USA 2012 · 107 min. · FSK: ab 16 Regie: Rodney Ascher Drehbuch: Rodney Ascher Kamera: Mark Boswell, Brian Kallies Schnitt: Rodney Ascher |
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Hiermit fing alles an, mit dem Dreirad in den Gängen des Hotels |
Es hat mich, das Interpretationsfieber, ich, der gesittete Filmbetrachter, neige mit einem Mal zur manischen Verfolgung irgendwelcher Hinweise, ich finde Zusammenhänge und ja, handfeste Beweise für Richtigstellungen der Weltgeschichte in Kubricks Filmen. Room 237 hat es geschafft, Kubricks Filme sind nicht nur eine Welt, sondern die Welt ist ein Kubrick. Aber so ist das eben mit seinen Filmen, sie gehören zu jenen seltenen Exemplaren die man immer wieder ansehen kann, in denen man immer wieder was entdeckt und hinter denen man vielleicht sogar mehr vermutet als Kubrick intendiert hat. Macht ja nichts, jetzt sind es unsere Filme!
Stanley Kubrick ist ein Meister seines Fachs, ein Filmwahnsinniger und ein Pedant, einer der immer die Kontrolle bewahren wollte und der damit seine Schauspieler bis zum Rand der Verzweiflung trieb. Die Szene in The Shining beispielsweise, in der Jack (Jack Nicholson) die Tür einschlägt, hinter der sich seine Frau Wendy (Shelley Duvall) und sein Sohn Danny (Danny Lloyd) verstecken, gilt als eine der am häufigsten gedrehten Szenen der Filmgeschichte, über einhundert Mal soll Nicholson die Szene rund um sein berühmtes »Hier ist Jacky!« wiederholt haben. Man kann also davon ausgehen, dass Kubrick sämtliche Kameraeinstellungen, Sets und Dialoge sehr bewusst und absichtlich gewählt hat. Nach seinem für ihn frustrierenden Ausflug ins massenkompatible, industrieähnliche Studiosystem bei einem seiner ersten Filme, dem kommunistisch angehauchten Historienfilm Spartacus (1960), hatte er es sich ausbedungen in seinen Filmen im gesamten künstlerischen Prozess weitgehend freie Hand zu haben. Auf diese Weise entstanden Lolita (1962), Dr. Seltsam, oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (1963), 2001 – Odyssee im Weltraum (1968), A Clockwork Orange (1971) und Barry Lyndon (1975).
Room 237 ist eine Dokumentation über Interpretationen, Theorien und Mutmaßungen die sich auf den ersten Blick speziell um Kubricks Film The Shining (1980) drehen, auf den zweiten um den gesamten Kubrick-Kosmos und – ohne unbescheiden klingen zu wollen – auf den dritten um die ganze Welt. Der Regisseur von Room 237, Rodney Asher, wurde bekannt durch seinen kurzen dokumentarischen Horror-Film The S From Hell (Premiere 2010 auf dem Sundance Filmfestival, zu sehen auf seiner Internetseite: www.rodneyascher.com). In ihm zeigt er eindrücklich das traumatische Verhältnis einer ganzen Generation zu dem Logo und dem Jingle einer Produktionsfirma, dem »scariest corporate symbol in history«. Man kann den Film als den Vorläufer von Room 237 bezeichnen, denn schon hier arbeitete Asher mit Footage und darüber gelegten Interviews.
Room 237 ist ein Mashup verschiedener Szene aus Kubrick- und einigen Nicht-Kubrick-Filmen. Über diese Szenen werden Interviews von selbst ernannten The Shining-Spezialisten gelegt, die mal mehr mal weniger seriös ihre mehr oder weniger handfesten und plausiblen Theorien zum Besten geben: Ein ABC News Korrespondent, ein Geschichtsprofessor, eine Theater- und Romanautorin, ein Experimentalmusiker, Künstler und exzessiver Blogbetreiber und ein Verschwörungstheoretiker. Das Spektrum ihrer Aussagen reicht von interessanten freudianischen Erkenntnissen und feinsinnigen Beobachtungen, bis hin zu hanebüchenen Verschwörungstheorien und Zahlenmystikerquatsch, von informativen Zusatzinformationen zu Humbug – was für wen was ist, muss jeder selber entscheiden.
