Frankreich/D 2016 · 123 min. · FSK: ab 12 Regie: Bruno Dumont Drehbuch: Bruno Dumont Kamera: Guillaume Deffontaines Darsteller: Fabrice Luchini, Valeria Bruni Tedeschi, Juliette Binoche, Jean-Luc Vincent, Brandon Lavieville u.a. |
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Ein großer Spaß |
»Ach und seht mal dort hinten die Miesmuschelsammler. Ach wie pittoresk!!!« – 1910 im Norden Frankreichs, eine reiche Familie macht Urlaub, und trifft dort auf die zurückgebliebene Landbevölkerung. Ein Verbrechen ereignet sich, so kommen zwei ermittelnde Polizisten dazu, und es entsteht eine klassenübergreifende Liebesgeschichte.
Der Franzose Bruno Dumont wurde mit harten lakonischen Sozialdramen bekannt. Sie erzählen vom stummen Leid der ländlichen Unterklassen in Flandern. Gar nicht stumm, und nicht sehr leidend wirken die Menschen in Dumonts neuem Film: Die feine Gesellschaft. Der Film (im Original »Ma Loute«) ist nicht nur ein sehr bemerkenswerter Stilwandel, es ist auch einer der verrücktesten und ausgelassensten Filme der letzten Jahre.
Eine Komödie aus Frankreich – das ist eben längst nicht nur braves Versöhnungskino wie Ziemlich beste Freunde, oder bewusste Verletzung aller Spielregeln interkultureller Correctness wie in Monsieur Claude und seine Töchter sondern eine wilde furiose Humor-Achterbahnfahrt wie diese hier.
Starker Dialekt, Karikatur, Slapstick, Running Gags und gnadenloses Overacting, dazu eine Schauspielerriege, zu der einerseits Laien-Darsteller mit Segelohren, Sprachfehlern und schlechter Haut gehören, andererseits Stars wie Juliette Binoche, Valeria Bruni Tedeschi und Fabrice Luchini, markieren den sehr speziellen Humor Dumonts, einen lakonischen Absurdismus, der am ehesten den Komödien von Jacques Tati verwandt ist.
Polizisten sind hier gleichzeitig dick und doof, aber würdevoll, selbst wenn sie mit Wampe und Melone eine Düne herunterpurzeln, nicht einmal, zweimal, sondern zehnmal. Frauen klingen, wenn sie reden, wie Operndiven, jodeln »oh« und »ah« und betonen bei »wie schön!« das erste Wort.
Sommerferien, die debile Landbevölkerung trifft auf den ebenso debilen Adel aus Lille, die »Wisse-ki« zum »Aperi« trinken, entweder Hysteriker sind, oder depressiv, oder es an »den Nerven« haben. Die Wirklichkeit ist unbedingt melodramatisch. So zeigt der Film Taucher mit altmodischen Taucherglocken aus Glas und Metall und wilde Stürme, er zeigt Proletarier im Wald auf Adelsjagd und brave höhere Töchter, die – ein wunderbares Bild dieses Film – mit Krocket-Holzschlägern auf einander eindreschen. Katholizismus trifft Kannibalismus, Kapitalismus die Klassengesellschaft und Liebe geht über alle Klassengrenzen.
Dumont entdeckt vergessene Stilmittel des klassischen Films für das heutige Kino neu. Auch die Musik ist eine wunderbare Wiederentdeckung: es ist die »Prelüde au deuxieme acte« des weitgehend unbekannten belgischen Wagnerianers Lekeu.
Die feine Gesellschaft ist sehr sehr witzig und ziemlich klug, und der Film ist, wenn man es alles nicht mag, eine gnadenlose Zumutung. Je länger dieser Film dauert, um so mehr spinnt er einfach. Irgendwann fliegt eine Frau dann tatsächlich am Himmel über die Dünen, wie Magneto in dem Superheldenfilm X-Men, und ein Polizist steigt aufgeblasen wie ein Heißluftballon in die Lüfte.
Hemmungslos bedient sich Dumont also bei der komödiantischen Hälfte der Kinogeschichte, vor allem beim Stummfilm-Slapstick. Alles ist überzogen – die dekadenten, inzestuös verbandelten Reichen wie die primitiven Armen. Willkommen bei den Sch'tis lässt grüßen.
Dumont macht kein Geheimnis daraus, dass er auch deutliche Kapitalismus-Kritik üben will. Die Welt ist hier monströs,
– im Kino aber führt diese schreckliche Einsicht zu hinreißenden.
So ist dieser Film ein großer Spaß. Die feine Gesellschaft ist eine durchgeknallte Komödie mit sehr speziellem französischem Charme – Louis de Funes trifft Jean Luc Godard.