Das Meer in mir

Mar adentro

Spanien/F/I 2004 · 126 min. · FSK: ab 12
Regie: Alejandro Amenábar
Drehbuch: ,
Kamera: Javier Aguirresarobe
Darsteller: Javier Bardem, Belén Rueda, Lola Dueñas, Mabel Rivera u.a.
Ramon Sampedro im Krankenbett mit Zeiger im Mund
Lektionen des Lebens: Javier Bardem als Ramon Sampedro
(Foto: Tobis)

Zeit zu leben, Zeit zu sterben

Sterben lernen – im über­tra­genen Sinn steht dies im Mittel­punkt sehr vieler Filme der letzten Jahre. Auch die Gladia­toren, Terro­ris­ten­jäger und Frei­heits­kämpfer, die die Block­buster in den Multi­plexen bevölkern, sind todes­ver­ach­tend, ähnlich zele­briert auch eine Sophie Scholl auf ihrem letzten Gang oder der Priester, der in Schlön­dorffs Der neunte Tag lieber ins KZ zurück­kehrt, bevor er zum Kolla­bo­ra­teur wird, die Kunst des Selbstop­fers um eines Prinzips willen. Je weniger der Satz, dass es süß sei, für ein Gemein­wesen oder ein über­ge­ord­netes mora­li­sches Ziel zu sterben, in der Praxis der modernen Gesell­schaft zustim­mungs­fähig ist, um so begeis­terter, so scheint es, feiert ihn das Kino. Sogar Der Untergang ist – auf perverse Weise – ein Film über die Kunst des und die Faszi­na­tion für das Sterben.
Auch das Thema Ster­be­hilfe ist nicht nur im Gegen­warts­kino gewis­ser­maßen »in« – kein Wunder in Zeiten, in denen es immer leichter ist, selbst Schwerst­kranke mit allerlei tech­ni­schen Hilfen Jahr­zehnte am Leben zu erhalten, in denen auch die Lobby­isten des »Lebens­schutzes« um jeden Preis – auch gegen den Willen der Betrof­fenen – sich immer lauter zu Wort melden, während ande­rer­seits manche Länder mit liberaler Gesetz­ge­bung Ster­be­hilfe unter bestimmten Bedin­gungen gestatten. Erst gerade gab es im Vorfeld der Oscar­ver­lei­hung heftige Debatten um den mehrfach nomi­nierten und schließ­lich in den Haupt­ka­te­go­rien sieg­rei­chen Kandi­daten, Clint Eastwoods Million Dollar Baby, der das Thema eher unauf­dring­lich und am Rande behandelt.
Auch um Mar adentro, den Film des Spaniers Alejandro Amenábar, in dem die Frage der Ster­be­hilfe in all ihren Facetten im Zentrum steht, gab es heftige Debatten. Schon als der Film beim letzt­jäh­rigen Festival von Venedig mit zwei Preisen – »Großer Preis der Jury« und »Bester Darsteller« – ausge­zeichnet wurde, meldeten sich die entspre­chenden Lobbys vom Vatikan bis »Deutsche Hospiz Stiftung« mit erwart­baren, wenn auch zum Teil hyste­ri­schen State­ments (»Propa­ganda für Eutha­nasie«) zu Wort. Das wieder­holte sich, als vor einem Monat ein Regen vom »Goyas« (dem wich­tigsten spani­schen Filmpreis) über den Film nieder­ging, und jetzt, als er mit dem Ausland­soscar prämiert wurde.

Wer Mar adentro sieht, versteht die ganze Aufregung nicht wirklich. Erzählt wird – beruhend auf wahren Bege­ben­heiten, die 1998 in Spanien bereits einmal eine emotional aufge­la­dene Diskus­sion ausgelöst hatten – das Drama des seit einem Bade­un­fall vom Hals abwärts gelähmten Ramon Sampedro. Javier Bardem, bekannt eher als ruppiger, körper­be­tonter Darsteller (Los lunes al sol, Colla­teral), ist ebenso erstaun­lich wie mitunter einfach wunderbar in dieser Rolle, die ihn fast ganz auf das Spiel seiner Augen, seines Gesichts und seiner Stimme beschränkt, und der er über­ra­schende Fein­heiten abgewinnt.

