USA 2011 · 126 min. · FSK: ab 6 Regie: Martin Scorsese Drehbuch: Josh Logan Kamera: Robert Richardson Darsteller: Asa Butterfield, Sacha Baron Cohen, Ben Kingsley, Jude Law, Chloë Moretz u.a. |
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Wer im Film lacht, lacht am Besten |
Der lange Faden des Vergessens spult sich ab und webt
Unausweichlich. Schreie, Weinen, und Wehklagen.
Ich weigere mich zu schlafen und spüre das Leben entgleiten
Wie ein großes, weißes, Schiff, ruhig und unerreichbar.
(In: Michelle Houllebecq, Suche nach Glück)
Es beginnt wie eine klassische Disney-Geschichte. Eine Kamerafahrt über das Paris der frühen 1930er, der Rauch aus Schornsteinen qualmt munter vor sich hin, am Horizont glitzert der Eiffelturm. Langsam taucht die Kamera in das surreale Uhrwerk eines Pariser Bahnhofs, um gleich darauf eine wilde Verfolgungsjagd zu begleiten. Das alles ist für Momente tatsächlich höchst irritierende Aristocats-Architektur – mehr noch, als die computeranimierte 3D-Realität wiederholt die realistischen Bezüge verliert. Aber mit dem ersten Dialog und den ersten asynchronen Erzählmustern wird dieser irre Spuk aus Pixar- und Disney-Abgründen erfolgreich vertrieben und von einer aufregenden, zärtlichen und immer wieder überraschend zu Tränen rührenden Narration abgelöst.
Der von John Logan für den Film adaptierte Kinderroman »Die Entdeckung des Hugo Cabret« von Brian Selznick ist in seiner innovativen Formenvielfalt – ein Grenzgang zwischen Comic und Roman – an sich schon ein Meilenstein. Doch wie sich Martin Scorsese des Drehbuchs von Logan annimmt, geht noch einmal weit darüber hinaus. Scorsese gelingt es neben liebevollsten Nebenschauplätzen vor allem zwei Geschichten kongenial miteinander zu verbinden. Die des Waisenjungen Hugo Cabret, der in einem Pariser Bahnhof die Uhrwerke versorgt und nicht nur den düsteren Gespenstern seiner unmittelbaren Gegenwart, sondern auch denen einer diffusen Vergangenheit ausgesetzt ist. Und die der Frühgeschichte des Films, vor allem eines seiner Pioniere, Georges Méliès. Dass Filmgeschichte derartig in eine handlungsbetonte Filmerzählung eingeflochten werden und noch so liebevoll, zärtlich, zum Heulen schön und aufregend daherkommen kann, ist verblüffend und vielleicht nur einem Regisseur wie Scorsese möglich, der seit Mean Streets und Taxi Driver, The Last Waltz, Raging Bull, After Hours, Good Fellas oder Die Zeit der Unschuld inzwischen fast jedes Filmgenre – und mag es stilistisch wie inhaltlich noch so weit auseinander liegen – mit einem Meisterwerk bedient hat.
Dass die schauspielerischen Leistungen ebenso dezent wie markant platziert sind, überrascht bei soviel Überraschendem dann kaum noch: Ben Kingsley als Georges Méliès vibriert in seiner Bitterkeit um verlorenes Glück und vergangenen Ruhm ebenso wie Asa Butterfield als junger Cabret, der genau dem Glück hinterherjagt, das Méliès unwiederbringlich für sich verloren glaubt. Und dann wären da natürlich – neben den bis in die kleinsten Nebenrollen brillierenden Gegenwartsdarstellern – noch die Helden einer anderen Zeit, die großen Pioniere, Schauspieler und Helden der Frühgeschichte des Films, die in den filmischen Zitaten Scorseses zu wunderbarem Leben erwachen und vor allem eins bewirken: unbedingt wiedergesehen werden zu wollen.
Aber nicht nur deshalb ist Scorseses Hugo Cabret weit mehr als nur ein Kinderfilm, sondern fast so etwas wie ein „Missing Link“. Denn für Kinder UND Erwachsene gleichermaßen erschließt sich eigentlich erst durch diese fulminante Auferstehung der Toten, dass diese Toten die eigentlichen Ahnen unserer Träume, ja unser aller kollektives Unterbewusstes sind und sie die wohl schönste Botschaft an sich bereithalten: Was das Leben uns nicht schenkt, gibt uns wenigstens der Film – ein Happy End.
