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227 03|04|2002 | besprechung der akt in der viktorianischen zeit
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Wie steht es nun mit dem Engländer. Ist er prüde, ist er leidenschaftlich oder beides zugleich? Letzteres ist als viktorianische Doppelmoral zum stehenden Begriff geworden und das, obwohl die jüngere historische Forschung redlich bemüht ist, mit diesem Vorurteil aufzuräumen. Auf der anderen Seite, so die englische Kuratorin der Ausstellung, Alison Smith von der Tate Britain, hat das gewisse Fünkchen Wahrheit an Aktualität bis auf den heutigen Tag nichts eingebüßt. Sie selbst entpuppte sich anlässlich der Eröffnung im Münchner Haus der Kunst als Inkarnation dieses ungleichen Paares. Auf den ersten Blick mochte man ihr die leidenschaftlich flammende Rede vor den Meisterwerken englischer Aktkunst gar nicht zutrauen. Das ist sie, die Mischung aus beredsamer Distanz, die dem lustvoll komponierten Aktgemälde eine kunstvolle Hülle verschafft und dem packenden Zugriff der Sprachbilder, die die Vorstellungskraft anheizt und eine neue Lust am Bild generiert. England ist nicht umsonst Brutstätte des "Sublime" - Genießen, aber mit wohlfeiler Distanz! |
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Wo ließe sich die spannungsvolle Seele des Engländers besser verdeutlichen als an seiner Aktmalerei. Natur und Natürlichkeit standen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hoch im Kurs. Doch die großen nationalen Vorbilder, Naturburschen wie die Turner, Gainsborough, Constable und Hogarth, waren dem Akt ferngeblieben. Kontinentale Vorbilder mussten her. Der Blick über den Kanal fiel auf Tizian, Rembrandt, Rubens, deren Naturalismus und Kolorit der Engländer pries. Zur Wahrung des Anstands vor allem des öffentlichen Aktes und erst recht des weiblichen Aktes bedurfte es allerdings noch des deutlichen Zu- und Rückgriffs auf die nationale Literatur oder das antik klassische Erbe. Vorbildlich anständig ist vor allem die Begeisterung der Queen, die Jahr für Jahr ihrem Gemahl Prinz Albert ein Aktbild zum Geburtstag schenkte. |
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Katalog und Ausstellung gliedern sich in sechs Bereiche, die durchaus
auch chronologisch zu lesen sind. "Der englische Akt" der 40er und
50er Jahre orientiert sich stilistisch an den italienischen und flämischen
Vorbildern. Literarische Vorlagen sind gefragt: Spencers "Fairie Queene",
James Thomsons "The Seasons", Shakespeares "Sommernachtstraum" dienen
der Rechtfertigung vor allem des weiblichen Aktes; wenn Ritter rettend
zur Seite eilen, wenn badende Schönheiten aus dem Hinterhalt überrascht
werden. "Der klassische Akt" der 60er ist inhaltlich geprägt von den
Sagen und Motiven des griechisch klassischen Altertums. Stilistisch
macht sich der französische Einfluss bemerkbar. Die jüngere englische
Generation hatte auf dem Festland die zeichnerische Finesse der Ingres-Schule
entdeckt und diese dem heimatlichen Akt zugeführt. Englisch blieben
aber die Typen mit langen blonden, kastanienbraunen Haaren und blauen
Augen. Die Frauen oft muskulös gemäß dem Vorbild griechischer Plastik,
die Männer von femininem Antlitz, um die jeweilige erotische Pointe
abzumildern. Lustvolle Momente geben sich oft erst auf den zweiten
Blick zu erkennen, durch symbolträchtige Attribute und Kompositionen,
die sich nur dem geschulten und eingeweihten Auge erschließen. Richmond
versetzt eine Gruppe männlicher Bowling-Spieler in einen idyllischen
Garten, wo sich Frauen - ihrer Rolle treu - der passiven Muße hingeben.
Das Eindringen in den weiblichen hortus conclusus spricht Bände,
auch in vielen Details, und dies obwohl sich die Gruppen gegenseitig
nicht zu beachten scheinen. |
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In der "Werkstatt des Künstlers" meißelt sich der zypriotische Bildhauer
Pygmalion seine Idealfrau in Stein. Burne Jones zeigt den Moment der
Eingebung. Auf dem Boden spiegeln sich die antiken Bildwerke der Drei
Grazien, die als schöpferischer Impuls im Hintergrund zugleich an
die Abkehr von einer sturen und leblosen Nachahmung antiker Bildwerke
gemahnt. Das Werk vollbracht, ersehnt sich Pygmalion seine Verwandlung
in Fleisch und Blut. Aphrodite erfüllt ihm den Wunsch und doch bleibt
die Begegnung der beiden Liebenden befremdend. Als Triumph einer das
Leben übertreffenden Kunst-Skulptur ist diese Geschichte der Verlebendigung
nicht mehr zu deuten. Fast scheint es so, als sei es die Realität,
die ihr Recht und ihren Triumph einklagt: Ihre Unvollkommenheit, ihr
Schweben zwischen dem Sinnlichen und dem Höheren adelt sie auf lustvolle
Weise.
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