»Für mich ist Heimat ein poetischer Gegenstand« |
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Die andere Heimat | ||
(Foto: Concorde) |
Der Münchner Filmemacher Edgar Reitz (geb. 1932) gehörte 1962 zusammen mit Alexander Kluge zu den Verfassern des Oberhausener Manifests, das zum Gründungsdokument des „Jungen Deutschen Films“ und der heutigen Filmförderung wurde. 1963 gründete er die Ulmer „Hochschule für Gestaltung“ (HfG), wo Reitz auch als Leiter der Filmabteilung lehrte. Unter seiner Ägide entstanden einflußreiche Filmwerke. Auch als Regisseur kehrte Reitz seit 1967 immer wieder
in die Region zurück, etwa 1978 mit Der Schneider von Ulm.
In seinem Film Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht erzählt Reitz nun zum vierten Mal vom Leben eines Dorfes im Hunsrück. Diesmal greift er ins 19.Jahrhundert zurück, erzählt vom Brüderpaar Jakob und
Gustav Simon, und zugleich den großen Auswanderungswellen – Alltags- und Sozialgeschichte verbinden sich zu einer Parabel über das, was im Leben zählt und einer Geschichte von Migration und Globalisierung in früheren Zeiten.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.
artechock: Ist Die andere Heimat die Vorgeschichte der bisherigen Heimat-Teile?
Edgar Reitz: Für mich ist das erst einmal ein vollkommen autonomes Unternehmen. Natürlich wird jeder an diesen Zusammenhang denken, die Simon-Brüder seien ja offenbar Verwandte von den Simons früherer Filme. So kann man es sagen. Aber es ist ja alles Fiktion: Der Name, der Ort. Und die Frage der Kausalität, die man ja überhaupt erst später erzeugt, erscheint mir sehr unwahrscheinlich – es ist auch nicht wirklich meine Absicht: Die
Charaktere sind nicht dazu da, irgendetwas aus späteren Folgen zu erklären.
Aber in mir selbst entsteht so etwas wie eine Kontinuität. Ich erkenne mich selbst wieder in den Figuren, in Jakob, Hermann, Paul – sie sind alle ein kleines bisschen Selbstportrait. Dadurch kann man Verwandtschaften feststellen.
Im Vorfeld der Arbeit an diesem Film hat mich ein Brief aus Porto Alegre in Brasilien erreicht, in dem eine Frau mir schrieb, sie hätte einen Dokumentarfilm mein Gesicht
gesehen, und ich hätte eine große physiognomische Ähnlichkeit mit ihrem Chef. Der heiße Reitz. Bald darauf kam Post: 500 Seiten Genealogie der Familie Reitz in Brasilien. Im Süden Brasiliens gibt es so viele Abkömmlinge deutscher Auswanderer – man findet dort deutsche Namen wohin man geht, so wie italienische Namen in Argentinien.
artechock: Die Sehnsucht nach Auswanderung steht hier im Zentrum...
Reitz: Ich bin auf das Thema schon sehr früh gekommen – vor über 30 Jahren bei den Dreharbeiten zur ersten Heimat-Staffel. Da begegnete mir überall in der Region die Erinnerung an diese Auswanderung. Ich habe seitdem Material gesammelt. Es hat mich immer sehr bewegt, was es bedeutet, Heimat zu verlassen.
Ich bin zwar kein Auswanderer,
aber auch einer, der die Heimat verlassen hat. Das ist hart aber notwendig, weil man etwas nicht verwirklichen oder entfalten konnte. Die Trennung und das Sichlosreißen aus den Wurzeln erfordert eine ungeheure Kraft. Diese Kraft hat man nie alleine. Sie entsteht dadurch, dass die Bindungskräfte reißen. Das geschieht kollektiv.
Aktuell interessant wurde dies durch den Tod meines Bruders, der das Vorbild für diese Figur des Jakob geworden ist – das hat den emotionalen Anstoß
gegeben.
Hinzu kommt, dass wir nun in einer Zeit leben, in der das Thema Emigration und Auswanderung aktuell wird. Wir alle kennen Menschen, die bei uns ihr Glück oder Zuflucht suchen, und wir haben ganz vergessen, dass wir selbst vor ganz kurzer Zeit – zuletzt im Dritten Reich, diejenigen waren, die bei uns ihr Glück oder Zuflucht suchen. Das waren die Gründe, diesen Film zu machen.
artechock: Heute wandern auch mehr Deutsche aus, als umgekehrt einwandern. Was ist es für eine Situation, die dazu führt, dass Menschen auswandern?
Reitz: Das ist ja keine Vernunftentscheidung, nicht das Ergebnis einer Argumentationskette. Sondern entweder ist es Angst und Zwang, oder man lebt in einer Welt, in der seltsamerweise ausgewandert wird. Wenn es auf einmal passiert, dass sich Dörfer leeren, entsteht ein Sog.
