Schauprozess per Dokupranger |
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Michael Jackson im Weißen Haus mit dem damaligen Präsidenten Ronald Reagan und dessen Frau Nancy (1984) |
Er war der King of Pop: Michael Jackson, die erste globale schwarze Medienikone. Geht es nach der Fernsehdokumentation Leaving Neverland des Regisseurs Dan Reed, dann ist er bald ein König Ohneland. Schlimmer noch: Ein Monster.
»Leaving Neverland« erzählt vom Monster an der Arbeit, wie im Jahr 1987 Michael Jackson bei Dreharbeiten zu einer Werbung den zehnjährigen Jimmy Safechuck kennenlernte und ihn, so jedenfalls behauptet es der erwachsene Safechuck in diesem Film, bald danach zum ersten Mal sexuell verführte.
Das ist ein unangenehmer Film, berstend voll mit ekelhaften Geschichten, mit Details, die kaum jemand wissen will und die niemand wissen muss, um sich ein Bild zu machen. Denn nach 20 Minuten hat der Film gesagt, was er zu sagen hat, danach wiederholt und variiert er dies nur immer wieder.
Alles ist im Einzelnen unglaublich detailliert und explizit in einer Weise, dass sich die Frage aufdrängt: Wen kann, wen soll das alles interessieren außer den direkt Betroffenen, und jenen Juristen, die darüber in einem Gerichtsverfahren entscheiden müssen?
Ein solches Verfahren hat es bereits gegeben. Michael Jackson wurde zu Lebzeiten freigesprochen. Jetzt versucht der Film den Prozess, der im Gerichtssaal nicht wiederaufgenommen werden kann, ersatzweise auf der Kinoleinwand zu führen, um Jackson wenigstens in den Augen der Nachwelt symbolisch zu bestrafen.
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Die beiden jeweils zweistündigen Teile, die am Samstag erstmalig im deutschen Fernsehen im nicht gerade für besondere Sensibilität oder soziales Gewissen bekannten Privatsender ProSieben zu sehen waren, bestehen größtenteils aus Interviews mit Safechuck und Wade Robson, den zwei heute jungen Männern, die hier zu Kronzeugen der These und zu Hauptakteuren des Films werden. Dazu kommen öffentliche Archivbilder und Nahaufnahmen von den Gesichtern Safechucks und Robsons und denen ihrer Mütter. Der Regisseur suggeriert mit Drohnenaufnahmen über dem ehemaligen Anwesen Jacksons zugleich die gottgleiche Perspektive eines allwissenden Erzählers. Stilistisch ist dies ein schwacher Film, unter dem Niveau der großen amerikanischen Dokumentarkunst.
Erstmalig gezeigt wurde der Film Ende Januar beim amerikanischen Sundance Film Festival. Seitdem nahmen Radiosender in Kanada, in den Niederlanden und in Neuseeland Jackson-Songs aus dem Programm. Und der Kreativchef der französischen Nobelmodemarke Louis Vuitton beeilte sich, von Jackson inspirierte Entwürfe aus seiner zweiten Kollektion zu entfernen.
Auf den ersten Blick scheint das Urteil gegen Jackson gesprochen.
Doch der Eindruck trügt. »Leaving Neverland« ist trotz alldem nämlich hochumstritten, auch in den USA, und das hat seine guten Gründe. Denn Regisseur Dan Reed dokumentiert nicht, er plädiert.
Dieser Film macht Michael Jackson postum den Prozess. Er ist ein Dokument der Anklage. Er ist zu keinem Zeitpunkt ausgewogen. Argumente und Plädoyers zur Verteidigung werden nicht gehört, entlastende Indizien kommen nicht vor. Niemand aus Jacksons früherem Umfeld wurde vom Filmteam angefragt. Die einseitige Befragung von zwei Zeugen soll aussagekräftiger sein als die gesamten polizeilichen Ermittlungen und Erkenntnisse mehrerer Gerichtsprozesse.
So hinterlässt »Leaving
Neverland« in jeder Hinsicht einen unangenehmen Nachgeschmack.
Gerade darum muss man noch einmal an die Tatsachen erinnern: Die bekanntlich nicht zimperliche amerikanische Justiz hat Michael Jackson freigesprochen. Das FBI hatte zuvor jahrelang ermittelt, ohne Erfolg, der 300-seitige Ermittlungsbericht der Behörde ist öffentlich im Internet einsehbar.
