USA/Mexiko 2006 · 144 min. · FSK: ab 16 Regie: Alejandro González Iñárritu Drehbuch: Guillermo Arriaga Kamera: Rodrigo Prieto Darsteller: Brad Pitt, Cate Blanchett, Said Tarchani, Boubker Ait El Caid, Gael García Bernal, Rinko Kikuchi u.a. |
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»Was wir wirklich teilen, ist das Unglück.« |
An einem Punkt, in einem Augenblick, erscheint die ganze Welt. Im Grunde machen die Filme von Alejandro González Iñárritu nichts anderes, als dass sie diesen einen Punkt entfalten, seine Vor- und Nachgeschichte erzählen, seine verschiedenen Facetten vor dem Zuschauer auffächern – leidenschaftlich, intensiv. Bis die ganze Welt zu sehen ist.
Seine Filme sind wie katholische Heiligenbilder: Blutbesudelt, bunt, wild und hysterisch, immer ein klein wenig »over the top«. Ob Amores perros, 21 Gramm oder jetzt Babel – immer dringt Iñárritus Blick irgendwann in die Körper der Menschen ein, setzt das rohe, blutig zuckende Fleisch frei, als ob das irgendetwas beglaubigen würde, was noch der beste Darsteller, noch der manipulativste Schnitt nicht schaffen: »Seht her, mein Leib!« schreien diese Filme, als ob Echtheit letztendlich nur durch Schmutz, durch Verunreinigung, durch einen Exhibitionismus der Bilder zu haben wäre.
Wer einmal in Iñárritus Heimatstadt Mexico-City gewesen ist, kennt die »heilige Madonna von Guadeloupe«. Tausende pilgern hier täglich her, aus dem ganzen Land, hunderte von ihnen kriechen die letzten langen Meter auf allen vieren im Staub, rutschen auf den Knien, bis diese blutüberströmt sind, geißeln sich, fügen sich Leiden zu, um sich gleich ganz von ihrem Leid zu befreien. An dieses für atheistische Augen absurde, für die dortigen Gläubigen ganz ernst gemeinte Spektakel muss man denken bei Iñárritus Filmen; auch in ihnen liegt solch ein magisch-katholischer Gegenzauber, die tiefe Sehnsucht, sich durch Aneignung des Bösen von ihm zu erlösen.
»Was uns allen als Menschen gemeinsam ist«, sagt Iñárritu, »ist der Schmerz. Tolstoi hat sich getäuscht. Er hat gesagt, alle Familien teilten ein gemeinsames Glück, der Schmerz dagegen sei verschieden. Ich denke, es ist genau umgekehrt: Was wir wirklich teilen, ist das Unglück.« Und vom Unglück, vom Schmerz und der Erlösung aus ihm handeln seine Filme. Auf Chaos, Verbrechen, alle sieben Todsünden und drastische Schicksalsschläge trifft man dort fortwährend, und in allen dreien steht ein schwerer Unfall im Zentrum, der in das Leben einiger Menschen einschlägt, wie ein göttlicher Blitz. Oder der Zufall möglicherweise. Zumindest bedeutet »accident« beides. »Ich bin von der Idee des freien Willens besessen«, sagt er. »Bis wohin ist der Mensch frei? Und bis wohin ist alles vom Schicksal vorbestimmt? Oder liegt es in den Händen Gottes?«
Man kann gar nicht sagen, was die größte Stärke von Iñárritus Kino ist: Ist es die alttestamentarische Gewalt der – vor allem in Amores perros – oft ganz ungeschönten Bilder, die Momentaufnahmen aus dem Moloch des Lebens? Ist es die überaus geschickte Musikauswahl die Mainstream wie Julieta Vinegas mit dem mexikanischen Rap der »Controll Machete« und »La
Panaderia«-Avantgarde verbindet? Ist es der dauernde Bruch mit den narrativen Üblichkeiten, das clevere Dekonstruieren der Storys, das seine Filme in immer neuen Parallelhandlungen bis an den Rand des Prätentiösen führt, wenn er die Geschichte um ihren Kristallisationspunkt vor und zurückfährt, als wolle hier einer zeigen: »Ey Leute, den Tarantino kann ich schon lange!«, und alles dann doch raffiniert wieder verknüpft? Ist es die Verbindung von Stars und Laien, die einen Brad
Pitt plötzlich mit marokkanischen Bauern zusammenbringt, bis man irgendwann nicht mehr sicher ist, wer hier der Profi ist und wer nicht? Oder doch die virtuose Montage – Iñárritu selbst mit Traffic-Editor Stephen Mirrione – all dieser Elemente zu einem Film mit einem Sog wie ein einziger langer Atemzug, der in seiner Punkrock-Rasanz und Musikalität einerseits manchmal an einen
Musikclip erinnert, aber doch auch immer vom epischen Pathos des klassischen Hollywood erfüllt ist?
