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besprechung
seitenwende - museumsreise. eine installation von thomas zacharias und erhard hössle
seitenwende - museumsreisen

eine ausstellung in der neuen pinakothek
von 21.10.1999 bis 30.01.2000

Wer heißt schon Leonardo da Vinci, und hat das Glück, daß sein Skizzenbuch von Bill Gates gekauft wird ? Ein solcher Kauf von dem Microsoft-Riesen Gates ermöglicht natürlich eine einwandfreie Präsentation durch das Medium Internet, das jedem Künstler nur entgegen kommen kann. Keine schmutzigen Hände, die das Buch achtlos durchblättern, die eine oder andere Seite anreißen, mit Fettflecken versehen oder womöglich gleich ganz herausreißen. Leonardos Codex Leicester gehört zu den wertvollsten Büchern der Welt, und wird trotz der Tauenden von Betrachtern, die sich täglich mit dem Werk beschäftigen, wohl kaum jemals Schaden nehmen. Durch seine Seiten kann man sich via Internet Schritt für Schritt linken, um sich anschließend noch alles am heimischen Computer ausdrucken zu lassen - dem Bedürfnis nach Nähe zum Werk kann hier vollkommen nachgekommen werden!
   
die skizzenbuchum-
blättermaschine

Und was macht ein Künstler, der sein Werk auch öffentlich zeigen will, aber nicht das Risiko der Zerstörung eingehen möchte ? Er läßt sich eine Skizzenbuchumblättermaschine erfinden. So geschehen bei Thomas Zacharias, dessen Skizzenbücher zur Zeit automatisch von Erhard Hössles genialer Konstruktion umblättert werden.

Hössle, einst Professor für Gold- und Silberschmiedearbeiten an der Akademie der Bildenden Künste, scheint ein Daniel Düsentrieb der Kunst zu sein. Zu seinen Werken gehören so klangvolle Dinge wie Fesseldrachen, pyrotechnische Objekte oder eben besagte Skizzenbuchumblättermaschine. (Als Münchner kennt man von Hössle das Windrad am Turm des alten Rathauses oder die Solar-Mobile in der Stadtbibliothek am Gasteig.)

Nun ist die Idee der automatischen Lesehilfe nicht ganz neu: Agostino Ramelli (1531-1604) dachte 1588 schon einmal über ein sog. Leserad nach, welches nicht nur platzsparend, sondern auch für Gichtkranke (!) überaus praktisch sei. Und in neuerer Zeit hat sich Timm Ulrichs mit dem Gedanken des "praktischen Lesens" auseinandergesetzt; seine Blätter-Umblasmaschine von 1985 funktionert mit einem Ventilator als "Büchmanns Geflügelte Worte".
   
geniale konstruktion: eine maschine, die seiten blättert


Zur eigentlichen Perfektion bringt es aber eben doch erst Hössles Maschine. Ein Greifarm aus Messing bewegt die Buchseiten auf der einen Seite, während auf der anderen Seite eine Perle an einem filigranen Stahldraht befestigt, das feine Papier vorsichtig bewegt.
Die Freude, diesem gleichermaßen praktischen wie schönen Objekt zuzusehen, wird höchstens getrübt von dem Ende des Skizzenbuchs, das allein das Museumspersonal zurückblättern kann; ein Problem, das offenbar auch ein Erfinder wie Hössle nicht lösen konnte.

Und was findet sich nun in den Skizzenbüchern ? Zeichnungen von Meisterwerken Alter Meister. Nicht gerade das Thema, das man in der modernen Skizzenbuchumblättermaschine (ein Wortungetüm, das ist klar) erwartet. Was Künstler und Nicht-Künstler seit Menschen gedenken getan haben, "altmodisches" Abzeichnen von Gesten, Kleidung und Körper, dem ist auch Thomas Zacharias, dem Produzent der Skizzenbücher, zur Genüge nachgegangen. Von Altdorfer bis Velazquez sind in seinen Skizzenbüchern alle vertreten, die man kennt oder zumindest zu kennen glaubt. Zacharias kultiviert hier etwas, was heutzutage nicht gerade mehr zur Grundausstattung jedes Akademieschülers gehört: "Zeichnen um anzuschauen, nicht Anschauen um zu zeichnen". Das die Idee des Sehens durch Nachzeichnen dabei bisweilen ein bißchen dogmatisch wirkt, paßt zugegebenermaßen auch zur Vorstellung von einem Kunsterzieher (wie Zacharias es neben seinem Künstler-Dasein auch ist). "Disegno, ergo sum" sind in diesem Sinn seine belehrenden Worte, mit denen er den Ausstellungsbesucher allerdings weniger überzeugen kann, als die schöne Konstruktion seines Kollegen: vor allem die Maschine lohnt den Gang zu den Meistern der Neuen Pinakothek. Die Meister selbst guckt man sich lieber im Original an.

christine walter


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