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Man muss Michael Jackson trotzdem nicht mögen, man kann ihn »seltsam« finden – »a weirdo« (Richard Roeper), es »bizarr« und geschmacklos oder sogar »beunruhigend« nennen, dass er sich mit Dutzenden von heranwachsenden Jungen umgab – aber fast keiner von ihnen hat je von fragwürdigem Verhalten des Stars berichtet. Dass Jackson ein Kinderschänder ist, dass er auch nur pädophile Neigungen hatte, ist einstweilen vollkommen unbewiesen.
Zugleich gibt es massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit zumindest von Wade Robson, einem der zwei angeblichen Opfer. Nach der Premiere des Films gab es neben Beifall auch viel Kritik an Machart und Machern. In einer mehrseitigen Reportage berichtete das amerikanische Magazin »Forbes« über Wayne Robson, den Kronzeugen.
Während zweier Strafprozesse hatten Robson und Safechuck – auch dort bereits im Erwachsenenalter – als Zeugen der Verteidigung Michael Jackson
entlastet, und ausgesagt, von Jackson nie belästigt oder gar missbraucht worden zu sein. Robson hatte seine Aussagen unter Eid und im Kreuzverhör wiederholt. 2009 schrieb Robson, immerhin mit 27, einen schwärmerischen Nachruf.
Was hat sich seitdem geändert? Einiges: 2011 bat Robson die »Michael Jackson«-Stiftung um eine Stelle. Sie wurde ihm verweigert. Film- und Buchprojekte über Jackson scheiterten, wie überhaupt Robsons eigene Karriere als Tänzer und Schauspieler.
»Forbes«
kommt auch auf Michael Jacksons Lieblingsbuch zu sprechen: »Wer die Nachtigall stört« handelt von einem jungen Schwarzen, dessen Leben zerstört wird – durch falsche Anschuldigungen.
Dass »Leaving Neverland« monumentale vier Stunden braucht, um diese Anklage aufzubauen und wieder und wieder zu reproduzieren, schwächt den Eindruck enorm. Es wirkt, als glaubten die Ankläger sich selber und ihren eigenen Argumenten nicht, müssten durch Masse wettmachen, was an Stichhaltigkeit fehlt.
Die Länge ist so übertrieben, wie die Einseitigkeit dieses Films monströs ist.
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Monströs ist auch die Neigung des internationalen Publikums, sich zu schnellen und absoluten, vollkommen einseitigen Urteilen aufzuschwingen. Reflexionsverweigerung und ein Drang nach Vereinfachung halten Einzug in unsere Gesellschaft. Deshalb glauben wir schnell und gern, was wir zu sehen glauben – dieser Film verbreitet Indizien einer bestimmten Sichtweise und kommentiert sie so saftig wie selbstgewiss – »Fake News« in Reinform.
Unabhängig von der Frage, wem man am Ende Glauben schenken mag, ist es erstaunlich, wie wenig Medienkompetenz in der überwiegenden Berichterstattung zu diesem Film erkennbar wird: Zeugenaussagen und die suggestiv konstruierte Wirklichkeit eines Dokumentarfilms werden als Tatsache wiedergegeben, die bisherige Prozessgeschichte wird überhaupt nicht beleuchtet, legitime Einwände werden ignoriert. Ebenso wenig werden in dieser Berichterstattung die – legitimen, aber eben vorhandenen – massiven kommerziellen Interessen eines Dokumentarfilms und eines Fernsehsenders berücksichtigt.
Dieser Befund stimmt traurig, wie auch die wachsende Bereitschaft, rechtsstaatliche Grundsätze über Bord zu werfen: »Im Zweifel für den Angeklagten«; »Kein Urteil ohne Verteidigung und fairen Prozess« – was wir gegenüber Diktaturen selbstverständlich einfordern, ist im öffentlichen Schauprozess des Trash-Fernsehens schnell vergessen.
Der Film beschreibt Prozesse der Abhängigkeit und der Verführung – der Verführung durch Ruhm wie durch Reichtum. Der erliegen auch jene, die hier versuchen, ein Spektakel zu inszenieren über einen Toten, der sich nicht mehr wehren kann.
Dieser Film und die so oder so unangenehme, schmierige Kapitalisierung des Themas Pädophilie, Missbrauch und allem, was es umgibt, sind eine Mahnung, innezuhalten. Und dazu, einen angemesseneren Umgang mit diesen Themen zu suchen.
Öffentliche Hysterie und Schauprozesse am Fernsehpranger, ohne Verteidigung und mit dem Publikum als Richter schaden der Sache, so wie die Lust an moralischen Schnellverfahren unserem Charakter und der ganzen Gesellschaft schadet.
Die Monster sind nicht nur auf einer Seite. Sie sind überall.