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besprechung arnulf rainer - die bibel gestern und heute
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"Wenn mein Bild an Kunst das Quantum x hat, muß es durch jede Veränderung für mich das Kunstquantum x + 1 erlangen." Diese Gleichung ist für Arnulf Rainer die Quintessenz seiner Arbeit - und tatsächlich zieht sich die künstlerische Idee der Veränderung und Übermalung wie eine ikonographische Chiffre durch das Werk des österreichischen Künstlers seit Beginn der 50er Jahre. Immer wieder bemalte und zermalte er mit einem ikonoklastisch anmutenden Gestus eigene Werke oder Leinwände fremder Künstler mit monochromen Farbschichten, mit wilden Strichfolgen oder mit bunten, expressiven Farbakkorden. So gesehen greift Rainer bei der zwischen 1995 und 1998 neu entstandenen Serie der Bibelillustrationen in doppelter Hinsicht auf eine lange Tradition zurück: neben der Weiterentwicklung seiner eigenen tradierten Übermalungsformen, steht mit der Bibel eine der bedeutendsten Schriften der Menschheit und damit auch die Tradition ihrer vielfältigen Bildinterpretationen im Mittelpunkt seiner künstlerischen Aufmerksamkeit. | |
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Die Städtische Galerie im Lenbachhaus München präsentiert
diese Bibelübermalungen Arnulf Rainers aus der Sammlung Frieder Burda
zum ersten Mal der Öffentlichkeit. Rainer schuf die insgesamt 160 Illustrationen
als Auftragsarbeiten für eine im Pattloch Verlag veröffentlichte Prachtbibel,
die in der Ausstellung ebenfalls zu sehen ist. Anders als die streng
chronologische Konzeption der luxuriösen Bibelausgabe, gruppiert die
Ausstellung die Originalblätter der Bibelserie nach thematischen und
formalästhetischen Aspekten und akzentuiert so ihre eigenständige künstlerische
Position. Die Ausstellung offeriert dem Betrachter damit ganz bewußt
nicht eine literarisch-dogmatische Annäherung an die Bibel-Bilder, sondern
versucht, Rainers Bildfindungsprozeß und sein zeichnerisches und malerisches
Vokabular offenzulegen. Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit den
Bibelillustrationen Arnulf Rainers sind die von ihm gewählten Vorlagen,
die von frühen mittelalterlichen Werken aus Codices, Glasfenstern und
Fresken über die im 19. Jahrhundert bekannten Bibelillustrationen von
Gustave Doré bis zu einfachen Schulschautafeln reichen. Dem Betrachter
begegnet so manch eine Inkunabel der Kunstgeschichte, die Rainer zunächst
auszugsweise kopiert und vergrößert hat und dann mit verschiedenen Strichfolgen
und Farbakzenten neu bearbeitet hat. Ob er die bildlichen Vorlagen mit
kreisenden oder zackigen Strichbewegungen aufbricht und neu strukturiert,
sie durch graue oder blaue Farbtöne insgesamt abdunkelt und damit fast
zum Verschwinden bringt, durch eine ockergelbe Färbung der Bilder den
traditionellen Goldgrund wieder neu aufleben läßt oder in einem sehr
autonomen malerischen Gestus die Vorlage regelrecht mit Farbe überschüttet
- immer ist das Übermalen ein Reagieren Rainers auf die ältere künstlerische
Komposition. Das Vor-Bild bestimmt seinen künstlerisch interpretierenden
und aktualisierenden Eingriff.
