Die sichtbaren Macher |
||
Gelungene Selbst-Inszenierung: Italy, love it or leave it von Gustav Hofer & Luca Ragazzi |
Von Natascha Gerold
Das wichtige Wochenende beim Dok.fest München ist gleich rum. Wichtige Themen der Filme waren die Erinnerung, die faszinierendste aller (Un-) Fähigkeiten des menschlichen Gedächtnisses, und die Einsamkeit, die schmerzhafteste aller Empfindungen – mitunter auch als gnadenloses Duo. Vor allem eines konnte man bei den Filmen des Dok.fests bislang beobachten: Dokumentarfilmer von heute stellen sich für ihre Arbeit zunehmend selbst vor die Kamera oder sind aus dem Off zu hören. Sie werden unmittelbar sichtbar und hörbar und bekunden ihre subjektive Sichtweise von Beziehungen oder Ereignissen. Objektivität, die im Dokumentarfilm ohnehin nur eine Behauptung sein kann, wird mit dieser deutlichen Positionierung als gestaltender und vermittelnder Autor als obsolete Konstruktion verabschiedet. Bei vielen Filmen wird klar, dass Selbstreferentialität auf Macher und Medium dringlicher sind denn je.
Ja ja, immer diese Romantiker. Erinnerung, sagte Jean Paul, sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden könnten. Was aber, wenn wir keine Erinnerungen haben, vielleicht sogar, weil manche von uns sich gar nicht erinnern wollen? Die Wohnung, ein Film des israelischen Regisseurs Arnon Goldfinger, der das Dok.fest eröffnete, zeigt, dass Zeitreisen in die eigene Familiengeschichte Geduld kosten und zum zwischenmenschlichen Drahtseilakt werden können: Nach dem Tod seiner Großmutter löst Goldfinger zusammen mit seiner Mutter die Wohnung der Großeltern auf und entdeckt dabei, dass die jüdischen Großeltern vor und nach dem Krieg dem berüchtigten SS-Kommandanten Baron von Mildenstein und seiner Frau befreundet gewesen sein müssen. Er, der ohne Kenntnisse seines familiären Hintergrunds aufwuchs, weil die Mutter vor allem das Leben im Hier und Jetzt predigte, fragt als erster in der Familie nach – und bringt dabei unbekannte, weil verdrängte Zusammenhänge ans Licht, die nicht nur sein Leben verändert haben. Der Gewinn des Films liege für ihn weniger in den Antworten, als darin, dass endlich Fragen gestellt werden durften, sagte Goldfinger nach der Vorführung.
Womit fängt die Geschichte an? Diese Frage ist strukturbestimmend für Philip Scheffners Revision, in dessen Zentrum die Erschießung zweier Roma an der deutsch-polnischen Grenze im Sommer 1992 steht. Ob Jagdunfall oder Mord – die Umstände der Tat sind auch nach 20 Jahren und geschlossener Gerichtsakte alles andere als geklärt. Auf ungewöhnliche Art appelliert Scheffner sowohl an die Erinnerung der Familien, die jeweils Vater und Ehemann verloren haben und von der Gerichtsverhandlung 1999 nicht in Kenntnis gesetzt wurden, als auch an die Erinnerung der Beamten und der unmittelbar am Tatort Anwesenden. Heraus kommt dabei keine Re-Konstruktion des Falls, sondern eine Synopse verschiedener Lesarten einer Wirklichkeit, die fragwürdiges Behördengebaren und Ungerechtigkeit auf unterschiedlichsten Ebenen freilegt.
Heiter-melancholisch kommen die wilden Erinnerungen an die Zeit vor der Wende von Marten Persiel und seiner ehemaligen Skater-Clique in This Ain’t California daher. Ein Skater-Veteranentreff in einem Berliner Hinterhof bildet den Rahmen für die teils animierten, teils szenisch inszenierten Bilder und Original Super-8-Material. Der Zuschauer erfährt von den »Rollbrettfahrern«, die Anfang der 1980er Jahre als Individualisten skeptisch vom Staatsapparat beäugt und allmählich immer attraktiver für Propagandazwecke wurden. Anlass für die Zusammenkunft im Film ist der Tod eines der Cliquenmitglieder genannt »Panik«, der nach der Wende zum Bund und später in Afghanistan gefallen sein soll. Hat es diesen Panik wirklich gegeben oder ist er ein Mythos, der extra für den fiktional aufbereiteten Dokumentarfilm kreiert wurde? Darüber schweigen sich die Macher aus und weisen diesbezügliche Nachfragen brüsk zurück, was angesichts ihres hin- und mitreißenden Films mehr als befremdlich wirkt. Die Abbildung einer Wirklichkeit darf natürlich auch im Dokumentarfilm durchaus erfunden sein; doch der Zuschauer hat ein Recht darauf, die Bilder entsprechend einordnen zu können.
