Meine keine Familie

Österreich 2012 · 100 min. · FSK: ab 12
Regie: Paul-Julien Robert
Drehbuch:
Kamera: Klemens Hufnagl, Fritz Ofner
Schnitt: Oliver Neumann
Fröhliches Kommunenleben mit Abgründen

Rotpeters Reisen

Am Anfang standen Fragen nach einem Fremden. Wer war Christian, der in dieser Kommune des Akti­ons­künst­lers Otto Muehl lebte? Der, weil die Behörden von den Bewohnern solche Angaben verlangten, sich als Vater für den kleinen Paul-Julien eintragen ließ und sich eines Tages ohne ersicht­li­chen Grund umbrachte?

Diese Fragen bleiben unbe­ant­wortet. Denn auf der Suche nach seinem juris­ti­schen Vater drängt sich Filme­ma­cher Paul-Julien Robert immer mehr die eigene Geschichte auf. Die beginnt noch vor seiner Geburt, 1972, als Muehl mit seinen Kommu­narden den Fried­richshof im öster­rei­chi­schen Burgen­land bezog, um, wie es von ihnen postu­liert wurde, die Prin­zi­pien Gemein­schafts­ei­gentum, freie Sexua­lität und die Abkehr von der klein­fa­mi­liären Grund­struktur zu leben. So wurden die Weichen für die Spuren­suche in die eigene Vergan­gen­heit neu gestellt: Was bedeutet es für den heute erwach­senen Robert, einen Großteil der Kindheit in so einem Umfeld verbracht zu haben?

Die Suche führt durch Tausende Stunden Archiv­ma­te­rial, Gespräche mit der Mutter, Begeg­nungen mit dem leib­li­chen Vater und anderen Menschen, die wie Robert auf dem Fried­richshof aufge­wachsen sind. Geschickt die Bilder von damals und heute verbin­dend doku­men­tiert Meine keine Familie freilich das Scheitern eines Systems, das sich, entgegen seiner Prin­zi­pien, nur als eine weitere nieder­träch­tige Diktatur unter Gurufüh­rung entpuppte. Dass dieser Guru kunst­ge­schicht­lich eine gewisse Bedeutung erlangte, ist für Robert und seine Geschichte uner­heb­lich. Schließ­lich sind Führer immer austauschbar.

»Im Übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kennt­nisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet«, sagt der dres­sierte Affe Rotpeter in Franz Kafkas »Bericht für eine Akademie«. In seiner Vorge­hens­weise erinnert Robert an Kafka alias Rotpeter, der Macht- und Erzie­hungs­me­cha­nismen seiner Dressur klar analy­siert und sein Publikum, sprich die Akademie, an seinen Erfah­rungen teilhaben lässt. Doch dieser Rotpeter geht noch weiter: Robert, in der Kommune zusammen mit den anderen zum, wie er selbst sagt, »perfekten Mitläufer« erzogen, entschlüpft seiner nicht selbst­ver­schul­deten Unmün­dig­keit, indem er jene aufsucht, die bereit waren, ihrem Häuptling Mühl zu folgen – und jene, auf deren Kosten dieses Folgen ging. Seine Einblicke sind unter anderem deshalb so wertvoll, weil sie einen unter anderem auch über das Medium Insz­e­nie­rung nach­denken lassen. Wie ein roter Faden zieht sie sich durch Roberts Biografie und die der anderen Kommu­n­en­kinder. Einmal ist sie behörd­lich verlangte Formalie qua insz­e­niertem Vater, dann sich täglich wieder­ho­lendes Ritual zur Gefügig­ma­chung, wenn Muehl die Kinder zu irgend­wel­chen Perfor­mances coram communi nötigte. Der Anblick bricht einem das Herz, lässt einen unwei­ger­lich an aktuelle Casting­pro­gramme denken, die ihre Grau­sam­keit hinter Akronymen verbergen und deren Fluidum im Unter­hal­tungs­ge­triebe die Bewertung durch »Rang­höhere« ist.

»Ich habe ihm halt das gezeigt, wovon ich dachte, dass er es haben wollte«, bilan­ziert Jean, ehema­liges Kommu­n­en­kind und einer von Roberts Prot­ago­nisten: Mühls Insz­e­nie­rungen zeitigten Insz­e­nie­rungen, die zur Über­le­bens­stra­tegie von Anfang an wurden. Wer sie als Erwach­sener beherrschte, wurde zum Geld­ver­dienen für die Gemein­schaft in die System­fremde geschickt, schließ­lich sind »gute Selbst­dar­steller auch immer gute Verkäufer« – ein kurioser Neben­ef­fekt, der für Muehl und seine Gefolg­schaft Exis­ten­zgrund­lage war. Auch die dunkelste Seite des Lebens auf dem Fried­richshof, der Miss­brauch an puber­tie­renden Kindern, war eine Insz­e­nie­rung, die von Muehl und seiner Frau regel­mäßig als »Einfüh­rung in die freie Sexua­lität« ausgeübt und, wie Jean ergrei­fend beschreibt, mitunter herbei­ge­sehnt wurde – Sexua­lität als einer der wenigen iden­ti­täts­stif­tenden Orte in jenem System, das, der eigenen Philo­so­phie diametral entge­gen­ge­setzt, keinen Platz für Selbst­ver­wirk­li­chung bot.

Natürlich ist auch Meine keine Familie selbst Insz­e­nie­rung. »Die Kamera war auf jeden Fall das Werkzeug, um die Situation zu schaffen«, sagt Robert im Interview mit Claus Philipp auf die Frage, inwieweit das Filmen für die Gespräche wichtig war. Seine Insz­e­nie­rung stellt jedoch nie bloß, ist kein Verhör-Gehilfe, sondern gibt Erin­ne­rungen und Erkennt­nissen Form und Struktur. In Meine keine Familie geht es nicht um Abrech­nung – auf seinen Reisen fragt Rotpeter Robert beharr­lich nach, wo es sein muss, und lässt jedem seiner Gesprächs­partner seine jeweils eigene Version der Erleb­nisse. Eine gekonnte Insz­e­nie­rung von Wahr­heiten, die völlig anders vorgeht als beispiels­weise Sarah Polley in ihrem Spiel-Doku­men­tar­film Stories We Tell. Doch gerade weil diese beiden auto­bio­gra­phi­schen Geschichten sich in ihrer Machart so unter­scheiden, sind sie hervor­ra­gend geeignet als Double Feature zum Thema Familie, Erin­ne­rung und Identität.