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"Mit meinen Übermalungen versuche ich, den Bildern das zurückzugeben,
was sie verloren haben - ihr Geheimnis." Der Gang durch die Ausstellung
macht dies deutlich: die sich wie Rillen und Furchen ausbreitenden Strichbündel
Rainers akzentuieren die alte Aussage der Bilder für den modernen Betrachter
neu. So trennen die schwarzen Strichfolgen innerhalb der "Noli me tangere"-
Szene den auferstandenen Christus von der reuigen Maria Magdalena, die
zu seinen Füßen kniet und der die Berührung Christi verwehrt wird. Durch
die stark bewegte Strichfolge, die die Komposition wie Sprünge und Risse
durchschneidet, lehnt sich Rainer nicht nur an den narrativen Aspekt
der Unberührbarkeit Christi an, sondern betont darüber hinaus auch die
innere Bewegung und die angespannte Atmosphäre der Szene. Schaut man
sich eine Reihe der überarbeiteten Bibel-Bilder Rainers genauer an,
so verstärkt sich der Eindruck, daß der Künstler mit seinem breiten
Repertoire an Übermalungstechniken nicht etwa in der ikonoklastischen,
bilderverneinenden Tradition steht, die die moderne Kunst v. a. in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte - ganz im Gegenteil scheint
seine Übermalung ein Herausmalen und Herauslösen von Inhalten und Motiven
zu sein, die sich bewußt der ikonographischen Tradition und der alten
Bildsprache verpflichtet fühlt und diese aus einer modernen Perspektive
heraus neu befragt. Durch seine künstlerische Idee der Übermalung gelingt
es Rainer, alte Bildmotive für die Gegenwart zu öffnen und neue Akzente
an die Oberfläche zu bringen, die durch Geschichte und tradierte Sehgewohnheiten
schon längst vergessen waren. Somit arbeitet Rainer in seiner Bibelserie
mit unseren historischen Vorstellungen und Bildern der Bibel, die im
Verborgenen unseres Bildgedächtnisses im Halbdunkeln schlummern - genauso
undifferenziert und verschwommen treten uns analog dazu seine kopierten
Vorlagen vor Augen und rufen unmerklich Erinnerungen an bekannte, große
Werke der Kunstgeschichte wach. Zwischen ihnen und den neuen Bibel-Bildern
Rainers entsteht so ein dynamisches Spannungsfeld von Annäherung und
Differenz - dabei konkurrieren die alten Ikonen der Kunstgeschichte
nicht etwa mit dem neuen Bild der Bibel, vielmehr scheinen sie gerade
durch ihre Übermalungen an Aura und innerer Ausdruckskraft zu gewinnen.
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Die sicher ausdrucksstärksten Bilder des Bibelzyklus stellen
die reinen Kopfdarstellungen dar, die sich wie ein roter Faden durch
das Oeuvre des Künstlers ziehen: ob bei seinen Automatenphotos, bei
den Totenmasken oder den Selbstbildnissen verschiedener Künstler - immer
steht das Kopfthema im Mittelpunkt, ganz nach dem künstlerischen Leitsatz
Rainers: "Das Gesicht ist alles, fast alles". Tatsächlich verschmelzen
in den Marien- und Christusköpfen wie in keinem anderen Sujet die malerischen
Eingriffe Rainers mit den kunsthistorischen Vorlagen zu einer autonomen
Komposition. Die besondere Aura der Gottesmutter wird durch die vielfarbige
Einrahmung in der Gestalt einer Gloriole akzentuiert, außerdem unterstützen
auch die betont weichen Pinselbewegungen und die ineinander fließenden
Farbtöne ihren anmutigen und erhabenen Charakter. Das farblich unbearbeitete
Gesicht Marias scheint hinter die sie umrahmenden Farbschicht zu treten,
die ihre Entrückung und das Geheimnisvolle ihrer Erscheinung noch mehr
steigert. Ähnlich komponiert Rainer auch seine schwarzweiß gehaltenen
Christusköpfe, denen er sich durch Umrundungen, Spaltungen und Verdeckungen
annähert. Was entsteht sind Bilder, die bei aller Antizipation von Tod
und Trauer auch Momente der Stille und der Kontemplation in den Vordergrund
rücken.
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Am Ende der Ausstellung stellt sich bei allen künstlerischen
Veränderungen Rainers die Frage, inwieweit der Künstler bei einer Vielzahl
von Blättern nicht doch zu Nahe seinem Vor-Bild verhaftet bleibt und
so auch zu sehr in die Rolle eines mittelalterlichen Buchmalers schlüpft.
Hinzu kommt, daß die künstlerische Qualität der Originale vielfach stark
differiert - was sicherlich auf das große Auftragsvolumen zurückzuführen
ist. Gerade im Vergleich zu dem parallel zur Ausstellung im Lenbachhaus
präsentierten Hiroshima-Zyklus Arnulf Rainers aus dem Jahr 1982 scheint
der Fokus seiner aktuellen Bibelübermalungen besonders auf eine rein
ästhetische und damit viel zurückhaltende Ebene beschränkt. Nur wenige
Einzelblätter kommen insgesamt der außerordentlichen Qualität des Hiroshima-Zyklus
nahe, der in 70 Fotoübermalungen die persönliche Auseinandersetzung
Rainers mit einer der größten menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts
dokumentiert.
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