Wo ist die Initialzündung für so eine kollektive Bewegung? Ich kenne sie letztendlich nicht. Migrationsbewegungen durch Europa gab es über die
Jahrtausende. Ein Schub entstand im 19. Jahrhundert durch die Alphabetisierung. Zum ersten Mal konnten viele Menschen lesen und schreiben. Die ersten Zeitungen weckten das Fernweh mit Reportagen und Abenteuergeschichten in Fortsetzungen. Die erzählten von der Ferne und der Freiheit. Die Autoren haben auch nur geträumt, die waren wie Karl May.
artechock: Ein Auslöser der Auswanderung und der Träume ist aber klarerweise auch konkrete materielle Not. Die Träume haben vor Ort keine Heimat mehr, sie sind heimatlos geworden. Sie zeigen ja in Die andere Heimat kleine beklemmende, sehr arme, schwierige Verhältnisse. Man kann gerade so überleben...
Reitz: Dabei hatten diese Menschen eine unglaubliche Überlebensfähigkeit. Diese Menschen haben alles, was sie überhaupt brauchten, selbst hergestellt und produziert, mit den eigenen Händen gemacht: Sie haben Flachs angebaut und ihre Kleider selbst gewoben, ihr Essen selbst erzeugt, ihre Häuser, ihre Werkzeuge selbst produziert – da gibt es nichts Gekauftes. Nichts, das durch irgendwelche Märkte und Versorgungslogistik zu ihnen gekommen ist. Wenn so eine Gesellschaft – die im Grunde autonom überlebensfähig ist – auch unter extremen Bedingungen – an eine Grenze stößt, wo selbst das nicht mehr geht, dann wandert sie aus.
artechock: Es muss also das Prinzip Hoffnung mit der unmittelbaren Notwendigkeit zusammenkommen?
Reitz: Ja. sie verlassen rudimentäre gesellschaftliche Lebensverhältnisse, in denen man gerade mal überleben kann, aber es ist nicht die unmittelbare Notwendigkeit, die sie antreibt, sondern die Ahnung einer glücklicheren Welt irgendwo woanders, eine Projektion – damals in den Zeitungen, heute ist es jetzt das Internet oder das Fernsehen.
artechock: Aber die Träume können schnell umschlagen in Illusionen – oder mit ihnen verwechselt werden...
Reitz: Genau. So geht es Jakob. Er spürt das indirekt, das er sich Illusionen macht, und das er die Realität nicht will – ihm genügt das Land der Phantasie. Um aus der Welt der Träume in die Realität zu gelangen – da ist ein Qualitätssprung erforderlich. Dieser deutsche Romantiker ist kein Macher. Der Bruder ist der Macher. Aber ihm fehlen die Träume.
artechock: Wollten Sie das erzählen? Das wir die Mitte finden müssen zwischen Träumerei und Realismus?
Reitz: Sie haben das Gesetz gebrochen, aber ich kann sie verstehen. Sie sind sehr beeinflusst von unserer Gegenwart. Nicht so leicht zu sagen, es ist nicht so simpel.
artechock: Ich habe den Artikel gelesen: Manches haben Sie eins zu eins übernommen, anderes total verändert. Nach welchen Kriterien haben Sie das gemacht?
Reitz: Ich bin kein Prediger oder Moralist, der den Menschen etwas zeigen will. Ich erzähle Geschichten. Dabei versuche ich mich an der Wirklichkeit zu orientieren. Es geht nicht um die Wahrheit als solche. Es geht darum, dass die Geschichte einen Grad an Wahrscheinlichkeit hat. Ich erzähle sie auch mir selbst beim Drehen – das Erzählen berührt die Sinne, die Augen, die Ohren, die Tastsinne...
artechock: Was macht diese Geschichte von vor 140 Jahren aus Ihrer Sicht aktuell?
Reitz: 140 Jahre sind nicht so lang. Wir sind heute viel unsicherer in unseren Verhältnissen. Bei uns sind Verteilungslogistik und Arbeitsteilung zersplittert. Wenn wir irgendwo den Stecker rausziehen, und die Logistiksysteme zusammenbrechen, ist alles vorbei – man soll nicht meinen, wir wären da in Sicherheit. Diese Gesellschaft, die ich beschreibe, ist in gewisser Weise doch stabiler. Dieser Film wirft einen fremden Blick auf unsere Gegenwart.
artechock: Was war das Schwierigste bei diesem Film?
Reitz: Wenn wir einen Film machen über das Leben der Reichen und Mächtigen finden wir die Zeugnisse ihres Lebens überall. Die Schlösser und Paläste sind erhalten und Filmteams filmen immer wieder in diesen wunderbaren Orten.
