magazin


1 9 8     0 8 0 8 2 0 0 1
besprechung
arnulf rainer - die bibel gestern und heute

arnulf rainer - die bibel gestern und heute

eine ausstellung im lenbachhaus
von 04.08.2001 bis 28.10.2001

"Wenn mein Bild an Kunst das Quantum x hat, muß es durch jede Veränderung für mich das Kunstquantum x + 1 erlangen." Diese Gleichung ist für Arnulf Rainer die Quintessenz seiner Arbeit - und tatsächlich zieht sich die künstlerische Idee der Veränderung und Übermalung wie eine ikonographische Chiffre durch das Werk des österreichischen Künstlers seit Beginn der 50er Jahre. Immer wieder bemalte und zermalte er mit einem ikonoklastisch anmutenden Gestus eigene Werke oder Leinwände fremder Künstler mit monochromen Farbschichten, mit wilden Strichfolgen oder mit bunten, expressiven Farbakkorden. So gesehen greift Rainer bei der zwischen 1995 und 1998 neu entstandenen Serie der Bibelillustrationen in doppelter Hinsicht auf eine lange Tradition zurück: neben der Weiterentwicklung seiner eigenen tradierten Übermalungsformen, steht mit der Bibel eine der bedeutendsten Schriften der Menschheit und damit auch die Tradition ihrer vielfältigen Bildinterpretationen im Mittelpunkt seiner künstlerischen Aufmerksamkeit.
   


Die Städtische Galerie im Lenbachhaus München präsentiert diese Bibelübermalungen Arnulf Rainers aus der Sammlung Frieder Burda zum ersten Mal der Öffentlichkeit. Rainer schuf die insgesamt 160 Illustrationen als Auftragsarbeiten für eine im Pattloch Verlag veröffentlichte Prachtbibel, die in der Ausstellung ebenfalls zu sehen ist. Anders als die streng chronologische Konzeption der luxuriösen Bibelausgabe, gruppiert die Ausstellung die Originalblätter der Bibelserie nach thematischen und formalästhetischen Aspekten und akzentuiert so ihre eigenständige künstlerische Position. Die Ausstellung offeriert dem Betrachter damit ganz bewußt nicht eine literarisch-dogmatische Annäherung an die Bibel-Bilder, sondern versucht, Rainers Bildfindungsprozeß und sein zeichnerisches und malerisches Vokabular offenzulegen. Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit den Bibelillustrationen Arnulf Rainers sind die von ihm gewählten Vorlagen, die von frühen mittelalterlichen Werken aus Codices, Glasfenstern und Fresken über die im 19. Jahrhundert bekannten Bibelillustrationen von Gustave Doré bis zu einfachen Schulschautafeln reichen. Dem Betrachter begegnet so manch eine Inkunabel der Kunstgeschichte, die Rainer zunächst auszugsweise kopiert und vergrößert hat und dann mit verschiedenen Strichfolgen und Farbakzenten neu bearbeitet hat. Ob er die bildlichen Vorlagen mit kreisenden oder zackigen Strichbewegungen aufbricht und neu strukturiert, sie durch graue oder blaue Farbtöne insgesamt abdunkelt und damit fast zum Verschwinden bringt, durch eine ockergelbe Färbung der Bilder den traditionellen Goldgrund wieder neu aufleben läßt oder in einem sehr autonomen malerischen Gestus die Vorlage regelrecht mit Farbe überschüttet - immer ist das Übermalen ein Reagieren Rainers auf die ältere künstlerische Komposition. Das Vor-Bild bestimmt seinen künstlerisch interpretierenden und aktualisierenden Eingriff.

   


