06.05.2012

Die sicht­baren Macher

Italy, love it or leave it
Gelungene Selbst-Inszenierung:
Italy, love it or leave it
von Gustav Hofer & Luca Ragazzi

Zwischenbilanz vom 27. Internationalen Dokumentarfilmfestival München

Von Natascha Gerold

Das wichtige Woche­n­ende beim Dok.fest München ist gleich rum. Wichtige Themen der Filme waren die Erin­ne­rung, die faszi­nie­rendste aller (Un-) Fähig­keiten des mensch­li­chen Gedächt­nisses, und die Einsam­keit, die schmerz­haf­teste aller Empfin­dungen – mitunter auch als gnaden­loses Duo. Vor allem eines konnte man bei den Filmen des Dok.fests bislang beob­achten: Doku­men­tar­filmer von heute stellen sich für ihre Arbeit zunehmend selbst vor die Kamera oder sind aus dem Off zu hören. Sie werden unmit­telbar sichtbar und hörbar und bekunden ihre subjek­tive Sicht­weise von Bezie­hungen oder Ereig­nissen. Objek­ti­vität, die im Doku­men­tar­film ohnehin nur eine Behaup­tung sein kann, wird mit dieser deut­li­chen Posi­tio­nie­rung als gestal­tender und vermit­telnder Autor als obsolete Konstruk­tion verab­schiedet. Bei vielen Filmen wird klar, dass Selbst­re­fe­ren­tia­lität auf Macher und Medium dring­li­cher sind denn je.

Ja ja, immer diese Roman­tiker. Erin­ne­rung, sagte Jean Paul, sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden könnten. Was aber, wenn wir keine Erin­ne­rungen haben, viel­leicht sogar, weil manche von uns sich gar nicht erinnern wollen? Die Wohnung, ein Film des israe­li­schen Regis­seurs Arnon Gold­finger, der das Dok.fest eröffnete, zeigt, dass Zeit­reisen in die eigene Fami­li­en­ge­schichte Geduld kosten und zum zwischen­mensch­li­chen Draht­seilakt werden können: Nach dem Tod seiner Groß­mutter löst Gold­finger zusammen mit seiner Mutter die Wohnung der Groß­el­tern auf und entdeckt dabei, dass die jüdischen Groß­el­tern vor und nach dem Krieg dem berüch­tigten SS-Komman­danten Baron von Milden­stein und seiner Frau befreundet gewesen sein müssen. Er, der ohne Kennt­nisse seines fami­liären Hinter­grunds aufwuchs, weil die Mutter vor allem das Leben im Hier und Jetzt predigte, fragt als erster in der Familie nach – und bringt dabei unbe­kannte, weil verdrängte Zusam­men­hänge ans Licht, die nicht nur sein Leben verändert haben. Der Gewinn des Films liege für ihn weniger in den Antworten, als darin, dass endlich Fragen gestellt werden durften, sagte Gold­finger nach der Vorfüh­rung.

Womit fängt die Geschichte an? Diese Frage ist struk­tur­be­stim­mend für Philip Scheff­ners Revision, in dessen Zentrum die Erschießung zweier Roma an der deutsch-polni­schen Grenze im Sommer 1992 steht. Ob Jagd­un­fall oder Mord – die Umstände der Tat sind auch nach 20 Jahren und geschlos­sener Gerichts­akte alles andere als geklärt. Auf unge­wöhn­liche Art appel­liert Scheffner sowohl an die Erin­ne­rung der Familien, die jeweils Vater und Ehemann verloren haben und von der Gerichts­ver­hand­lung 1999 nicht in Kenntnis gesetzt wurden, als auch an die Erin­ne­rung der Beamten und der unmit­telbar am Tatort Anwe­senden. Heraus kommt dabei keine Re-Konstruk­tion des Falls, sondern eine Synopse verschie­dener Lesarten einer Wirk­lich­keit, die frag­wür­diges Behör­den­ge­baren und Unge­rech­tig­keit auf unter­schied­lichsten Ebenen freilegt.

Heiter-melan­cho­lisch kommen die wilden Erin­ne­rungen an die Zeit vor der Wende von Marten Persiel und seiner ehema­ligen Skater-Clique in This Ain’t Cali­fornia daher. Ein Skater-Vete­ra­nen­treff in einem Berliner Hinterhof bildet den Rahmen für die teils animierten, teils szenisch insze­nierten Bilder und Original Super-8-Material. Der Zuschauer erfährt von den »Roll­brett­fah­rern«, die Anfang der 1980er Jahre als Indi­vi­dua­listen skeptisch vom Staats­ap­parat beäugt und allmäh­lich immer attrak­tiver für Propa­gan­da­zwecke wurden. Anlass für die Zusam­men­kunft im Film ist der Tod eines der Cliquen­mit­glieder genannt »Panik«, der nach der Wende zum Bund und später in Afgha­nistan gefallen sein soll. Hat es diesen Panik wirklich gegeben oder ist er ein Mythos, der extra für den fiktional aufbe­rei­teten Doku­men­tar­film kreiert wurde? Darüber schweigen sich die Macher aus und weisen dies­be­züg­liche Nach­fragen brüsk zurück, was ange­sichts ihres hin- und mitreißenden Films mehr als befremd­lich wirkt. Die Abbildung einer Wirk­lich­keit darf natürlich auch im Doku­men­tar­film durchaus erfunden sein; doch der Zuschauer hat ein Recht darauf, die Bilder entspre­chend einordnen zu können.

