandt ist.
Polizisten sind hier gleichzeitig dick und doof, aber würdevoll, selbst wenn sie mit Wampe und Melone eine Düne herunterpurzeln, Frauen klingen, wenn sie reden wie Operndiven, jodeln »oh« und »ah«
und betonen bei »wie schön!« das erste Wort,
Je länger der Film dauert, um so mehr spinnt er einfach. Irgendwann fliegt eine Frau wie Magneto über die Dünen und ein Polizist wie ein Ballon.
+ + +
Alles spielt 1910: Sommerferien, die debile Landbevölkerung trifft auf den debilen Adel aus Lille, die »Wisse-ki« zum »Aperi« trinken, entweder Hysteriker sind, oder depressiv, oder es an »den Nerven« haben. Die Wirklichkeit ist melodramatisch. Wir sehen Taucher und Stürme, Proletarier im Wald auf Adelsjagd und höhere Töchter, die – ein wunderbares Bild – mit Krocket-Holzschlägern auf sich eindreschen. Katholizismus trifft Kannibalismus, und Liebe geht über
Klassengrenzen.
Das ist sehr witzig und klug, wenn man es mag, ansonsten eine gnadenlose Zumutung.
+ + +
Und die Musik ist toll, es ist die Prelude au deuxieme acte des unbekannten belgischen Wagnerianders Lekeu.
+ + +
Junge Frauen sind bei Dumont immer super. Star des Films ist daher auch hier die sich Raph nennende Debütantin, die die Tochter von Binoche und einzige humane Adelige spielt. Und von der man bis nach Ende des Films nicht weiß, ob sie eine junge Frau oder doch ein junger Mann ist. Erst die Pressekonferenz brachte Aufschluss.
+ + +
Das Ende von Personal Shopper spielt ziemlich unvermittelt in Oman. Und ich frage mich, ob am Ende diese ganzen Globalfilme, die Filme, die in acht Ländern spielen, nicht vor allem als Ergebnis der Filmförderung zu verstehen sind: Weil man im Oman Geld, viel Geld bekommt, haben dann die Filme plötzlich ein paar Szenen im Oman.
(to be continued)