Ein Junge, dem die ganze Welt zum Spielplatz wird. Ein Automat, der vielleicht eine Seele hat, und eine Botschaft aus der Vergangenheit überbringen kann. Ein Mädchen, das gerne Bücher verschlingt, und von wilden Abenteuern träumt. Ein alter Spielzeughändler, der ziemlich ruppig und garstig sein kann, der aber, man ahnt es, doch ein gutes Herz hat. Ein böser Polizist mit Hinkebein und ein gefährlicher Hund mit schlechtem Charakter. Und ein riesengroßer Bahnhof, der eine zauberhafte Welt für sich ist, ein Wunderland – dies sind die wesentlichen Bestandteile von Hugo Cabret, dem neuen Film von Martin Scorsese, der für diesen Regisseur von Werken wie Taxi Driver und Goodfellas so unerwartet ist, wie großartig. Denn was klingt, wie ein Kinderfilm, das ist auch einer, allerdings ein Kinderfilm für Erwachsene. Und man muss Hugo Cabret nur einmal mit Peter Jacksons Herr der Ringe-Bombastfilmen oder mit den Harry Potter-Filmen vergleichen, um den Abstand zu ermessen.
Dieser Film ist eine Fantasy-Geschichte, die eher als an Scorsese und das italoamerikanische Kino an ein Werk von Steven Spielberg erinnert und an Jean-Pierre Jeunets Die fabelhafte Welt der Amélie. Und es ist eine höchst vergnügliche Einführung in die Geschichte des Films, eine Hohelied auf das Kino (im Dunkeln, mit anderen Leuten, nicht auf DVD in Pantoffeln auf der Glotze), eine Liebeserklärung ans Bücherlesen und Filmegucken, an die Macht der Phantasie und an das sich-verlieren in märchenhafte Traumwelten. Schließlich gelingt diesem Film – und das ist womöglich seine größte Leistung – auch das, was Avatar nicht zustande brachte: Er deutet die Möglichkeiten von 3D zumindest an, ist aber keine selbstgefällige Technikshow, sondern stellt die Technik in den Dienst der Bilder, der Story, der Darsteller. Noch immer denkt man: Wozu der ganze blöde Aufwand, noch immer dominiert de Eindruck, dass 3D völlig unnötig ist, dass der Film auf 2D besser ist. Aber nicht zufällig wurde Hugo Cabret mit fünf Oscars ausgezeichnet: Scorsese gelingt über die Hommage an die Vergangenheit des Kinos ein Blick in die Zukunft des Filmemachens. Schon jetzt ist dieser Film ein Meilenstein der Kinogeschichte: Kinderfilm und Existenzphilosophie, Verspieltheit und Ernst, Feier der Moderne mit den Mitteln der Postmoderne – alles das ist der neue, überaus überraschende Film von Martin Scorsese: Hugo Cabret, eine Kinderbuchverfilmung, die vom frühen Kinos handelt, ist Fantasy vom Feinsten – Anti-Spielberg im Spielberg-Gewand, großes Kino.
Los geht es mit Dampf, die Züge werden von Dampfmaschinen angetrieben, denn man schreibt gerade das Jahr 1931. Es pafft und pufft aus allen Ecken, riesige Zahnräder mahlen wie Schicksalsmühlen, und ein Blick durch eine Uhr öffnet eine ganze Welt. In dieser dominiert Maschinenästhetik, sie ist ein Räderwerk, erfüllt von infernalischem Qualm und Lärm. Eine »Steampunk«-Phantasie letztendlich, die Funktionsweisen der Welt sind durchschaubar, statt Benutzeroberflächen gibt es Tüftlermöglichkeiten – und wie Daniel Düsentrieb fragt der kleine Held irgendwann »Can we fix it?« Die Überzeugung, dass alles reparierbar sei, dass alles gut ausgeht, bestimmt das Denken und Fühlen: »I'd imagine the whole world was one big machine. Machines never come with any extra parts, you know. They always come with the exact amount they need.« Zahnräder, Dampfmaschinen und Uhren – das Wort der Zeitmaschine erhält hier ganz neue Bedeutung und Phantasten wie H.G. Wells, H.P. Lovecraft und Jorge Luis Borges geben den Ton an. Das 20. Jahrhundert als vergangene Sehnsuchtswelt – das ist die Szenerie.
Worum geht es? Hugo Cabret (Asa Butterfield) ist zwölf Jahre alt. Er lebt in den Gewölben und Kammern, hinter den Mauern und über den Dächern des Pariser Bahnhof Gare Montparnasse. Der Eifelturm ist in Sichtweite. Im Bahnhof gibt es unzählige mechanische Uhren, die Hugo betreut. Ein Herr der Zeit, ein Herr über Zukunft und Vergangenheit: Er korrigiert sie, wenn nötig.