The Shining entstand 1980 und basiert auf dem gleichnamigen Roman von Steven King, an dessen Vorgaben sich Kubrick aber nicht wirklich hielt. Der Schriftsteller Jack Torrance nimmt einen Hausmeisterjob im Overlook Hotel an das jenseits jeglicher Zivilisation in den Bergen liegt. Er, seine Frau Wendy und sein Sohn Danny der das »Shining« besitzt, eine Art Hellsichtigkeit, sollen in den winterlichen Bergen fünf Monate verbringen. Was erst einmal romantisch klingt verwandelt sich nach und nach in einen klaustrophobischen Albtraum, den der kleine Danny immer mehr mit seiner Hellsichtigkeit und seinem Fahrrad einkreisen kann. Und der Raum? Raum 237? Gleich zu Beginn wird Danny verboten, den Raum zu betreten, warum, das erfährt man nicht. Jack hat im Laufe des Films Visionen von einer badenden jungen Frau im Zimmer 237, die sich in seinen Armen in eine verwesende Leiche verwandelt.
Room 237 beginnt mit Tom Cruise und einer Szene aus Eyes Wide Shut, Kubricks letztem Film vor seinem Tod 1999. Cruise steht vor einem Kino und betrachtet die Filmplakate von The Shining mit Nicholsons unverwechselbarem, wahnsinnigem Lächeln. Eyes Wide Shut, selber ein Panoptikum unergründlicher Triebe und Unbewusstheiten, begibt sich ebenso wie The Shining in die Abgründe von vordergründig Stabilem, einer Ehe und der Familie. Damit illustriert die Szene einen Zusammenhang zwischen den Themen beider Filme und ihrem Ursprung des Unheimlichen. Auf ähnliche Weise fächert Room 237 immer wieder eine Vielzahl von Parallelitäten und Zusammenhängen zwischen den Kubrick-Filmen auf.
Aber der Film bewegt sich auch durch The Shining selber, als autopoietisches System, als eigene, abgeschlossene Welt, als eine Art Mittelerde. In ihr verändern sich Dinge, wechseln ihre Farbe, ihre Stellung, poltergeistartig verschwinden Aufkleber und Stühle, tauchen Silhouetten auf Plakaten im Hintergrund auf, die die Form eines Skifahrers haben oder ist es doch die eines Minotaurus? Und in den Eiswürfeln im Drink, unterkühlt aber anwesend, ist da nicht ein Phallus zu erkennen, der vor sich hinschmilzt? Apropos Phallus, das Auftauchen des Unbekannten, des Unbewussten, das Vermischen von Traum und Wirklichkeit, physischen und psychischen Räumen schaffen immer wieder Zusammenhänge à la Freud und schaffen Erfahrungen, die an Hitchcocks Filme erinnern.
Aber der Film lebt auch außerhalb seiner selbst. Vielleicht am brisantesten die Sache mit der Mondlandung. Hat Kubrick 1969 die Mondlandung der Apollo 11 gefilmt und dafür neu entwickelte Kameralinsen der NASA erhalten die Kerzenromantik in Barry Lyndon erst möglich machte? Schon William Karels, na ja, ok, Mockumentary Kubrick, Nixon und der Mann im Mond (2002) behauptet es und in The Shining gibt es weitere Indizien: Das Türschild Room No. 237 auf dem das Wort Moon zu lesen ist oder Dannys selbstgestrickten Apollo 11-Pullover.
Wahr oder nicht wahr, zu sehen ist in jedem Fall: Filme können Weltbilder ändern und die Geschichte ins Wanken bringen. Als niemals abgeschlossene und doch begrenzte Universen können sie in uns weiterwuchern und gehen mit jedem Ansehen in einen neuen Prozess ein. Die Spirale dreht sich: Jetzt sind es unsere Filme!