Frankreich 1999 · 165 min. · FSK: ab 16 Regie: Luc Besson Drehbuch: Luc Besson, Andrew Birkin Kamera: Thierry Arbogast Darsteller: Milla Jovovich, John Malkovich, Faye Dunaway, Dustin Hoffmann u.a. |
Okay, okay, okay:
Sie hat nie von einem »unheimlichen Wind« oder einem »Gesicht in den Wolken« gesprochen, jedenfalls nicht so weit wir wissen. Sie hat ihr Schwert nicht zufällig auf der Wiese gefunden, sondern wußte genau, wo sie es zu suchen hatte: in der Kirche St. Catherine in Fierbois, wo sonst. Ihre Familie wurde nicht von den Engländern ausgerottet, sondern nur gelegentlich verscheucht, was man damals schon bald gleichmütig akzeptierte. Ihre Mutter überlebte sie, schlimm
genug, um zwanzig Jahre später in einer päpstlich gebilligten Revision ihre Tochter vom Stigma der Häresie zu befreien und deren »Verdienste für Frankreich zu würdigen«. Und ihre Motivation entsprang ganz sicher nicht profanem Rachedurst, sondern dem Bewußtsein des Auserwählten (Matrix lässt grüßen). Sie verließ ihre völlig intakte Welt aus freien Stücken, um ihre Mission
zu beginnen, für deren Erfüllung sie, wie sie bereits wußte, nur ein Jahr und ein wenig mehr hatte.
Aber: Luc Bessons The Messenger: The Story of Joan of Arc ist von der Art Filme, die einen unruhig machen, aktivieren. Er stellt alles auf den Kopf, was wir über »Die Jungfrau« so zu wissen glauben, und genau hierin liegt sein Geheimnis: Er kann einen Zuschauer zum Forscher machen. Gerade durch die heftigen Kontroversen um den Film erfuhr ich mehr über diese faszinierende Frau, als irgendein 7-Stunden-Prachtschinken geschweige denn der Geschichtsunterricht es je vermocht hatten.
Es entsteht ein sinnlich-mittelalterliches Kinogefühl: Ereignisse und Personen – allen voran die Protagonistin – werden ungefiltert auf den Zuschauer losgelassen. Einfach schauen und staunen, wie etwa bei der folgenden Szene: Nach Auffassung der Kirche konnte der Teufel nicht in Besitz einer Jungfrau gelangen. War der Sachverhalt der biologischen Unberührtheit bestätigt, so mussten Johannas Ausführungen zwangsläufig der Wahrheit entsprechen, also kam sie von Gott und kriegte ihre Armee (nach weiteren kurzen Befragungen, die nur sechs Wochen dauerten, versteht sich). Eine Art von Beweisführung, die das Mittelalter für uns Aufgeklärte in ungreifbare Entfernung rückt. Ein erfrischender Aspekt, fühlt man sich doch häufig zu vorschnellen Urteilen über vergangene Epochen bemüßigt.
Die Schlachtenszenen sind präzise bis hinunter zu den Waffen: Langbogen, Armbrust, rostige Rüstungen. Erstmals im Film ist ein Trebuchet in Aktion zu sehen, gefürchtetste Belagerungswaffe selbst lange nach Erfindung der Kanone und weitaus effizienter als ein herkömmliches Katapult. Andere Dinge wie zum Beispiel die »Schwerkraftkanone« der Engländer sind wiederum reine Phantasie. Na ja. Es verhält sich eben genau wie bei einer Literaturverfilmung: Über kleinere Ungenauigkeiten wird sich niemand aufregen, ist nur der Tenor korrekt. Viele behaupten indes, Besson habe dem Ansehen der Heiligen schon allein durch seine historischen Ungenauigkeiten geschadet. Finde ich nicht. Man hielt sich nur nicht sklavisch an die äußerlichen, cineastisch ohnehin sattsam »bekannten« Gegebenheiten des Mittelalters.
Es geht ja auch gar nicht um das Mittelalter. Es geht um Johanna von Orleans.