Jedenfalls ist Iñárritu schon mit seinem Debüt Amores perros zu einem der angesagtesten und vermeintlich innovativsten Regisseure der Gegenwart geworden; und zumindest als Idol angehender Filmhochschüler hat er Tarantino bereits den Rang abgelaufen.
Wenn man ihn persönlich trifft, begegnet man einem netten gelassenen Menschen, jedenfalls beim Filmfestival in San Sebastián, wo es nicht ganz so hoch hergeht wie in Cannes. Kein Hollywood-Gehabe, eher der gute Kumpel aus Mexico-City: »Claro cabron.«, alles kein Problem. Etwas grau geworden ist er in den letzten Jahren; man sieht Iñárritu den Stress an, den es bedeutet, im Strudel von Hollywood alle zwei Jahre einen neuen Film zu machen und dabei seine Handschrift zu bewahren: »Hollywood ist auch nur ein Wort, ein Vorurteil. Ich fühle mich als Autorenfilmer und will meine eigenen Projekte verwirklichen, und bisher hat das gut geklappt. Mir ist nur Freiheit und Respekt begegnet.«
Begonnen hat er als Radio-DJ. 1963 geboren, aufgewachsen in den gesicherten Verhältnissen einer Familie der oberen Mittelklasse, konnte er es sich erlauben, Film und Theater zu studieren und auch sonst zu machen, worauf er Lust hatte. Es war die Zeit, in der das Regime der linkspopulistischen PRI allmählich erodierte, die Mexiko 70 Jahre lang in einer Mischung aus Demokratie und Diktatur regiert hatte. Gerade in der Hauptstadt gab es eine große gegenkulturelle Szene: Musik, Avantgardekunst und Independentfilm blühten, die Anregungen holte man sich aus dem Ausland, aus Europa und Asien so gut wie aus den USA. Aus diesem Hintergrund stammen alle, die gemeinsam mit Iñárritu ab 2000 den neuen Ruhm des mexikanischen Kinos einleiteten: Alfonso Cuarón, dessen Y tu mamá también ein zweiter Festival-Paukenschlag war, Carlos Reygadas (Japón, Batalla en el cielo) und Guillermo del Toro (Mimic, Hellboy, Pans Labyrinth), ebenso wie sein Kameramann Rodrigo Prieto und Guillermo Arriaga, mit dem er bisher gemeinsam alle drei Drehbücher seiner Filme schrieb und entgegen mancher Gerüchte wohl auch in Zukunft zusammenarbeiten wird.
»Ursprünglich wollte ich Komponist werden«, blickt Iñárritu auf diese Zeit zurück. Für sechs Filme schrieb er die Filmmusik, dann begann er fürs Fernsehen als Produzent zu arbeiten und erste eigene Erfahrungen als Werbefilmer zu machen. Dazwischen beendete er sein Filmstudium und bereitete seinen ersten Spielfilm vor. »Mit Drehbuchautor Guillermo Arriaga und ich wollten ursprünglich eine Reihe von Kurzfilmen machen, die thematisch verbunden waren, ein Portrait von Mexico-City. Daraus wurden dann die drei Erzählstränge in Amores perros«. Schon zu Beginn war das ganze als Trilogie über den Tod geplant, »ein Triptychon« wie es der Regisseur selber nennt. Nach dem Erfolg mit Amores perros, der sogar den Auslandsoscar gewann, zog Iñárritu nach Los Angeles. Die beiden nächsten Filme drehte er auf Englisch, mit internationalen Schauspielern und dem Geld großer Studios. Als Verrat an seiner Herkunft will er das nicht verstehen: »Wir tun etwas für Mexiko. Als Künstler muss man aus seinem eigenen Land gehen. Kultur hat etwas mit Vielfalt zu tun, und Los Angeles ist ein komplexer kultureller 'Melting Pot'. Ich war schon immer offen für Kulturen außerhalb Mexikos.«
Sein neuester Film, Babel, für den Iñárritu in Cannes den Regiepreis bekam, wirkt wie die Illustration solcher Sätze. Der Titel ist Programm, im mehrfachen Sinn: Als Anspielung auf den Griffith-Klassiker Intolerance, der ähnlich »simultan« erzählt ist; in der Sicht auf die Welt als einer »babylonischen« Sprachverwirrung – mit entsprechendem Subtext der
»Sündhaftigkeit« und Sehnsucht nach dem Zurück, der Wiederentdeckung der »einen« Sprache; und im Focus auf Modernität. Babel ist ein Globalisierungsthriller, dessen Regisseur eine Antwort auf die Frage gefunden hat, wie die gegenwärtigen Weltverhältnisse denn ohne zuviel Vereinfachung darzustellen sind.