Bei Italy, Love It or Leave It kommt er zu diesem Recht und erfährt auf diese Weise mehr über den Ist-Zustand des südlichen Nach­bar­lands als mittels so manchen Korre­spon­dent­be­richts. In geschickter Drama­turgie setzen sich Gustav Hofer und Luca Ragazzi als Italien-Skeptiker respek­tive Italien-Anwalt in Roadmovie-Szene und begegnen zwölf Personen, die auf die Frage »Bleiben oder gehen?« eine unmiss­ver­s­tänd­liche Antwort haben.

Auch Pary El-Qalili erschafft sich in Schild­krö­tenwut einen künst­li­chen Darstel­lungs­raum. Sie will sich dem Vater annähern, der die Familie einst verließ, um in Palästina zu leben. Seit seiner Auswei­sung und Rückkehr vor zwölf Jahren meidet er das Fami­li­en­leben in Berlin und lebt in selbst gewählter Einsam­keit im heimi­schen Keller, wo die Regis­seurin die Inter­view­si­tua­tion ansiedelt. Doch Begreifen-Wollen und Erklären-Können haben noch einen anderen, frucht­ba­reren Raum, wo es weniger Worte von Vater und Tochter bedarf: Wie bei Hofer und Ragazzi führt das gemein­same Reisen, hier zu Schau­plätzen der Vergan­gen­heit des Vaters in Kalkilia, zu neuer tieferer Erkenntnis.

Ist es möglich, der eigenen Kunst eine Ausdrucks­form zu geben, wenn staatlich verord­nete Einsam­keit die Ausübung des leiden­schaft­lich geliebten Berufs verbietet? This Is Not a Film bejaht dies allein durch seine Existenz. Der iranische Regisseur Jafar Panahi, verur­teilt zu sechs Jahren Gefängnis und 20 Jahren Berufs­verbot, wartet derzeit auf die Berufung seines Falls und steht deshalb unter Haus­ar­rest. In der Doku­men­ta­tion, die er zusammen seinem Freund Mojtaba Mirtah­masb geschaffen hat, zeigt sich Panahi bewun­derns­wert gefasst und mitunter humorvoll als Wartender, Lehrender, Erklä­render, aber vor allem als Mensch, den die Kunst des Filmens als ihren Kanal nutzt, unab­hängig eines Wollens oder Dürfens. Neben den vielen Auffüh­rungen, die man dem Nicht-Film weltweit wünscht – wäre da nicht auch der Gedanke reizvoll, dass ihn Thea­ter­re­gis­seure in als filmi­sches Lehrstück auf ihre Bühnen brächten?

»Es war, als ob jemand anderer die Kamera hielte«, beschreibt Ahmed Rashwan seine Arbeit im Film Born on the 25th of January, der in der Reihe »Arabische Welten« gezeigt wird, dem Bereich für Filme über die vielen Facetten des dortigen gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Wandels. Auch für Rashwan ist Filmen eine innere Notwen­dig­keit und Schutz vor dem Vergessen, nicht zuletzt das der Ereig­nisse auf dem Tahrir-Platz seit Beginn der Revo­lu­tion in Ägypten. In Born on the 25th of January begleitet er ihre verschie­denen Phasen: das anfäng­liche bürger­liche Aufbe­gehren gegen die Regierung Mubarak, das Vertrauen in die Armee, die Versuche verschie­dener Grup­pie­rungen, die Umwäl­zungen zu verein­nahmen, die zuneh­mende Unzu­frie­den­heit über den Militärrat und seine Gerichte. Praktisch nebenbei macht er auf Sehge­wohn­heiten aufmerksam, konter­ka­riert die parallel ausge­strahlte Fernseh-Bericht­erstat­tung, erklärt, warum er in manchen Momenten das Foto dem Film vorzog und sorgt dafür, dass man die Bericht­erstat­tung über die aktuellen Ereig­nisse aufmerk­samer wahr­nehmen kann.

Sichtbar-Macher machen sich verstärkt sichtbar – auch hier­zu­lande, wo sich mitt­ler­weile knapp 350 Doku­men­tar­film­re­gis­seure innerhalb ihres Berufs­ver­bands orga­ni­siert haben, um gemeinsam gegen die mitunter prekären Arbeits­be­din­gungen und immer geringere Bezahlung anzugehen. Beim Dok.fest treten sie zum ersten Mal als Inter­es­sen­ver­band an die Öffent­lich­keit – das Feuer­wehr­wehr­auto, das zur Festi­va­leröff­nung vor dem City-Kino für Aufsehen sorgte, steht am Festival-Sonntag vor der HFF, wo Doku­men­tar­re­gis­seure, unter anderem Dominique Klug­hammer, Christian Bock und Marc Haeneke, ab 20 Uhr im Rahmen einer Podi­ums­dis­kus­sion im Audimax über die Zukunft ihres Berufs­stands sprechen.