Deutschland 2012 · 117 min. · FSK: ab 0 Regie: Dieter Reifarth Drehbuch: Dieter Reifarth Kamera: Rainer Komers, Kurt Weber u.a. Schnitt: Dieter Reifarth |
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Eine ergreifende und bittere Familiengeschichte |
Die Kamera fährt nach unten, am satten Grün des Baumes entlang. Wie ein sich öffnender Theatervorhang gibt er immer mehr den Blick frei – die Geschichte kann beginnen. Doch welche, und vor allem, wessen Geschichte wird es wohl werden, die der Dokumentarfilm Haus Tugendhat von Dieter Reifarth erzählt? Wird es um mehr gehen als um die oft beschriebene Einzigartigkeit und architektonische Perfektion dieses Hauses, das sich nächsten Moment in seiner ganzen Schönheit offenbart?
Natürlich geht es um mehr. Denn Reifarth zeigt die Villa Tugendhat, die 1930 von Ludwig Mies van der Rohe im Auftrag der Unternehmerfamilie Tugendhat im tschechischen Brünn erbaut wurde, nicht in erster Linie als weltberühmtes Baukunstwerk. Bei ihm ist sie vor allem ein Familienmitglied: Gewaltsam den Seinen entrissen, als Tugendhats 1938 vor den Nazis fliehen mussten. Vergewaltigt von denen, die im Krieg anschließend als Mieter eingeteilt wurden, die sich eine „gemütliche Bauernstube“ innerhalb seiner räumlichen Weite eingerichtet haben – die Grausamkeit erinnert an die Moschee von Córdoba, in der die Katholiken nach der spanischen Reconquista ihre Kathedrale implantierten. Im Sozialismus von der Öffentlichkeit verschiedenartig genutzt als Ballettschule, als Rehazentrum für skoliosekranke Kinder, schließlich als Schicksalsort, wo 1992 die Auflösung der Tschechoslowakei beschlossen wurde. Dabei, Stück für Stück, dem Verfall ausgesetzt, der mit der Sanierung von 2010 bis 2012 ein Ende nahm.
Erzählt wird die Biografie der Villa Tugendhat zum einen von Zeitzeugen und einer Fülle an Archivmaterial. Reifarth geht dabei chronologisch vor, bemerkenswert strukturiert und ohne sich zu verzetteln lässt er sich die Begegnungen mit diesem Haus aus Glas, Stahl, Edelhölzern und Marmor schildern, „das aus der Luft gehalten“ schien und den meisten Menschen ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit gab – eine unglaubliche Bestätigung des Selbstverständnisses von Mies van der Rohe, für den die Kunst dem Menschen dazu dienen sollte, die Wirklichkeit zu bewältigen.
Doch Haus Tugendhat ist kein filmisches Stationendrama mit vermeintlich glücklichem Ausgang. Vielmehr gelingt es Reifarth, eine ergreifende und bittere Familiengeschichte herauszuarbeiten, die bis heute andauert. Die Villa steht dabei zwar im Zentrum, und wie beim Held im Spielfilm bangt man um ihr Wohlergehen, sobald in die jeweils nächste Ära übergegangen wird. Doch dreht sich weiß Gott nicht alles allein um das Haus Tugendhat. Dafür behält der Filmemacher seine Haupterzähler zu sorgsam im Auge, die Kinder der Bauherren Fritz und Grete Tugendhat. Jeder für sich, erinnert seine Kindheit und Jugend, die, physisch und psychisch weit weg von diesem Haus, erst in die Schweiz, dann nach Venezuela und dann wieder in die Schweiz führte und entweder geprägt war von der permanenten „Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören“, wie es Tochter Ruth Guggenheim-Tugendhat beschreibt oder von einem gewissen Desinteresse an Integration, die ihr Bruder, der Philosoph Ernst Tugendhat, empfand. Wenn sie und ihre Schwester Daniela Hammer-Tugendhat auf Reifarths Fragen antworten, kann man jedem von ihnen zusehen beim Nachdenken über das Haus T., das sich in pointierten Sätzen und vielsagenden Pausen manifestiert.
Der Film zeigt ein tiefes Bewusstsein für die facettenreichen Gesichter, die die Eroberung eines Lebensraums im Laufe der Zeit haben kann. Geschaffen als Privathaus, war Haus Tugendhat ob seiner Perfektion und Prominenz von Anfang an Teil des öffentlichen Interesses. Doch selbst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ging das Haus nicht an die Nachkommen zurück, es fehlten die rechtlichen Grundlagen dazu, hieß es. Doch es sind nicht nur materielle Schieflagen und Problematiken, die auch die nächste Generation der Tugendhats umtreiben und ganz unterschiedliche Haltungen des Großelternhauses gegenüber evozieren: Inwieweit kann man einem Bestsellerautor wie Simon Mawer vorwerfen, sich für seinen Roman „The Glass Room“ bei der Geschichte von Haus und Familie Tugendhat ungefragt bedient und somit eine Art „zweiten Raub“ begangen zu haben? Ist das Haus, das 2001 in die Liste der UNESCO-Weltkulturerbedenkmäler aufgenommen wurde, ein passender Ort für die Werbung eines Möbelgiganten? Eine Öffentlichkeit wurde von den Eigentümern nie angestrebt, nie erwünscht – und doch zahlen sie dafür bis heute. Den bittersten Preis bringt Ivo Hammer auf den Punkt, Ehemann von Daniela Hammer-Tugenhat und als Restaurator treibende Kraft bei der Wiederherstellung der Villa: Die bedrückende Situation, »dass das Haus eingerichtet ist wie eine gut eingerichtete Puppenstube, aber die Menschen … sind nicht mehr da«. All diese Erkenntnisse und Erfahrungen dicht, dem Zuschauer aber dennoch klar in 112 Minuten nahezubringen, ist die großartige Leistung dieses Films.