Der Boandlkramer und die Auswertungskaskade |
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»Großes Eröffnungsprogramm«: Vorne rechts Kinobetreiber Fritz Preßmar bei »Montag ist Kinotag« | ||
(Foto: artechock) |
Von Dunja Bialas
Der Boandlkramer, das ist im alten bayerischen Volksgut der Tod. Joseph Vilsmaier hat seinen letzten Film Der Boandlkramer und die ewige Liebe genannt, wenige Monate nach Fertigstellung hat er im Februar 2020 das Zeitliche gesegnet. Naturgemäß obliegt es nun nicht mehr ihm, über das Schicksal seines Films zu bestimmen. Eigentlich war geplant, den Film letzten Dezember in die Kinos zu bringen, das wurde auf den Februar verschoben. Und dann pauschal auf das erste Halbjahr. Als sich Ende April aber immer noch nichts tat und keine Kinoöffnung in Sicht war, verkündete Drehbuchautor Bully Herbig den Start auf Amazon Prime.
Wie eine Fledderei des Vilsmaier-Vermächtnisses wirkt der »exklusive« Online-Start. Ab Freitag wird Vilsmaier beim Versand-Giganten versendet, während er von den Kinobetreibern landauf, landab immer noch zärtlich »der Sepp« genannt wird. Für die Kinos steht Der Boandlkramer als einmaliges Event im Februar 2022 zur Verfügung, als Kino-Gedenkveranstaltung zu Vilsmaiers Todestag. Das war’s dann aber auch schon mit den Kinovorführungen. Anders als beispielsweise der Streaming-Anbieter Netflix, der immer wieder eine parellele Filmauswertung im Kino möglich macht, kooperiert Amazon mit den Kinobetreibern anscheinend nicht. Oder ist es die Produktionsfirma? Leonine äußert sich nach Redaktionsschluss auf die Anfrage von »artechock« wie folgt: »[Es] sind keine weiteren Kinovorführungen von unserer Seite vorgesehen.«
Für die bayerischen Kinos hat ein Vilsmaier-Film immer Volksfest-Charakter mit Blockbuster-Potential. Die Absage trifft die Kinos auf dem Land ins Mark, in München auch das Filmtheater Sendlinger Tor. Es muss ohnehin bangen, um den Mietvertrag und um eine anhängige Räumungsklage, kündigt aber seine Rückkehr in den Spielbetrieb seit Wochen hoffnungsvoll mit einem von René Birker handgemalten Boandlkramer-Plakat an. Das Übergehen der Kinos just in dem Moment, an dem diese wieder öffnen können, könnte man mit »dumm gelaufen« abtun, ist aber kein Kavaliersdelikt. Boandlkramer wurde mit knapp einer Million Euro durch den FilmFernsehFonds (FFF) Bayern gefördert. Mit dem Fördervertrag verpflichtet sich der Vertragsnehmer zu einer Kinoauswertung. Leonine-Co-Produktions- und Verleihchef Fred Kogel hat deshalb auch die Zurückzahlung der Steuergelder angekündigt.
Die Sache bleibt indes problematisch. Denn die 900.000 Euro Fördergeld standen zur Verfügung, um den Film zu realisieren. Damit ging die Produktionsfirma aber auch eine Verwertungs-Verpflichtung ein, die durch Corona nicht außer Kraft gesetzt wird. Der FFF Bayern bestätigt auf Nachfrage, dass es in seinem Haus keine »Lex Corona« gäbe, alle Verträge behielten in ihrer ursprünglichen Form Gültigkeit. Die Förderung aufgrund von partieller Nicht-Einhaltung des Vertrages nun zurückzuzahlen, verstellt den Blick auf das gebrochene Commitment. Die Filmförderung kann keine temporäre Zwischenfinanzierung sein, ein günstiger Kredit, der noch dazu kulturelles Ansehen einbringt: Der Film wurde jüngst beim Bayerischen Filmpreis mit dem Drehbuchpreis für Ulrich Limmer, Marcus H. Rosenmüller und Michael Bully Herbig ausgezeichnet. Außerdem haben bereits die BR und ARD Degeto die Fernsehlizenz erworben – die werden sie Amazon jetzt wohl vor die Füße werfen.
Aber auch der nicht enden wollende Corona-Tiefschlaf, den die in Bayern politisch Verantwortlichen über die Kultur verfügt haben, hat Mitschuld an dem Amazon-Verkauf. Hätte es einen angekündigten, planbaren und eingehaltenen Vorlauf für die Kinoöffnung gegeben, wie z.B. in der Schweiz oder Frankreich, wo unabhängig von Inzidenzzahlen die Öffnung der Kultur auf einen realistischen Zeitpunkt terminiert wurde, wäre der Film seitens der Produktion für die Kinos vielleicht noch eingeplant worden. Kern des Problems ist also, dass die Corona-Politik beharrlich auf Sicht fährt und damit die Planbarkeit für alle Beteiligten – Produktion, Verleih, Kinos, PR-Agenturen, Presse – verunmöglicht.
