Frankreich 1999 · 105 min. Regie: Marie Vermillard Drehbuch: Jacques Bablon, Marie Vermillard Kamera: Pascal Lagriffoul Darsteller: Alexia Monduit, Geneviève Tenne, Simon Abkarian, Zinedine Soualem u.a. |
Vielleicht sollte man eine neue Richtung des französischen Films bestimmen: Junger Realismus oder vielleicht sogar – undenkbar – Sozialer Realismus.
Zu Lila Lili gehört in jedem Fall Petits Frères von Jacques Doillon, die Geschichte über den Kampfhund, der vom Schoßhund zur bösartigen Bestie gedrillt wird, bis er im Kampf unterliegt und stirbt, und das
Mädchen, das ihn sucht.
Lila Lili ist ein ganz und gar unattraktiver Film: Thema ist ein Frauenhaus, in dem Mädchen / Frauen wohnen, die schwanger sind und Kinder haben (von unbekannten Vätern), am unteren sozialen Rand der Gesellschaft.
Der Film erzählt nicht viel, oder er erzählt vielmehr sehr viel, ganz nach Art des realistischen Dokumentarfilms, der die Kamera auf die Wirklichkeit hält, ohne zu kommentieren, ohne zu erklären.
Wir sehen Micheline in verschiedenen
Situationen ihres alltäglichen Lebens (Araber-Laden, bei dem sie Simon kennenlernt, der mit ihrer Freundin Bedège etwas anfangen wird, weshalb sie fast aus dem Wohnheim fliegt), die Besuche ihrer Oma im Krankenhaus, die Pflege der Pflanzen in Omas Haus, der Besuch beim Frauenarzt (eine Sozialstation, die man kennen muß um zu wissen, daß dort die Frauen wie Schlachtvieh in Wartekabinen gehalten werden, um sich anschließend nur im Schlüpfer beim Arzt zu präsentieren).
Und schließlich: der großartige Schluß auf einem Autobahnkreuz, Micheline ist kurz vor der Niederkunft, ein Unbekannter leistet ihr Beistand, sie hat Wehen und schreit die Schmerzen, die sie nicht mehr aushalten kann, aus sich heraus, sie schreit die möglichen Namen für ihr Kind heraus und schließlich: LILAA!! LILII!! Dann Kameraschwenk auf die Autobahn – Autos, kein Krankenwagen kommt, erschreckend lang – das Bild steht schon und dann endlich, aus dem Off, die Sirene und – Abspann. Einfach großartig in den Rhythmus gebracht, jede Bildsekunde sitzt, ein Moment von Kinoglück.
Was der Geburt jedoch entgegengehalten wird, oder vielmehr, was die Geburt begründet, ist das Thema des Todes: die Oma, die todkrank ist, deren Leben sich aber fortsetzt in der unermüdlichen Pflege der Blumen, und im Entschluß von Micheline, das Kind haben zu wollen (sie will nicht die letzte ihrer Familie sein): die Frau als Gewährleisterin von Lebenskontinuität, daher auch ein ganz optimistischer Film.
Der Tod ist nie nur erschreckend, sondern immer auch von
atemberaubender Schönheit, und taucht immer dann auf, wenn das Leben gerade am lebenslustigsten ist. Wie bei dem Picknick, als ein leeres Ausflugsschiff wie ein gläserner Sarg vorbeifährt, das Requiem von Mozart allein schafft es, dem entrückten Bild Todessymbolik zu geben. Und als die Ausflügler sich von ihrem Picknick erheben und der gläserne Sarg die Leinwand durchfährt, da ist klar, daß hier die große Metapher ins Bild gerückt wird, von der Gesellschaft, die dem Tod geweiht ist,
daß jedoch dieser Tod zum Leben gehört und schaurig-schön ist.
Sozialer Realismus oder Junger Realismus: Dogma-Elemente, die weniger erzählende als dokumentierende Kamera, oft Handkamera, vor allem aber häufig Detail-Einstellungen: Das Auge wird ganz dicht an die Wirklichkeit gehalten, bis sich die Zusammenhänge verlieren und nur noch Emotion bleibt. Deshalb Junger Realismus, denn es geht weder um eine Sozialstudie noch um die über sich selbst lachende Analyse von sozialer Misere, wie oft im englischen Film, es gilt, die Schönheit und das Glück der Einfachheit, des einfachen Lebens zu zeigen, die Leichtigkeit einzufangen, wenn das Leben noch vor einem liegt, auch wenn es einem schon ganz schön zugesetzt hat.
Und: Kommunikation kommt ganz allmählich zustande, und wenn Micheline beim Picknick das erste Mal lächelt, dann geht dem Zuschauer das Herz auf. Wunderbar auch die Szene von Micheline, der U-Bahn-Überwacherin: die Ansagen, die sie macht, wie sie über Bildschirm und Lautsprecher die Leute zusammenführt, das ist Nähe, die aus der Entfernung heraus entsteht. Und auch das ist das Hoffnungsvolle des Films.