Ganz zu Beginn fürchtet man zunächst das Schlimmste: Wieder einmal erlebt man die platte und im Kino schon häufig ausge­brei­tete Geschichte vom Behin­derten als dem moralisch porentief reinen und gerade wegen seiner Behin­de­rung irgendwie weit­bli­cken­deren, besseren Menschen. Gemessen an seinem Schicksal, vom Kopf ab gelähmt, seit 30 Jahren im Bett zu liegen und an seinen Zukunfts­plänen – er kämpft um die Erlaubnis, sterben zu dürfen, benötigt dafür aber fremde Hilfe – ist Ramon manchmal schon verdammt gut gelaunt. Er schreibt Gedichte, die sogar veröf­fent­licht werden und schöne Frauen stehen an seinem Bett Schlange. Ganz schön kitschig ist das alles und auch ziemlich unglaub­würdig; womit die Leute eigent­lich ihr Geld verdienen, ist eher unklar, und der hübschen Anwältin hat das Drehbuch auch noch eine eigene unheil­bare Krankheit ange­dichtet.
Doch um die Geschichte Ramons herum, entfaltet der Film nuan­cen­reich und sensibel einen fein zise­lierten Mikro­kosmos aus Familie und Freunden. So wird deutlich, dass der Wunsch zu sterben auch andere Menschen tangiert, und dass derartige Entschei­dungen nie leicht oder gar leicht­fertig getroffen werden.

Technisch ist der Film exzellent. Amenábar, durch Filme wie Abre los ojos und The Others bisher eher bekannt für Lust an filmi­schen Wagnissen, ein Interesse an tran­szen­denten Stoffen und seinem Faible für Themen und Bild­sprache der Schwarzen Romantik, bleibt diesmal etwas glatt. Weit davon entfernt, das Kino neu zu erfinden, gestattet sich der Regisseur nur in einigen raren Sequenzen visuelle Expe­ri­mente. Wenn Ramon im Traum über die Berge zum geliebten Meer fliegt, ist das freilich um so über­wäl­ti­gender, nachdem man vorher mit ihm in die Schlaf­kammer gezwängt war, wo sich sein Leben abspielt. Der Zuschauer wird dort Zeuge langer Debatten über Für und Wider von Ramons Todes­wunsch. Bruder und Vater können ihn nicht verstehen: »Es gibt nur eines, was schlimmer ist, als der Tod eines Sohnes. Das ist, dass er sterben will.« sagt der Vater. Zu einem Höhepunkt wird ein Gespräch Ramons mit einem gleich­falls gelähmten katho­li­schen Priester. Der will Ramon besser verstehen, als dieser sich selbst und erklärt dessen Todes­wunsch damit, dass dessen familiäre Pflege wohl unzu­rei­chend sei. Kühl gibt Ramons Schwä­gerin die treffende Antwort: »Sie haben eine ziemlich große Klappe.«
Am Ende dieses aufwüh­lenden Ideen-Dramas liegt es somit nicht an Amenábars Gespür für jeden filmi­schen Mani­pu­la­tions-Trick, als an dem Raum, den er emotional, aber ohne je zu mora­li­sieren, der rück­sichts­vollen Darstel­lung der verschie­denen Argumente gibt, dass der Zuschauer versteht, worum es hier eigent­lich geht: Nicht um Prin­zi­pien, das Ja oder Nein zur Eutha­nasie und nicht um die offenen oder die heim­li­chen Ansprüche der Mitmen­schen, sondern um das Recht des Einzelnen, in exis­ten­ti­ellen Fragen selbst zu entscheiden, und um die Furcht vieler Menschen vor dieser Freiheit. »Wer redet über die Quer­schnitts­gelähmten? Ich rede von mir.« sagt Ramon, und ihn als Mensch ernst zu nehmen, heißt auch, seine Behin­de­rung nicht zu bana­li­sieren, sondern ihm das Recht zuzu­ge­stehen, mit ihr nicht zurecht kommen zu wollen. Mar adentro ist ein Film, der nicht für Ster­be­hilfe, sondern für die Freiheit Partei nimmt – weil sich erst in ihr der Reichtum des Lebens zeigt.