Hugo ist ein verlassenes Kind; er ist arm, aber vor allem sehr einsam, seit sein Vater tot ist, und zieht sich mehr und mehr in eine Traumwelt zurück. In dieser Traumwelt findet er Halt und Trost. Von Ordnung und Kontrolle und Mechanik ist er geradezu besessen, für Hugo ist der alte Traum der Moderne von den perfekt laufenden Maschinen etwas persönlich existentiell Wichtiges. Darum wird er im Bahnhof zum Wächter der Uhren, darum wird der Bahnhof für ihn zum Wunderland mit seinen tausend versteckten Gängen, seiner geheimen Welt hinter der sichtbaren, öffentlichen, zu einem Körper mit Eingeweiden, mit Gedärm und Gehirn und einem Herz. Darum repariert er für den rätselhaften Spielzeughändler Georges (Ben Kingsley), der sein Geschäft im Bahnhof hat, mechanische Mäuse und andere Spielzeuge. Eines Tages begegnet er dabei auch Isabelle (Chloë Grace Moretz), der kühnen Enkelin des Spielzeughändlers.
Isabelle liebt Bücher, oft besucht sie ein Antiquariat. Bücher sind Orte und Quellen der Abenteuer. »This might be an adventure, and I've never had one before – outside of books, at least«, sagt sie, und damit wird klar, was der Film auch erzählt: Initiation, Adoleszenz, eine unschuldige Liebesgeschichte von Kindern, hinter der sich andere Abenteuer bereits zart andeuten.
Hugo interessiert sich für beide, Enkelin und Großvater, möchte aber umgekehrt auch sein Geheimnis nicht preisgeben. Und als Isabelle und der Großvater sich umgekehrt für ihn interessieren, gerät alles in Gefahr, was Hugo so sorgsam hütet: Eine rätselhafte Zeichnung, ein liebevoll aufbewahrtes Notizbuch und jener mechanische Mann neben seinem Bett. Bevor Hugo eine Lösung finden kann, muss er auch noch gegen den bösen Bahnhofspolizisten (Sacha Baron Cohen) kämpfen, der nichts lieber tut, als Waisenkinder zu jagen. Und er muss das Rätsel von Georges lösen, der nicht weniger Geheimnisse vor seinen Mitmenschen hat, als er selber...
Eine Fülle von Einfällen bestimmen den Gang der Dinge: Der Automaton ist inspiriert durch den Jaquet-Droz-Automat, der bereits im 18.Jahrhundert gebaut wurde. Bezüge auf das französische Kino gibt es, etwa auf Jean Renoirs La grande llusion (1937) und Jean Vigos Zéro de conduite (1933). Doch vor allem ist Hugo Cabret eine atemberaubende Jules-Verneiade, voller Abenteuerlust und Phantasie, erfüllt von Sympathie für das Kino und die Kunst der Attraktion, des Jahrmarkts, parteinehmend für Méliès und seine Zaubertricks. Insofern geht es nicht um die Feier von Erkenntnissen wie »Die Zukunft liegt in den Augen der Kinder«? Was für ein Kitsch! Nein, darum geht es nicht, Scorsese ist nicht Spielberg. Scorsese ist Nostalgisch nur im Blick auf die Zukunft, für ihn ist der Historiker ein rückwärtsgewandter Prophet. Geschichtsbewusst geht es ihm darum, den Zuschauern von heute das Kino von Gestern zu vergegenwärtigen, weil, er dort die Zukunft findet.
In Hugo Cabret sieht man gegen Ende ein paar Ausschnitte aus alten Filmen von Georges Méliès. Einmal, gibt ihnen Scorsese sogar eine dreidimensionale Form – und scheint damit in Hugo Cabret geradezu seine ganz persönliche Geschichtsphilosophie des Kinos entwerfen zu wollen: Vom frühen Stummfilm zur Dreidimensionalität. Zugleich scheint er sich selbst noch einmal zu verjüngen, und mit knapp 70 Jahren den Zauber des Anfangs noch einmal zu beschwören: Nur die 3-D-Technik macht es möglich, noch einmal von vorn anzufangen, und – wie es Méliès tat -ein Medium von Null auf zu erfinden.
Zuvor aber zeigt Hugo Cabret Ausschnitte der Filme des Franzosen, so, wie sie wirklich aussehen – und in den Gesichtern der Betrachter im Film spiegelt sich das Entscheidende: Zauber, Faszination, Lust, Begehren, Traum und überbordende Fantasie. Man begreift da ganz unmittelbar: Méliès' Filme sind zweidimensional und gehören trotzdem bis heute zu den bezauberndsten und poetischsten Erfahrungen, die das Kino uns zu bieten hat. In diese Linie reiht sich auch Hugo Cabret mühelos ein.