"Mit meinen Übermalungen versuche ich, den Bildern das zurückzugeben, was sie verloren haben - ihr Geheimnis." Der Gang durch die Ausstellung macht dies deutlich: die sich wie Rillen und Furchen ausbreitenden Strichbündel Rainers akzentuieren die alte Aussage der Bilder für den modernen Betrachter neu. So trennen die schwarzen Strichfolgen innerhalb der "Noli me tangere"- Szene den auferstandenen Christus von der reuigen Maria Magdalena, die zu seinen Füßen kniet und der die Berührung Christi verwehrt wird. Durch die stark bewegte Strichfolge, die die Komposition wie Sprünge und Risse durchschneidet, lehnt sich Rainer nicht nur an den narrativen Aspekt der Unberührbarkeit Christi an, sondern betont darüber hinaus auch die innere Bewegung und die angespannte Atmosphäre der Szene. Schaut man sich eine Reihe der überarbeiteten Bibel-Bilder Rainers genauer an, so verstärkt sich der Eindruck, daß der Künstler mit seinem breiten Repertoire an Übermalungstechniken nicht etwa in der ikonoklastischen, bilderverneinenden Tradition steht, die die moderne Kunst v. a. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte - ganz im Gegenteil scheint seine Übermalung ein Herausmalen und Herauslösen von Inhalten und Motiven zu sein, die sich bewußt der ikonographischen Tradition und der alten Bildsprache verpflichtet fühlt und diese aus einer modernen Perspektive heraus neu befragt. Durch seine künstlerische Idee der Übermalung gelingt es Rainer, alte Bildmotive für die Gegenwart zu öffnen und neue Akzente an die Oberfläche zu bringen, die durch Geschichte und tradierte Sehgewohnheiten schon längst vergessen waren. Somit arbeitet Rainer in seiner Bibelserie mit unseren historischen Vorstellungen und Bildern der Bibel, die im Verborgenen unseres Bildgedächtnisses im Halbdunkeln schlummern - genauso undifferenziert und verschwommen treten uns analog dazu seine kopierten Vorlagen vor Augen und rufen unmerklich Erinnerungen an bekannte, große Werke der Kunstgeschichte wach. Zwischen ihnen und den neuen Bibel-Bildern Rainers entsteht so ein dynamisches Spannungsfeld von Annäherung und Differenz - dabei konkurrieren die alten Ikonen der Kunstgeschichte nicht etwa mit dem neuen Bild der Bibel, vielmehr scheinen sie gerade durch ihre Übermalungen an Aura und innerer Ausdruckskraft zu gewinnen.

   


Die sicher ausdrucksstärksten Bilder des Bibelzyklus stellen die reinen Kopfdarstellungen dar, die sich wie ein roter Faden durch das Oeuvre des Künstlers ziehen: ob bei seinen Automatenphotos, bei den Totenmasken oder den Selbstbildnissen verschiedener Künstler - immer steht das Kopfthema im Mittelpunkt, ganz nach dem künstlerischen Leitsatz Rainers: "Das Gesicht ist alles, fast alles". Tatsächlich verschmelzen in den Marien- und Christusköpfen wie in keinem anderen Sujet die malerischen Eingriffe Rainers mit den kunsthistorischen Vorlagen zu einer autonomen Komposition. Die besondere Aura der Gottesmutter wird durch die vielfarbige Einrahmung in der Gestalt einer Gloriole akzentuiert, außerdem unterstützen auch die betont weichen Pinselbewegungen und die ineinander fließenden Farbtöne ihren anmutigen und erhabenen Charakter. Das farblich unbearbeitete Gesicht Marias scheint hinter die sie umrahmenden Farbschicht zu treten, die ihre Entrückung und das Geheimnisvolle ihrer Erscheinung noch mehr steigert. Ähnlich komponiert Rainer auch seine schwarzweiß gehaltenen Christusköpfe, denen er sich durch Umrundungen, Spaltungen und Verdeckungen annähert. Was entsteht sind Bilder, die bei aller Antizipation von Tod und Trauer auch Momente der Stille und der Kontemplation in den Vordergrund rücken.

   


Am Ende der Ausstellung stellt sich bei allen künstlerischen Veränderungen Rainers die Frage, inwieweit der Künstler bei einer Vielzahl von Blättern nicht doch zu Nahe seinem Vor-Bild verhaftet bleibt und so auch zu sehr in die Rolle eines mittelalterlichen Buchmalers schlüpft. Hinzu kommt, daß die künstlerische Qualität der Originale vielfach stark differiert - was sicherlich auf das große Auftragsvolumen zurückzuführen ist. Gerade im Vergleich zu dem parallel zur Ausstellung im Lenbachhaus präsentierten Hiroshima-Zyklus Arnulf Rainers aus dem Jahr 1982 scheint der Fokus seiner aktuellen Bibelübermalungen besonders auf eine rein ästhetische und damit viel zurückhaltende Ebene beschränkt. Nur wenige Einzelblätter kommen insgesamt der außerordentlichen Qualität des Hiroshima-Zyklus nahe, der in 70 Fotoübermalungen die persönliche Auseinandersetzung Rainers mit einer der größten menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts dokumentiert.

michaela bücheler



email
impressum


kunst in münchen
suche

berichte, kommentare,
archiv

meinungen,
thesen, aktionen

kulturinformation
im internet