Denn wofür sie steht, das ist zeitlos gültig. Es ist sonst, wie wenn Moses nur für die Juden existierte. Sie ist Zentrum und Motor der Ereignisse, genau wie zu Lebzeiten. Müßte man sonst sagen, die Hauptdarstellerin stand viel zu weit im Vordergrund und die anderen wirkten wie Komparsen, so ergibt es sich hier einfach durch die tatsächlichen Ereignisse: Ja, genau so ist es ja auch gewesen! Ohne ihre Initiative hätte es keinen französischen König gegeben und die Lethargie hätte Frankreich verschwinden lassen. Nur sehr wenige der Aussprüche im Film sind nicht schriftlich als von ihr verbürgt: Wers nicht glaubt, der mag sich bei Lektüre der ins Englische übersetzten Prozeßmitschriften und der späteren Zeugenaussagen leicht selbst davon überzeugen. Viele hundert Schreibmaschinenseiten.
Und es lohnt sich besonders bei diesem Film, diese Texte zu kennen. Bei aller Verfremdung hat sich Besson nämlich getreulich an sie gehalten. Er rekonstruiert die ganze Jeanne allein mit Hilfe ihrer eigenen Äußerungen und dem, was andere über sie zu Protokoll gaben, denn wir haben keine verbürgte Abbildung von ihr. Darum ist es übrigens auch egal, ob Jovovich oder Miss Marple die Rolle spielt. Mehr Realismus kann man nicht verlangen. Auch wenn die Heiligenverehrer mit ihren »mentalen Bildern« genau das tun. Du sollst dir kein Bild machen.
Doch folgen Sie mir nun weiter, ich will Ihren Blick auf etwas Wichtigeres lenken als diese öde Erbsenzählerei.
Um die Passion der Jungfrau von Orleans in die Gegenwart zu holen, greift Besson auf eine metaphorische (Bild-)Sprache zurück, besonders bei der Umsetzung ihrer Visionen – wer bräche nicht in schallendes Gelächter aus, wenn plötzlich geflügelte Engel und goldgekrönte Heilige über die Leinwand schwebten, oder wenn psalmodierende Stimmen zu hören wären? So eröffnet er dem Betrachter in bildlos spiritueller, ja geradezu atheistischer Nüchternheit die Chance, die Jungfrau von Orleans, entbunden vom Spinngewebe jahrhundertealter Mythen und Legenden, ganz neu und vor allem ganz für sich persönlich zu entdecken: Was immer sie war, vor allem war sie ein Mensch. Unschuldig und ohne Wissen, stark, geradeheraus, unbedingt glaubwürdig, auch wenn nur die Wenigsten von uns ihre spirituellen Erfahrungen teilen. Es tut weh, jemanden zu beneiden, den man mag.
Besson lenkt daher zunächst auf den Verdacht hin, daß bei Jeanne d’Arc alles mit natürlichen Dingen zuginge: Wolken, Wind und wilde Wölfe. Keine Vision also. Keine göttliche Eingebung. Bis hin zu: Es gibt ihn gar nicht, diesen Gott, selbst wenn Du heimlich den Meßwein aussäufst. Dann aber lässt sich ihre Geschichte nur mit einer ernsthaften seelischen Erkrankung erklären, ebenso wie ihr Charisma – kein Widerspruch, es gibt genügend charismatische Zeitgenossen mit offensichtlichen Webfehlern. Daher auch die Szene mit dem Massaker am Anfang: Sie dient nur dazu, einen noch plausibleren Anschub zu konstruieren. Denn Rache ist eine Erklärung, die selbst ein nihilistisches Publikum, ein Publikum ohne irgendeinen Glauben außer demjenigen an die rohe Materie, akzeptieren kann: Jehannes »Stimmen« und »Visionen« resultieren aus einer Persönlichkeitsspaltung, einer Schizophrenie. Nichts als Wind und heiße Luft anstatt der heiligen Katharina und des Erzengels Michael. Höchste Zeit für die Nervenklinik.
Und genau an dieser Stelle holt Besson das Publikum ab.
Bei aller Verfremdung tastet er den Lebensweg der Jehanne Darc nämlich nicht an. Um zu zeigen, daß es so einfach nun mal nicht gewesen sein kann: Egal woran du glaubst, es steckt eine Fügung in diesem Leben, das nicht mal zwanzig Jahre währte. Eine Kindheit in Geborgenheit und Einfalt. Von ihrem 13. Lebensjahr an wird sie von Visionen drangsaliert, bis sie mit 17 endlich nachgibt und innerhalb von nur dreieinhalb Monaten all die Dinge vollbringt, für die wir sie noch ein halbes Jahrtausend später verehren. Noch ihren hochgelehrten Richtern bietet das Bauernmädchen mutig und auf geradezu geniale Weise die Stirn, obwohl sie ahnt, daß das vergebens ist – ein dramatischer Tod bildet den Schlußstein eines mehr als dramatischen Lebens.
