Mitte Oktober in Leipzig. Die Stadt ist mit bonbonförmigen
Emblemen geschmückt. Sie prangen auf Plakaten, flattern
fröhlich im Herbstwind, kleben sogar auf den grauen Platten
der Fußwege. Wer genauer hinschaut, kann darauf das
Wörtchen DOK entziffern: Es ist Filmfestzeit. Die Schriftzüge
weisen den Weg zu diversen Kinos, vor denen sich Fans des
Dokumentarfilms versammeln. Nach und nach scheint es sich
zumindest in Leipzig herumzusprechen, dass Dokus keine trockene
Kost für intellektuelle Miesepeter sind, sondern das
pralle Leben enthalten. Für jeden Geschmack ist etwas
geboten: Skurriles und Schrilles, Hintersinniges und Poetisches,
Witziges, Verblüffendes und Spannendes. 369 Filme wetteifern
in diesem Jahr um die Gunst des Publikums und der Juroren.
Das Internationale
Dokfestival Leipzig, neben Nyon das wichtigste seiner
Art in Europa, hat fast ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel.
In diesem Jahr gönnt man sich einen Blick auf die eigene
Geschichte. In der Reihe DAS JAHR EINS werden Beiträge
gezeigt, die auf dem ersten Festival von 1955 liefen. Ursprünglich
hatten sich die DDR-Apparatschiks das Ganze wohl als prestigeträchtige,
sozialistisch korrekte Antwort auf die Glamourveranstaltungen
des Westens gedacht. Doch neben Filmen, die man vor allem
deswegen zeigte, weil der Inhalt so hübsch ins ideologische
Konzept passte, fanden hier auch hervorragende Filmemacher
aus Osteuropa und der Dritten Welt ihr Internationales Podium.
"Leipzig war eine Kombination aus der Wärme der
Internationalen Solidarität und der Kälte des Kalten
Kriegs", beschrieb Dokumentarfilmer Stanley Forman die
Atmosphäre jener Tage. Das Besondere an Leipzig, so Forman,
sei immer die politische Leidenschaft gewesen.
Diesem Anspruch ist man auch nach der Wende treu geblieben:
"Wir sind immer auf der Suche nach Filmen, die sozial
brisante Themen aufgreifen oder sich politisch positionieren",
sagt Beate Maschke, Pressesprecherin des DOK-Festes. Statt
einen historischen Bogenschlag zu versuchen, konzentrierten
sich die Dokumentarfilmer jedoch heute verstärkt auf
Familiengeschichten und Einzelschicksale, in denen sich die
Weltgeschichte spiegele. "Der Dokumentarfilm wird zunehmend
privater", beschreibt sie den derzeitigen Trend. Ein
grandioses Beispiel ist der Film NEUN GUTE ZÄHNE von
Alex Halpern. Er erzählt die Geschichte der 102jährigen
Mary Mirabito, die als junges Mädchen aus Italien nach
Amerika kam. "Das Schreckliche ganz unten im Topf kennt
nur der Löffel" lautet ein altes sizilianisches
Sprichwort. Und Mary rührt ganz gehörig in der familiären
Suppe. Mit entwaffnender Offenheit schildert die resolute
alte Dame mal komische, mal tragische Ereignisse und deckt
dabei zum Entsetzen der Verwandtschaft manch düsteres
Familiengeheimnis auf.
Globalen Fragen werden indes verstärkt von Trickfilmern
aufgegriffen: "Kaum ein politisch wichtiges Thema, das
nicht vom Animationsfilm verarbeitet wird", so Maschke.
Seit 1995 werden parallel zu den Dokumentarfilmen auch Animationsfilme
in Leipzig gezeigt. Zwischen diesen auf den ersten Blick so
unvereinbar scheinenden Polen der Filmkunst ergeben sich interessante
Überlappungen. In der Rubrik Animadok mixen Filmemacher
unbekümmert Stilmittel aus beiden Genres und schaffen
so innovative Zwitterwerke. Überhaupt werden die Grenzen
durchlässiger: Statt, wie in historischen Reportagen
schon lange üblich, eine reale Begebenheit mit fiktiven
Spielszenen zu bebildern, haben die Regisseurinnen von KARMA
COWBOY den Spieß einfach umgedreht. Sonja Heiss und
Vanessa van Houten reisen auf der Suche nach einem verschwundenen
Freund durch die USA. Sie treffen dort auf Menschen aus dem
sozialen Abseits, die sich mit Jobs von Monat zu Monat hangeln
und dabei fest daran glauben, dass die Zukunft hinter der
nächsten Ecke wartet. Die Leute vor der Kamera und ihre
Lebensgeschichten sind echt, den Freund haben sich die Filmemacherinnen
ausgedacht.
Mit originellen Lösungen und Lust am Erzählen erobert
man selbst eingefleischte Dokumuffel. Im letzten Jahr strömten
19.000 Besucher in die Leipziger Kinosäle, ein neuer
Rekord. Damals war es der Schock des 11. Septembers, der den
Boom ausgelöst. "Da hatten die Leute auf einmal
ihr Bedürfnis nach authentischer, unverfälschter
Information wiederentdeckt", berichtet Maschke. Dennoch
hoffen die Veranstalter die hohe Messlatte, wenn schon nicht
zu toppen, so doch wieder zu erreichen. Denn Interesse an
qualitativ hochwertigen Dokumentarfilmen ist offensichtlich
vorhanden. Schon in den Vorjahren sind die Besucherzahlen
kontinuierlich nach oben geklettert. Auch außerhalb
der Festivals sind wieder mehr Dokumentarfilme im Kino zu
sehen.
Das geht auch an den Programmmachern der Fernsehanstalten
nicht vorbei: Der neue ZDF Intendant Markus Schächter
hat kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen
angekündigt, zukünftig einen Primetimeplatz für
Dokumentationen zu reservieren. Zeichnet sich da eine Trendwende
ab? "Wir arbeiten daran", sagt Maschke und lacht.
An Leipzig wird es jedenfalls nicht scheitern
Nani Fux
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