Sowjetunion 1926 · 84 + 86 + 70 min. Regie: Fyodor Otsep, Boris Barnet Drehbuch: Boris Barnet, Fyodor Otsep, Viktor Shklowski Kamera: Yevgeni Alekseyev Darsteller: Boris Barnet, Vladimir Fogel, Natalya Glan, Igor Ilyinsky u.a. |
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Revolutionärin in weißer Bluse: Miss Mend |
Miss Mend in der Regie von Boris Barnet ist ein meisterlicher Film, der am 29. Januar 2009 im Filmmuseum München in der Reihe Sowjetische Stummfilme zu sehen war. Diese Reihe wird vom 11. März bis 10. Juni im Filmmuseum München fortgesetzt; am 25. März ist dort die Komödie Dewutschka s korobkoi/Das Mädchen mit der Hutschachtel desselben Regisseurs zu sehen.
Eine Frau, die eine Revolution lostreten will, sollte stilsicher gekleidet sein. Schließlich muss sie mit allem rechnen, auf alles vorbereitet sein. Wie in dem sowjetischen Stummfilm Miss Mend. Dort trägt besagte Miss Mend (Natalja Glan), Sekretärin in der Korkenfirma Storn, in der Anfangsszene im Büro eine weiße Bluse zum schwarzen Rock; die gelockten Haare sind im Stil Louise Brooks kurz geschnitten. Derart modern gekleidet stürzt sie sich in die Abenteuer der Revolution. Als eine Demonstration vor der Fabrik stattfindet und die Situation zu eskalieren droht, springt Miss Mend vom Sims ihres Bürozimmers direkt ins Getümmel und bietet den bewaffneten Polizisten erhobenen Hauptes Paroli. Beim Schusswechsel, der alsbald fällt, flüchtet sie im robusten, aber eleganten Schuhwerk in die Seitengasse, bremst energisch einen Wagen auf offener Straße aus und braust den Gesetzeshütern davon. Erst in ihrer dürftig eingerichteten Arbeiterwohnung kommt sie dazu, einen Blick in den Spiegel zu werfen; dezent rückt sie ihre Bluse und die zerzausten Haare wieder zurecht. Anschließend bringt sie ihren Neffen John ins Bett.
So viel politischem Aktionismus gepaart mit weiblichem Charme kann man sich nur schwer entziehen. Die Reporter Wladimir Vogel, Boris Barnet und Tom Hopkins (Igor Iljinski), die in der Fabrik auf der Suche nach einem Sensationsbericht sind, erliegen jedenfalls Miss Mends Charme sofort. Auch Arthur Storn (Iwan Kowai-Samborski), dem die Revolutionärin praktisch in die Arme fliegt, ergeht es nicht anders. In seinem Wagen bringt er Miss Mend bis zur Haustür und lässt es sich nicht nehmen, sie noch in ihre Wohnung zu begleiten. Dort stellt er sich, er ist der Sohn des Fabrikbesitzers Gordon Storn, galant als Ingenieur Johnson vor. Doch damit der Aufregungen nicht genug. Ein Dampfer hält in der Nacht bei hohem Wellengang Kurs auf den heimischen Hafen. An Bord ein Sarg mit der Leiche Gordon Storns. Der Totgeglaubte jedoch erwacht wieder zu Leben. Düster blickt dessen Berater Tschitsche (Sergei Komarow) über das Meer. Er will Gordon zwingen, endlich sein Erbe der 'Organisation' zu vermachen. Diese plant, einen Pesterreger über die Sowjetunion zu verstreuen und die »schädliche Nation« zu vernichten. Mit der Ankunft des Schiffes geht auch sogleich die Nachricht über den Äther, die Bolschewiken hätten den Industriellen Gordon Storn ermordet. Mitten hinein in dieses Chaos, in diese Intrigie von Weltrang schlingert Miss Mend, deren Name in der Romanvorlage von Marietta Schaginjan »Mess Mend« lautet, ein Pseudonym, das damals für den Untergrund und die Arbeit für die Revolution stand.