Für Besson vielleicht das Wichtigste an Jeanne: Sie lebt nicht aus dem Kopf wie wir, mit unseren ewigen Zweifeln und Rückversicherungen (lat. religio); sie lebt allein aus ihrem Herzen. Sie glaubt, was sie sieht und hört, und sie handelt danach.
Spiritualität ist eine Sache vollkommener innerer Freiheit. Und das macht uns Besson mit seinem Film klar, gerade indem er es uns nicht in Form von Heiligenbildern aufzwingt.
Er hat für uns erst die Möglichkeit geschaffen, daß Jeanne d’Arc vielleicht tatsächlich von Gott gesandt wurde. Es ist nicht wichtig, woran du glaubst, solange du das Göttliche in dir annimmst, es wahr machst, es realisierst. Kirche und Pfarrer, das ist doch nur altes, verstaubtes Zeug!
Genau wie das, wofür sie stehen, hmm?
Was du nicht siehst, des Name ist: subtil
(Laotse, Das Buch vom Sinn und Leben)
Unter dieser Überschrift kann man gar manche Szene des Films verbuchen. – Wie bitte, Besson und subtil? Bitte sich nicht zu verschlucken, einige Beispiele.
Während der Krönungszeremonie in Reims regnen Blütenblätter von Lilien (die französische Lilie, fleur-de-lis) aus dem Kirchengewölbe. Sie sind offenbar nur für Jeanne zu sehen, eine Vision, die ihr ganz eindeutig sagen will: »Jetzt ist es gut, Du hast alles vollbracht, Deine Aufgabe ist erfüllt. Gehe in Frieden.« Denn längst schon hat sie die Weichen für Frankreich gestellt. Doch genau das erkennt sie nicht. Im Häretikerprozeß von 1431 sagt sie aus, daß ihr Auftrag mit der Krönung Charles VII. endete. Daß sie die Feldzüge danach, also Paris, Saint-Denis, Compiègne, ohne den Auftrag ihrer Stimmen und nur auf Wunsch der jeweiligen Stadtväter und Kirchenältesten hin unternommen hatte. Dann wurde sie gefangen genommen.
Besson stellt ihren Ungehorsam – die menschliche Einmischung in den göttlichen Plan – dem Jammerbild gegenüber, das sie mit ihrer kleinen Horde vor den Mauern von Paris abgibt: Dauerregen, keine Ausstrahlung, keine Männer, nicht die Spur einer Chance, Resignation bis hin zu Schmerzunempfindlichkeit und Paralyse. Die andere Jeanne. Die, die sich nun nicht mehr in Gottes Gnade weiß.
Und vielleicht kann man so auch die Therapie verstehen, die Das Gewissen in Form von Dustin Hofmann ihr am Ende angedeihen lässt: Vor der Absolution steht die Beichte, vor der Beichte die Einsicht. Vor der Einsicht die Bescheidenheit. Und die Bescheidenheit kommt erst mit deiner Liebe zu dir selbst.
Bist Du nun bereit? – Ja, ich bin bereit. Und ein starker Abgang.
Johannas Glaube an Gottes persönlichen Auftrag ist das Mosaiksteinchen im Kopf des Zuschauers, mit dem er jede dieser Szenen erst vollenden kann, und ohne das sie keinen rechten Sinn ergeben. Indem Besson auf solch feinfühlige Art Bezug auf Johanna und ihre Visionen nimmt, überläßt er es also uns, der Cinemaxx-Kamarilla, den Film zu vollenden, die blutvolle Legende der Jungfrau von Orleans als mögliche – und insgeheim vielleicht sogar erwünschte Alternative zum Prädikat: besonders schizophren neu erstehen zu lassen. Wir haben die Wahl, und das wird durch den Originaltitel deutlich: Lieber The Messenger, die Botin Gottes? Oder doch nur The Story of Joan of Arc, ein fetziges Actionhistörchen? Eine Einbeziehung des Betrachters, die sich in solch philosophischer Tiefe keiner der anderen vierzig Filme zum Thema anrechnen kann.
