Indien 2012 · 134 min. · FSK: ab 0 Regie: Gauri Shinde Drehbuch: Gauri Shinde Kamera: Laxman Utekar Darsteller: Sridevi, Adil Hussain, Mehdi Nebbou, Priya Anand, Sujatha Kumar u.a. |
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Sridevi goes America |
Frau de Rênal hielt, was sie versprochen hatte. Sie unternahm nichts gegen ihr Leben. Aber drei Tage nach Juliens Tod starb sie in den Armen ihrer Kinder.
(Stendhal, Rot und Schwarz)
Das passiert nicht oft. Ein Film, den man im Grunde schon ungesehen als sehenswert einstufen kann, der jedem, der nur eine zarte Ahnung von Bollywood hat – und noch einmal: ungesehen! – die Tränen in die Augen treibt, ein Film, über den man nichts zu lesen braucht, keine Kritik, keine Filminfo, weil es einfach zu viel von allem ist.
Zu viel von allem heißt vor allem Sridevi. Die wohl größte Schauspielerin Indiens, die bereits seit ihrer Kindheit dreht, mit Tamil-Filmen angefangen hat, irgendwann im Hexenkessel Bollywoods gelandet ist, dort alle möglichen Scheiterhaufen umgangen hat – stattdessen von einem Superlativ zum nächsten geeilt ist. Allein der Gedanke an Kaate nahin kat te, den besten Regen- und Sarisong aller Zeiten (blau, nass, wahnsinnig) kann einem auch nach mehr als 20 Jahren die irrsten Schauder über den Rücken treiben [1]. Eine Erotik ohne Nacktheit, eine Erotik wie sie so perfektioniert nur in Stendhals Rot und Schwarz auftaucht [2]. Oder ein paar Jahre später Yash Chopras Lamhe, in dem Sridevi in einer im Hindi-Kino gerne inszenierten Doppelrolle neue Maßstäbe setzte und ihre schauspielerische Komplexität nicht nur durch die grandios ausgespielte Doppelrolle zeigte, sondern auch dem tabuösen Thema Inzest eine gravierende Bedeutung und gleichzeitig mit einer der schönsten Folkore-Tanzeinlagen (Morni Baga ma Bole) befreiende Leichtigkeit verlieh [3]. Das diese Schauspielerin sich 1997 zu einer Babypause verabschiedete war schon kaum zu glauben, dass sie 15 Jahre später wieder nach Bollywood zurückkehrt und mit Englisch für Anfänger ihr Comeback feierte, erst recht nicht. Erstmals gelang einer Schauspielerin in Indien ein derartiges Comeback. Trotz der starken Konkurrenz durch Aiyyaa, Bhoot Returns und Student of the year erreichte Englisch für Anfänger in Indien nicht nur Super Hit- und Golden Jubilee 50 Days-Status, sondern gilt auch außerhalb Indiens inzwischen als einer der erfolgreichsten Bollywood-Knaller aller Zeiten.
Umso erstaunlicher ist dieser Erfolg, als Gauri Shinde, die Regisseurin des Films, mit English/Vinglish (so der Originaltitel) nicht nur ihr Regie-Debüt gab, sondern auch eine Hommage an ihr eigene Mutter und das Dilemma zahlreicher Frauen der indischen Mittelklasse. Shinde erzählt in Interviews, wie sie sich heute noch dafür schämt, wie sie ihre Mutter mit ihrem Schulenglisch düpierte, Szenen, die sich in nichts von denen unterscheiden dürften, die Kiran Nagarkar in seinem großen Roman Ravan und Eddie entwarf, als er das verächtliche Nachsinnen von des Englischen fähigen Bewohnern eines Mietshauses über jene, die des Englischen nicht mächtig sind, bestürzend realistisch in Worte fasste. [4]
Shinde setzt diese Problematik vor allem im ersten Drittel des Film beklemmend um, indem sie sie auf eine typische, aufstrebende indische Mittelklassefamilie überträgt, die bei aller Moderne, Luxus und westlichen Einflüssen dann doch klare Grenzen bei bei den Geschlechterrollen einhält. Die Mutter, kongenial verkörpert durch Sridevi muss nicht nur, obwohl durch selbstständige Arbeit selbst unter Druck, für die Mahlzeiten sorgen, sondern sich außerdem verächtlich von ihren Kindern und ihrem Mann vorhalten lassen, dass sie ein Mensch zweiter Klasse ist, weil des Englischen nicht mächtig. Shashi beginnt ihre Rolle erst zu hinterfragen, als sie von ihrer älteren Schwester in Amerika gebeten wird, sie bei der Hochzeit ihrer Tochter zu unterstützen. Während des Fluges wird sie sich durch die unvertraute Umgebung einmal mehr ihrer Hilflosigkeit bewusst und durch einen grandiosen Gastauftritt des vielleicht größten Altstars des indischen Kinos – Amitabh Bachchan – ermutigt, neue Wege zu gehen.
Englisch für Anfänger verlässt an dieser Stelle nicht nur Indien, sondern das Genre Drama und vertraut im Folgenden auf die Stärken der romantischen Komödie. Und spielt auch diese geschickt und vor allem für westliche Betrachter völlig überraschend aus. Sie irritiert vor allem dadurch, dass sie die westliche Konditionierung in Sachen „wahrer Liebe“ und was eine romantische Komödie gemeinhin ist, buchstäblich auf den Kopf stellt.
Denn was Shashi mit ihren Erfahrungen einer Emanzipation auf (fast) allen Ebenen macht, ist alles andere als Hollywood. Es ist auch nicht ganz Bollywood, weil der Ausweg aus dieser komplexen Geschichte einfach zu simpel ist, um wahr zu sein. Und gleichzeitig im Sinne Stendhals erschütternd realistisch ist. So realistisch, dass es vor allem den westlichen Betrachter in einem seltsamen Zwiespalt zurücklassen dürfte: einen Film zu lieben und ihn gleichzeitig für seine Feigheit zu hassen. Und im nächsten Moment sich auch schon dafür zu schämen.
[1] http://www.youtube.com/watch?v=OL-hLhcO86Y
[2] Stendhal, Rot und Schwarz: Chronik aus dem 19. Jahrhundert
[3] http://www.youtube.com/watch?v=5K2RKBQ0phs
[4] Kiran
Nagarkar, Ravan und Eddie