Nicht ausgeschlossen, dass der Boandlkramer-Fall erst den Beginn einer größeren Umstrukturierung markiert. Noch pochen die Kinoverbände auf die Verwertungsfenster und Sperrfristen: Die Regelung der Filmförderungsanstalt sieht demgemäß vor, dass ein Film nach Start sechs Monate den Kinos vorbehalten bleiben muss, bevor er in den Stream darf. Der Verband der Filmverleiher stellt jedoch in seinem Papier zur FFG-Novelle fest: »Die traditionelle Auswertungskaskade für Kinofilme ist Geschichte.« Gefordert wird, das Kinofenster »pandemieunabhängig« zunächst bis Ende 2023 auf drei Monate zu verkürzen.
Die Befürworter der Sperrzeitverkürzung argumentieren: Das Filmkarrussell habe sich bereits vor der Pandemie immer schneller gedreht, Filme waren nur schwer im Kino zu halten. Besonders kleinere Filme hatten in der Tat ihre Not, geeignete Kinos zu finden. Außerdem gibt es auf dem Land klare Versorgungsnotstände, anders als im Kinoland Frankreich, wo sich in jedem Kaff ein Kino findet. Eine Sichtbarmachung – und darum geht es, nicht um die Filmverwertung! – unterrepräsentierter Filme auf anderen Kanälen als dem Kino ist aber auch bei mangelnder Kinoabspielmöglichkeit streng untersagt. Der Hauptverband der Filmtheater (HDF) möchte da gerne noch einen drauflegen und fordert, die Sperrzeiten auch auf internationale Filme auszuweiten und Verkürzungen zu sanktionieren: Filme müssen sich demgemäß aus der Verwertungskette freikaufen, falls sie früher in den Stream wollen.
Zugegeben: Ähnliche Gedanken können einem beim Boandlkramer-Fall schon mal kommen. Die Kinos haben mit der Werbung auf ihren Häuserwänden, wie beispielsweise das Filmtheater Sendlinger Tor in München, für den zwar immer wieder verschobenen, so doch angekündigten Kinostart mit großer Vorfreude aufmerksam gemacht. Auch wenn die Pressesprecherin von Leonine betont, dass alle Plakatschaltungen und die bereits geleistete Pressearbeit selbstverständlich bezahlt wurden, gilt: Der Amazon-Riese kann sich jetzt wohlfeil in das gemachte Aufmerksamkeitsnest setzen. Etwaige Ausgleichszahlungen oder Entschädigungen der Kinos für den Ausfall können es aber ebenfalls nicht sein. Nicht alles ist mit Geld zu bezahlen: Denn allen Seiten – dem Film, den Kinos und vor allem auch dem Publikum – wäre am meisten damit geholfen, gäbe es jetzt keinen rigiden Vertrag mit dem Streamingkonzern.
Für andere Filmproduktionen, die sich grundsätzlich an Vereinbarungen halten, sollte die Sperrfrist jedoch kein künstliches Korsett sein. Denn wenn das Verwertungskarrussell mit der Kinoöffnung wieder an Fahrt aufnimmt, wird sich die Lage nochmals verschärfen. Es droht der Filmstau bis zum Kollaps des Systems. Verleiher sehen schon jetzt auf einen Stapel nicht gestarteter Filmtitel, andere internationale Titel werden folgen, auch die lange herbeigesehnten, wie der neue James Bond. Den Kinos wird da kaum Platz für eine ordentliche Auswertung bleiben, auch sie werden unter den Anfragen der Verleiher in die Knie gehen. Somit wäre unter Umständen sogar den Kinos gedient, könnten die Sperrfristen oder gar die »Auswertungskaskade« und Medienchronologie flexibler gehalten werden.
Das soll aber nicht heißen, dass von nun an nur noch Platzhirsche wie Leonine regieren dürfen. Es droht die Gefahr, dass bei einer geänderten Regel die kleineren Filme, die wenig Kasse machen, husch husch, in den Stream geschoben werden. Das könnte das Gewicht gefährlich verlagern und auch die kleineren Kinos in Bedrängnis bringen. Die Situation bleibt vertrackt. Nur wenn Kinos die Möglichkeit erlangen, als kulturelle Spielstätten eine Förderung zu erhalten, kann sich wohl der Markt an dieser Stelle auf faire und befriedigende Weise neue Bahnen ebnen. Nicht dass am Ende der Boandlkramer bei den Kinos anklopft.