Das amerikanische Publikum mochte den Film nicht. Sogar Kollegen wie der Regisseur Ronald F. Maxwell ziehen über Besson her. Offenbar kann man die ambivalente, chamäleonartige und unamerikanische Jovovich sowieso nicht ausstehen: »she of the tremulous lower lip and halting speech«. Ein Model als Schauspielerin, noch dazu mit dem Regisseur verheiratet? Die kann überhaupt nicht gut sein!
Doch womit man die größten Schwierigkeiten hatte, war die Demontage der Heiligen – eine vom Papst abgesegnete Person als seelisch traumatisiert und verkapselt hinzustellen! Von blasphemy ist in den Kritiken gar die Rede: Das passt zum religiös-verbohrten Eiferertum besonders der Südstaaten, siehe Carl Sagans Roman »Contact«: Was bricht Dr. Arroway bei der Bewerbung um »die Reise« das Genick? Ihre Weigerung, sich zum Götzen God zu bekennen. Aus der Reaktion des Publikums lässt sich mehr über das Mittelalter lernen als aus dem Film selbst.
Was ich sonst noch schön finde an diesem Film, ist abgesehen von (schon gut, ich gestehe!) Milla Jovovich und den schmerzvollen, von Musikmagier Eric Serra vorgetragenen Attacken, dass Besson sich der Mechanismen der Mythenbildung offenbar sehr wohl bewusst war. Vielleicht sagte er sich so: »Was wir heute über Jeanne d’Arc zu wissen glauben, hat fast 600 Jahre der Diffamierung, der Erzählung, der mündlichen Überlieferung, der Ausschmückung und der Heldenverehrung durchlaufen. Doch wie wird diese Frau in Wirklichkeit gewesen sein?« So hat er sie zurückgebildet, sie kondensiert, sie durch die Zeiten vom Heute bis zum Urknall 1429 zurückverfolgt, um in der heiligen Jungfrau den menschlichen Kern zu finden. Eine schillernde Schlampe. Milla Jovovich. Das Wunder passiert allein in dir.
Sympathisch ist auch, dass The Messenger auf althergebrachte Art und Weise entstand: Die modisch-moderne Computergrafik verschlang ausnahmsweise einmal nicht den Löwenanteil des Budgets und ersetzte auch nicht den braven Komparsen in der Rüstung: Tausende, zum Teil knitterfreie Kostüme wurden für die Massenszenen angefertigt. Betrachtet man den Hofstaat des Dauphins, fühlt man sich bisweilen an den grandiosen, rauschhaften Opernauftritt in Das fünfte Element erinnert. Das gilt auch für die Atmosphäre der Innenräume: Oft genug wähnt man sich vor Ort und riecht die Fackeln, so dicht ist sie. Ganz zu schweigen von den saftigen Bildern, mit denen Besson die Glaubensfreude eines Kindes bebildert.
Die Strapazen sollen ebenfalls mittelalterliches Maß angenommen haben: Es gab, so hört man, mit all dem bewegten Blech eine Menge Verletzungen, und bei den Dreharbeiten setzte es immer wieder Frost und Regen. Ideale Voraussetzungen für grimmige Kriegsszenen.
Der korrupte Bischof Pierre Cauchon hingegen kommt bei Weitem zu gut weg. Mit Hilfe eines massiven Tribunals von über vierzig von den Engländern eingeschüchterten Kirchenmännern, der englandhörigen Universität von Paris, »...den schwierigsten, subtilsten und listigsten Fragen, die nicht einmal die anwesenden Kanoniker hätten beantworten können...« und eines infamen Betruges als letzter Rettung spielte er die illiterate Jeanne dem von den Engländern bestellten und bezahlten Todesurteil in die Hände: Die Zeugenaussagen (ff.) lassen hieran keinen Zweifel. Er setzte selbst nach ihrer Hinrichtung alles daran, ihren Ruf und Mythos durch gefälschte Akten zu zerstören. Ihm ging es, auch er ein moderner Mensch, um Macht und Geld.
Und Milla Jovovich? Offenbar hat ihr das viele Schreien und Kreischen in dieser Rolle die Tür zu den eigenen Ängsten geöffnet. Konfrontationstherapie. Das genaue Gegenstück zur zarten, wortkargen Leeloo. Gleich nach dem Dreh reichte das Seelchen die Scheidung von Übervater Besson ein, was ihr das Schicksal so mancher Kollegin ersparen wird – man darf also auf künftige Erscheinungen gespannt sein.