Die tiefen Poren der Bürgerlichkeit |
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Eins von zwölf Gesichtern | ||
(Foto: Homegreen Films) |
Von Dunja Bialas
Gesichter sehen dich an. Der chinesisch-malayische Regisseur Tsai Ming-Liang lebt in Taiwan und hat in seinem neuesten Werk Your Face Menschen ins Gesicht geblickt, die dem Mittelstand entstammen. Gut situiert zeigen sich auch die älteren bis steinalten Damen mit einer dicken Schicht Make-up, viel Lippenstift in keinesfalls billig wirkendem Farbton, sorgfältig frisiert, Halskette. Bis dahin, wo das Bild reicht: sind sie tiptop. Die Männer, ebenfalls älteren Datums, teilweise auch richtig alt mit nur noch vereinzelten, vom Kopf abstehenden Haaren, verraten ebenfalls einen guten gesellschaftlichen Stand. Zahnloses Mundwerk, wie in Wang Bings Dead Souls, in dem er über zwölf Stunden lang Menschen portraitierte, die dem Umerziehungslager entkommen waren, sind hier nicht zu sehen. Taiwan hat eine andere Vergangenheit und eine andere Gegenwart.
Tsai hat außerdem ein anderes Anliegen: er möchte, dass wir in den Gesichtern lesen, uns eigene Geschichten zu ihnen erfinden. Die Fragmente ergänzen. Spekulation ist willkommen, und vielleicht liegt man ja auch daneben. Teilweise wirken die Portraitierten wie dem Turbo-Kapitalismus Verfallene. »Mich interessiert Geld«, sagt eine erfolgreiche Geschäftsfrau unverblümt auf die Frage, was sie im Leben so umtreibe. Wortreich erzählt sie vom Erwerb materieller Statussymbole, und wie sie die Karriereleiter erklommen hat. Irgendwann kommt jedoch eine andere Tonalität in ihre Erzählung hinein, und Nachdenklichkeit. Sie erzählt vom Tod ihrer Tochter, von der Trauer. Es zeigt sich eine unerwartete menschliche Seite. Ihr Gesicht ist am Anfang sehr kontrolliert, irgendwann kippt das. Aber immer rettet sie sich in ein Lachen, in ein Lächeln. Sie wird von der Seite gezeigt, offenbar ihre Schokoladenseite, die sie Tsai angeboten hat. Wer weiß?
Nicht jedes Portrait, das Tsai in seinem knapp 80 Minuten langen Film reiht, gibt Aufschluss auf die Protagonisten. Bisweilen bleiben sie auch ganz und gar verborgen, sprechen nicht. Das Bild ist dann stumm, es wird ohne ihre Worte tatsächlich nahezu unmöglich, in den Gesichtern zu lesen, vielleicht auch, weil uns Taiwan zu fern ist. Sie blicken in die Kamera. Sind nervös, unsicher, suchend. Ein verlegenes Lachen. Einmal ist einer eingeschlafen und schnarcht.
Die meisten sind alt, sehr alt. Tsai verzichtet ganz auf biographische Angaben. Während bei Wang das ergreifende Schicksal der Menschen im Zentrum steht, schweigt sich Tsai aus. Einer der zwölf Portraitierten, das muss man wissen, ist Schauspieler und Tsai-Muse Lee Kang-sheng, den er als wiederkehrende Figur in fast all seinen Spielfilmen auftauchen ließ.
Tsai, der als Schlüsselfigur des taiwanesischen Kinos gilt, bewegt sich nun seit einiger Zeit in der Kunstwelt. 1994 hatte er mit seinem erst zweiten Film, Vive l’amour, den Goldenen Löwen gewonnen. Der französische Titel ist kein Zufall, sein Filmschaffen wurde deutlich von der Nouvelle Vague geprägt. Sein großes Vorbild war Truffaut mit dem wiederkehrenden Jean-Pierre Léaud, was Tsai mit Schauspieler Lee aufgriff. 2013 verabschiedete er sich von der Filmwelt mit einem Bild, dass wie ein Manifest eines Neuaufbruchs wirken durfte: Die obdachlosen Figuren seines sozialkritischen Stray Dogs standen in einem Hochhausrohbau und starrten eine viertel Stunde lang auf eine ganz und gar schwarze Wand, auf die es weiße Farbe hinabregnete. Eine unvergessen intensive Szene, die scheinbar das Kino anhielt.
Ein Jahr später, Tsai war gerade Jurypräsident des FID Marseille, drehte er Journey to the West, wo er einen buddhistischen Mönch in Zeitlupentempo barfuß die dreckige Phönizierstadt durchqueren ließ. Er rief die »Art of Slow Cinema« aus, weitere Walker-Filme folgten. Diese neue Filmkunst, die fürs Kino nur noch begrenzt kompatibel ist, zielt systemkritisch immer auch auf den Westen und den Kapitalismus, in den sich Taiwan ebenso eingliedert. Your Face meint so auch im Titel den Betrachter: es ist ebenso unser Gesicht, das sich in den Reigen eingliedern könnte.
Leider gerät dies nicht vollkommen überzeugend, was sicherlich der abstoßenden Digitalästhetik und Ausleuchtung geschuldet ist (die Tsai gleichwohl sehr sorgfältig vorgenommen hat, wie Berichte verraten). Unter millimeterdicker Make-up- oder Crème-Schicht glänzen die Gesichter fleischfarben in die Kamera, die Tünche verwehrt, was das eigentliche Thema des Films ist: in den Gesichtern zu lesen. Oder will Tsai uns sagen: Ihr Menschen seid nicht schön anzuschauen? Eine Portraitierte hat eine schwarzglänzende Warze direkt über der Oberlippe. Ein schwarzes Haar ragt hervor. Gleichzeitig lacht sie verlegen in die Kamera, zeigt sich des Mediums bewusst, eine aufgeklärte, moderne Frau. Alle haben tiefe Hautporen, sogar die jungen. Faszination und Abstoßung paaren sich, wenn der Blick auf diese Anti-Ästhetik trifft. Die Frage am Ende bleibt offen: War es Unachtsamkeit (bei Tsai kaum denkbar)? War es ein Statement? Liegt hier der tiefere Sinn verborgen? Allemal aber ein formal konsequenter Film, der trotz aller manifestierter Oberfläche plötzlich auch rätselhaft wird.
»There is some light / There is a story / Your face tells the passage of time / and places you have journeyed«, singt am Ende der Japaner Sakamoto Ryuichi. Die erste Musik, die bei Tsai Ming-liang seit zwanzig Jahren erklingt.