Man kann die Story als moralisches Traktat lesen: Ein japanischer Tourist schenkt seinem Berberführer ein Gewehr. Dessen Sohn bekommt die Waffe
durch Zufall in die Hand. Durch Zufall trifft ein Schuss eine amerikanische Touristin, die um ein Haar verblutet und nur dank der Initiative ihre Mannes und der Macht der US-Botschaft überlebt. Derweil werden die Kinder des Paares von der mexikanischen Hausangestellten mit nach Mexiko zu einer Hochzeit genommen – und verdursten um ein Haar in der Wüste. Und damit sich der Kreis schließt, rettet ein ermittelnder Polizist in Japan die Tochter des Touristen vor dem
Selbstmord.
Man kann in all dem eine Komödie der Irrungen und des Zufalls sehen, eine melodramatische Bestandsaufnahme der Conditio Humana, zugleich auch eine ins Bild gefasste Chaostheorie, als zum Film geronnener Schmetterlingseffekt, der allerdings mit viel Leidenschaft derart aufgeblasen wurde, dass er vor Kraft kaum noch gehen kann – und dem Zuschauer dauernd zubrüllt: Hey, was bin ich clever, was bin ich bedeutungssatt, was bin ich cool! –, schließlich ist dies auch das Portrait der globalisierten Weltverhältnisse, in denen zwar einerseits alles mit allem zusammenhängt und eine Gewehrkugel drei Kontinente miteinander verbindet, andererseits aber doch die Ungleichheit der Menschen, die Tatsache dass ihre Beziehungen Abhängigkeitsverhältnisse unter Gleichgültigen sind und Ausbeutungscharakter haben, dominiert.
Alles wird gut und für manche wird es besser – schlichte Gefühlsduselei für den Mittelstand des Westens also. Denn natürlich ist die Gleichheit zwischen seinen Figuren, die der Film suggeriert, die Gleichheit also zwischen einem amerikanischen Touristen und einem marokkanischen Bauern eine Illusion, und, da wo der Film selber an sie glaubt, pure Ideologie.
Zugleich ist Babel, gedreht von einem Hollywood-finanzierten Mexikaner, mit Weltstars wie Brad Pitt, Cate Blanchett und Gael Garcia Bernal, in vier Ländern und fünf Sprachen, triefend vor guten Menschen und Moral, selbst die Quintessenz gegenwärtigen Kinoglobalismus'. Darum ist eine Art Happy End am Ende auch zwingend. Man muss zwar katholisch oder Amerikaner sein, um es wirklich zu glauben, doch daran, das es einem durch Nachdenken gleich wieder im Halse stecken bleibt, und man den Deus-ex-machina bemerkt, hindert einen die betäubende Inszenierung.
Wenn der Katholizismus für Iñárritus Kino der Effekte wichtig ist, dann sind es genauso Punkrock und Deleuze; und auch Kieslowski sollte man nicht vergessen. Obwohl der von ganz anderem Temperament ist, teilen beide die Faszination für Paralleluniversen, den Moralismus, über den dann im Zweifelsfall glücklicherweise doch der Stilwille und die Körper schöner Frauen die Oberhand behalten. Und für die katholische Zahl drei.