KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
17.10.2002
 
 
       

"Sehen was wirklich los ist"
45. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

 
       
 
 
 
 

Mitte Oktober in Leipzig. Die Stadt ist mit bonbonförmigen Emblemen geschmückt. Sie prangen auf Plakaten, flattern fröhlich im Herbstwind, kleben sogar auf den grauen Platten der Fußwege. Wer genauer hinschaut, kann darauf das Wörtchen DOK entziffern: Es ist Filmfestzeit. Die Schriftzüge weisen den Weg zu diversen Kinos, vor denen sich Fans des Dokumentarfilms versammeln. Nach und nach scheint es sich zumindest in Leipzig herumzusprechen, dass Dokus keine trockene Kost für intellektuelle Miesepeter sind, sondern das pralle Leben enthalten. Für jeden Geschmack ist etwas geboten: Skurriles und Schrilles, Hintersinniges und Poetisches, Witziges, Verblüffendes und Spannendes. 369 Filme wetteifern in diesem Jahr um die Gunst des Publikums und der Juroren.

Das Internationale Dokfestival Leipzig, neben Nyon das wichtigste seiner Art in Europa, hat fast ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. In diesem Jahr gönnt man sich einen Blick auf die eigene Geschichte. In der Reihe DAS JAHR EINS werden Beiträge gezeigt, die auf dem ersten Festival von 1955 liefen. Ursprünglich hatten sich die DDR-Apparatschiks das Ganze wohl als prestigeträchtige, sozialistisch korrekte Antwort auf die Glamourveranstaltungen des Westens gedacht. Doch neben Filmen, die man vor allem deswegen zeigte, weil der Inhalt so hübsch ins ideologische Konzept passte, fanden hier auch hervorragende Filmemacher aus Osteuropa und der Dritten Welt ihr Internationales Podium. "Leipzig war eine Kombination aus der Wärme der Internationalen Solidarität und der Kälte des Kalten Kriegs", beschrieb Dokumentarfilmer Stanley Forman die Atmosphäre jener Tage. Das Besondere an Leipzig, so Forman, sei immer die politische Leidenschaft gewesen.

Diesem Anspruch ist man auch nach der Wende treu geblieben: "Wir sind immer auf der Suche nach Filmen, die sozial brisante Themen aufgreifen oder sich politisch positionieren", sagt Beate Maschke, Pressesprecherin des DOK-Festes. Statt einen historischen Bogenschlag zu versuchen, konzentrierten sich die Dokumentarfilmer jedoch heute verstärkt auf Familiengeschichten und Einzelschicksale, in denen sich die Weltgeschichte spiegele. "Der Dokumentarfilm wird zunehmend privater", beschreibt sie den derzeitigen Trend. Ein grandioses Beispiel ist der Film NEUN GUTE ZÄHNE von Alex Halpern. Er erzählt die Geschichte der 102jährigen Mary Mirabito, die als junges Mädchen aus Italien nach Amerika kam. "Das Schreckliche ganz unten im Topf kennt nur der Löffel" lautet ein altes sizilianisches Sprichwort. Und Mary rührt ganz gehörig in der familiären Suppe. Mit entwaffnender Offenheit schildert die resolute alte Dame mal komische, mal tragische Ereignisse und deckt dabei zum Entsetzen der Verwandtschaft manch düsteres Familiengeheimnis auf.

Globalen Fragen werden indes verstärkt von Trickfilmern aufgegriffen: "Kaum ein politisch wichtiges Thema, das nicht vom Animationsfilm verarbeitet wird", so Maschke. Seit 1995 werden parallel zu den Dokumentarfilmen auch Animationsfilme in Leipzig gezeigt. Zwischen diesen auf den ersten Blick so unvereinbar scheinenden Polen der Filmkunst ergeben sich interessante Überlappungen. In der Rubrik Animadok mixen Filmemacher unbekümmert Stilmittel aus beiden Genres und schaffen so innovative Zwitterwerke. Überhaupt werden die Grenzen durchlässiger: Statt, wie in historischen Reportagen schon lange üblich, eine reale Begebenheit mit fiktiven Spielszenen zu bebildern, haben die Regisseurinnen von KARMA COWBOY den Spieß einfach umgedreht. Sonja Heiss und Vanessa van Houten reisen auf der Suche nach einem verschwundenen Freund durch die USA. Sie treffen dort auf Menschen aus dem sozialen Abseits, die sich mit Jobs von Monat zu Monat hangeln und dabei fest daran glauben, dass die Zukunft hinter der nächsten Ecke wartet. Die Leute vor der Kamera und ihre Lebensgeschichten sind echt, den Freund haben sich die Filmemacherinnen ausgedacht.

Mit originellen Lösungen und Lust am Erzählen erobert man selbst eingefleischte Dokumuffel. Im letzten Jahr strömten 19.000 Besucher in die Leipziger Kinosäle, ein neuer Rekord. Damals war es der Schock des 11. Septembers, der den Boom ausgelöst. "Da hatten die Leute auf einmal ihr Bedürfnis nach authentischer, unverfälschter Information wiederentdeckt", berichtet Maschke. Dennoch hoffen die Veranstalter die hohe Messlatte, wenn schon nicht zu toppen, so doch wieder zu erreichen. Denn Interesse an qualitativ hochwertigen Dokumentarfilmen ist offensichtlich vorhanden. Schon in den Vorjahren sind die Besucherzahlen kontinuierlich nach oben geklettert. Auch außerhalb der Festivals sind wieder mehr Dokumentarfilme im Kino zu sehen.

Das geht auch an den Programmmachern der Fernsehanstalten nicht vorbei: Der neue ZDF Intendant Markus Schächter hat kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen angekündigt, zukünftig einen Primetimeplatz für Dokumentationen zu reservieren. Zeichnet sich da eine Trendwende ab? "Wir arbeiten daran", sagt Maschke und lacht. An Leipzig wird es jedenfalls nicht scheitern

Nani Fux

 

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]