Frankreich/Deutschland 2025 · 118 min. Regie: Lucile Hadzihalilovic Drehbuch: Lucile Hadzihalilovic, Geoff Cox Kamera: Jonathan Ricquebourg Schnitt: Nassim Gordji Tehrani Darsteller: Marion Cotillard, Clara Pacini, August Diehl, Gaspar Noé u.a. |
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Märchenhafte Film-im-Film-Kulisse | ||
(Foto: Berlinale | 3B-Davis-Sutor Kolonko-Arte-BR) |
Märchen werden erzählt, immer wieder, in den Worten immergleich. Was sich verändert: das ist die Bedeutung für den Zuhörer. Die persönliche Imagination einer Geschichte kann uns für immer bewegen, unser Handeln für immer bestimmen. In La Tour de Glace erzählt uns die französische Regisseurin Lucile Hadžihalilović ihre Version von Hans Christian Andersens Märchen »Die Schneekönigin« – und erkundet dabei die Tiefen der Sehnsucht.
Die Handlung entfaltet sich über eine weibliche Stimme, die aus dem Off vom Reich der Schneekönigin erzählt. Das Bild gleitet über schneebedeckte Berglandschaften, eine Welt, deren Kälte unheimlich und überwältigend erscheint. Es ist eine vereinnahmende Welt, die sich da in unglaublicher Weite aufspannt. Gerufen in dieses erhabene, weiß-bedeckte Reich fühlt sich die junge Jeanne (Clara Pacini).
Es sind die 1970er-Jahre in Frankreich. Die 16-Jährige ist nach dem Tod ihrer Mutter in einem Kinderheim aufgewachsen. Das Märchen von der Schneekönigin ist ihre liebste Geschichte, mit ihr ist sie groß geworden, die Schneekönigin erinnert sie an den Tod ihrer Mutter, an den Abschied von ihr, als ihre Mutter kalt und wunderschön war. Und nun will sie aus dem Kinderheim fliehen – und gerät dabei direkt in das Zentrum dieses Märchens: in das kalte Reich der Schneekönigin.
Von den Bergen gelangt Jeanne in die winterliche Stadt, in der sie niemanden kennt. In der Kälte der Nacht dringt sie in ein Gebäude ein, um dort zu schlafen. Am Morgen erwacht Jeanne von Schneeflocken. Aus ihrem Verschlag heraus sieht sie durch einen Spalt eine verzauberte Szenerie: Schneeflocken schweben durch die Luft. In diesem Tanz erscheint in unsagbarer Schönheit die Schneekönigin. Jeanne sieht sie, alles erstarrt in ihr. Das Atmen fällt schwer, ein kalter Blick durchdringt sie, durchdringt uns, in seiner ganzen Intensität. Das von weißen Diamanten umgarnte Kleid der Königin lässt ihre Schönheit erglänzen. Ihre Schönheit, die Jeanne entgegenleuchtet, ist so einnehmend, dass der Film an dieser Stelle zum Stillstand zu kommen scheint: der Moment ist sich selbst genug, er soll niemals enden.
Doch dann folgt ein Schnitt, Cut: die Szenerie entzaubert sich als Filmset. Hierhin ist Jeanne in der Nacht unwissentlich – aber gewiss vorherbestimmt – geraten, in die Studios, in denen gerade »Die Schneekönigin« in Szene gesetzt wird. Cristina ist die Königin, sie wird gespielt von Marion Cotillard. Sie wird von den Nebendarstellerinnen, allesamt junge Mädchen im Alter von Jeanne, wegen ihrer Kälte und Unzugänglichkeit gefürchtet. Doch Jeanne fühlt sich von Beginn an in Cristinas Bann gezogen. Cristina selbst zieht sie an, nun nicht mehr die Schneekönigin. Um in ihrer Nähe zu bleiben, mogelt sich Jeanne als Nebendarstellerin in den Cast. Die eindringlichen Blicke der Schauspielerin ergreifen Jeanne so sehr, dass sich ihre Augen immer wieder mit Tränen füllen. Tränen, die der ergreifend kalten Schönheit der Eiskönigin gelten.
Bald entfächert sich eine magische Verbindung zwischen den beiden, Cristina nimmt sich ihrer an, Jeanne ist wie in Trance, wenn sie bei ihr ist. Jeder Moment, der sich zwischen ihnen ereignet, ist stimmig. In jedem dieser Momente verschmilzt die Grenze zwischen Schauspiel, dem Film im Film, und der Realität des Erzählten.
Die Poesie dieser Anziehung zeigt sich am allerschönsten, wenn wir Jeanne und Cristina vor der Leinwand im Test-Kino sitzen sehen, über die die Rushes des Tages laufen. Sie werden nun selbst Zuschauerinnen ihrer Geschichte, wissend, dass das durch den Schleier der Kamera Gezeigte die Wahrheit erzählt: Schauspiel und Realität sind eins. Diese Ebenen-Verschmelzung, die Vereinigung der Imagination, der Fiktion, des Films-im-Film und der gespielten Realiltät ist die Essenz des poetischen Erzählens von La Tour de Glace: Hier gibt es kein Außerhalb der Geschichte.
Es ist letztlich die Sehnsucht, in der all diese Ebenen zusammengebracht werden; von der Sehnsucht wiederum lässt sich nur in der Verbindung all dieser Formen erzählen. Dass der Film dies zu vereinen versteht – und dies in betörend finsterer Schönheit und Ästhetik vollzieht – weist ihn als wahrhaftiges Kunstwerk aus.