Bei Italy, Love It or Leave It kommt er zu diesem Recht und erfährt auf diese Weise mehr über den Ist-Zustand des südlichen Nachbarlands als mittels so manchen Korrespondentberichts. In geschickter Dramaturgie setzen sich Gustav Hofer und Luca Ragazzi als Italien-Skeptiker respektive Italien-Anwalt in Roadmovie-Szene und begegnen zwölf Personen, die auf die Frage »Bleiben oder gehen?« eine unmissverständliche Antwort haben.
Auch Pary El-Qalili erschafft sich in Schildkrötenwut einen künstlichen Darstellungsraum. Sie will sich dem Vater annähern, der die Familie einst verließ, um in Palästina zu leben. Seit seiner Ausweisung und Rückkehr vor zwölf Jahren meidet er das Familienleben in Berlin und lebt in selbst gewählter Einsamkeit im heimischen Keller, wo die Regisseurin die Interviewsituation ansiedelt. Doch Begreifen-Wollen und Erklären-Können haben noch einen anderen, fruchtbareren Raum, wo es weniger Worte von Vater und Tochter bedarf: Wie bei Hofer und Ragazzi führt das gemeinsame Reisen, hier zu Schauplätzen der Vergangenheit des Vaters in Kalkilia, zu neuer tieferer Erkenntnis.
Ist es möglich, der eigenen Kunst eine Ausdrucksform zu geben, wenn staatlich verordnete Einsamkeit die Ausübung des leidenschaftlich geliebten Berufs verbietet? This Is Not a Film bejaht dies allein durch seine Existenz. Der iranische Regisseur Jafar Panahi, verurteilt zu sechs Jahren Gefängnis und 20 Jahren Berufsverbot, wartet derzeit auf die Berufung seines Falls und steht deshalb unter Hausarrest. In der Dokumentation, die er zusammen seinem Freund Mojtaba Mirtahmasb geschaffen hat, zeigt sich Panahi bewundernswert gefasst und mitunter humorvoll als Wartender, Lehrender, Erklärender, aber vor allem als Mensch, den die Kunst des Filmens als ihren Kanal nutzt, unabhängig eines Wollens oder Dürfens. Neben den vielen Aufführungen, die man dem Nicht-Film weltweit wünscht – wäre da nicht auch der Gedanke reizvoll, dass ihn Theaterregisseure in als filmisches Lehrstück auf ihre Bühnen brächten?
»Es war, als ob jemand anderer die Kamera hielte«, beschreibt Ahmed Rashwan seine Arbeit im Film Born on the 25th of January, der in der Reihe »Arabische Welten« gezeigt wird, dem Bereich für Filme über die vielen Facetten des dortigen gesellschaftlichen und politischen Wandels. Auch für Rashwan ist Filmen eine innere Notwendigkeit und Schutz vor dem Vergessen, nicht zuletzt das der Ereignisse auf dem Tahrir-Platz seit Beginn der Revolution in Ägypten. In Born on the 25th of January begleitet er ihre verschiedenen Phasen: das anfängliche bürgerliche Aufbegehren gegen die Regierung Mubarak, das Vertrauen in die Armee, die Versuche verschiedener Gruppierungen, die Umwälzungen zu vereinnahmen, die zunehmende Unzufriedenheit über den Militärrat und seine Gerichte. Praktisch nebenbei macht er auf Sehgewohnheiten aufmerksam, konterkariert die parallel ausgestrahlte Fernseh-Berichterstattung, erklärt, warum er in manchen Momenten das Foto dem Film vorzog und sorgt dafür, dass man die Berichterstattung über die aktuellen Ereignisse aufmerksamer wahrnehmen kann.
Sichtbar-Macher machen sich verstärkt sichtbar – auch hierzulande, wo sich mittlerweile knapp 350 Dokumentarfilmregisseure innerhalb ihres Berufsverbands organisiert haben, um gemeinsam gegen die mitunter prekären Arbeitsbedingungen und immer geringere Bezahlung anzugehen. Beim Dok.fest treten sie zum ersten Mal als Interessenverband an die Öffentlichkeit – das Feuerwehrwehrauto, das zur Festivaleröffnung vor dem City-Kino für Aufsehen sorgte, steht am Festival-Sonntag vor der HFF, wo Dokumentarregisseure, unter anderem Dominique Klughammer, Christian Bock und Marc Haeneke, ab 20 Uhr im Rahmen einer Podiumsdiskussion im Audimax über die Zukunft ihres Berufsstands sprechen.