Wenn wir aber das Leben der Armen und Underdogs erzählen wollen, finden wir nichts – denn sie haben nichts hinterlassen und meist war es ja so, dass sie bereits in der nächsten Generation ihre Häuser
abgerissen haben und ihre Gebrauchsgegenstände erneuert. Es ist ja klar: Wenn man arm ist hat nichts zu vererben, auch an seine eigene Zukunft nicht. Und dieser Verlust aller Dinge, die wir in die Hand nehmen ist ein großes Thema für mich geworden – denn wer sagt uns ob wir heute reich sind, oder arm? Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, dass die nächste Generation eigentlich nur Müll findet von uns. Kaum etwas können wir unseren Kindern vererben – kein iPhone, keinen
Computer – nichts von den heißbegehrten Gegenständen unserer Zeit. Und doch sagen wir, es sei unsere Freiheit, alles dieses zu besitzen.
Es gibt offensichtlich noch eine andere Frage und diese Frage schwebt mit in diesem Film.
artechock: Die wunderbaren Schwarz-Weiß-Bilder stammen von Gernot Roll. Was schätzen Sie an diesem Kameramann?
Reitz: Die Zusammenarbeit mit Gernot Roll kann man kaum beschreiben: Wir kennen uns seit über dreißig Jahren. Die Arbeit bei uns funktioniert nicht über intellektuelle Diskussion, nicht über abstrakte Planung, sondern sehr spontan, sehr aus der Begegnung mit dem Ort und den Menschen heraus. Dass der Film visuell so ist wie er geworden ist, verdanke ich Gernot Roll. Die Bilder sind auch für mich jeden Tag ein Geschenk, für das ich ihm
danke. Es gibt in jedem Berufsleben schwierige und glückliche Dinge und unsere Zusammenarbeit zähle ich zu den glücklichen Dingen – wir haben eine wunderbare Arbeit zusammen gemacht. Als wir nach der Premiere zusammen essen waren, sagte Gernot Roll zu mir: Die gemeinsame Arbeit an Heimat war der Höhepunkt seines Berufslebens, und so war es auch wieder in diesem neuen
Teil.
Nicht nur, dass wir technisch gestalterisch alles ausprobieren konnten. Es ist ein Gefühl des ununterbrochenen Experimentierens und Probierens. Es ist auch noch die Tatsache, dass in diesem Thema etwas in der eigenen Biographie berührt wird, das nicht ersetzbar ist durch etwas anderes. Wenn der Film die Fähigkeit hat, die Herzen zu bewegen, dann tut er das auch durch Gernot Roll.
artechock: Wie definieren Sie eigentlich „Heimat“ heute, in unserer Epoche der Globalisierung, wenn die Welt ein Dorf geworden ist?
Reitz: [Lacht] Das ist das natürlich die meistgestellte Frage meines Lebens. Wenn man seit dreißig Jahren Filme macht, die immer das Wort „Heimat“ im Titel führen, dann wird man nach der Bedeutung gefragt.
Das Wort kann man ja auch nicht in andere Sprachen übersetzen. Es ist ein sehr typisch deutsches Wort. In dem schwebt auch etwas von diesem deutschen Romantizismus mit. Es ist auch in diesem Wort immer eine Melancholie
enthalten, ein Element des Verlustes.
Für mich ist das ein poetischer Gegenstand. Das ist etwas, was wir in der Regel in unserem Leben hinter uns lassen. Denn in dem Maß, in dem wir uns entfalten, verlassen wir die Heimat. Es ist die Welt der Kindheit, die Welt der geschichtlichen Traditionen, die in jeder Familie unbewusst weitergereicht werden – diese Welt verlassen wir.
Das können wir auch in der heutigen globalisierten Welt nicht ersetzen durch irgendetwas
anderes.
Aber ich bin da jetzt selber gar kein Melancholiker. Dieser Verlust ist auch natürlich. Wir ziehen immer größere Kreise um unsere Geburt. Das ist das, was wir unsere individuelle Entwicklung nennen – die ist das Gegenteil zu Heimat, das muss man auch wissen.
Trotzdem ist die Erinnerung etwas, was eine starke emotionale Kraft in uns auslöst. Ich denke ohne diese Erinnerung wären wir vielleicht nicht stabil genug, um die Herausforderungen der Welt zu
ertragen. Da ist immer ein Stück der Seele in unserer Erinnerung enthalten. Darum erzähle ich meine Geschichten. Man kann das nicht abstrakt vermitteln, das kann man nur durch das Erzählen von Geschichten weiterreichen.
artechock: Ist dies jetzt ein Schlussstein von Heimat?
Reitz: Nichts ist ein Ende. Es gibt kein Ende. Alles, was man erzählt, ist der Anfang einer neuen Geschichte.