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In dem 1926 gedrehten Dreiteiler Miss Mend geht es drunter und drüber. Immer wieder nimmt die Geschichte bizarre Wendungen, verwegen wird das Genre gewechselt. Von der Romanze zu Nosferatu, vom Actionfilm zur politischen Parabel, vom Slapstick zum Agentenfilm. Oder umgekehrt. Als das Regieduo Fjodor Ozep und Boris Barnet den 240-Minüter im Studio Meschrabpom dreht, herrscht Aufbruchstimmung im sowjetischen Kino. Kühn bedient man sich der filmischen Mittel (mit dem amerikanischen und europäischen Kino sind die Filmemacher und ihr Publikum gleichermaßen vertraut), um den sowjetischen Bürger im Sinne des Kommunismus zu erziehen und einen neuen, den modernen Menschen zu schaffen; in dieser Zeit entstehen zunächst diverse Agitfilme, später Stummfilmwerke wie Filmauge, Panzerkreuzer Potemkin oder Die roten Teufelchen.
Miss Mend, als Hommage und Persiflage auf Hollywoodfilme flott inszeniert, umweht ein ungezwungener Geist. Von einer Sekunde auf die andere schlägt die Geschichte des Abenteuerfilms einfallsreich Haken, Trickaufnahmen und Überraschungseffekte werden gekonnt eingesetzt – ohne dabei die Sache der Revolution aus den Augen zu verlieren. Dafür ziehen die jungen Regisseure hinter den Filmkulissen aber auch an allen Strippen. Wie in der Szene, wo Tschitsche entdeckt, dass Arthur Storn wegen »einer dummen Liebesgeschichte« die Organisation gefährden könnte.
Wir sehen Arthur in seiner Residenz leger in einem überdimensional großen Art-Deco Sessel sitzen (1. Teil: Ein Brief von einem Toten). Auf der Sitzbank hat er genügend Platz, um die Beine auszustrecken. Energisch telefoniert Arthur mit einem Kommissar und sagt: »Machen Sie sich keine Sorgen um die Kosten.« (Miss Mend hatte ihren Freund um Hilfe gebeten, da der kleine John entführt wurde. Was Arthur allerdings nicht weiß, ist, dass die 'Organisation' hinter der Entführung steht.) Plötzlich betritt Tschitsche den Saal und schleicht sich von hinten heran. Arthur legt den Hörer gerade auf die Gabel, da steht der Widersacher unmittelbar vor ihm. Unangenehm berührt zieht sich Arthur in den Sessel zurück, trommelt nervös mit den Fingern auf einem Bein. Von einer Sekunde auf die andere scheint er geschrumpft zu sein. Vom Sohn des mächtigen Mogul, vom Ingenieur, Beschützer und Chameur zum kleinen Jungen. Von dieser Wandlung völlig unbeeindruckt, hastet die Actiongeschichte sogleich weiter und schlägt desweiteren unterhaltsam Kapriolen. Aber mit dieser Szene hat der Flirt mit dem Kapitalismus ein Ende; und Arthur Storn wird in den nächsten zwei Folgen (Der teuflische Doppelgänger und Tödliche Strahlen) unweigerlich sein wahres Gesicht zeigen.
Doch bis dahin wird Miss Mend mit ihren Freunden, den drei Reportern, noch einige Abenteuer durchstehen. Sie werden von den dunklen Plänen der 'Organisation' erfahren und per Dampfer nach Leningrad überschiffen, um das Attentat auf das russische Volk zu verhindern. Stilbewusst trägt Miss Mend auf der Überfahrt einen gestreiften Rock mit ebenso gestreifter Bluse und kurzer Krawatte; oder sie gibt im cremefarbenen Mantel mit Hut ein Interview. Denn auch das gehört zur Revolution, die passende Kleidung. Ebenso wie ein kämpferisches Herz, ein aufrechter Gang. Je weiter Miss Mend schließlich in den Strudel hineingezogen wird, umso klarer wird, dass Storn nicht »ein einfacher und sympathischer Mensch« ist, wie sie ihn in ihrer Wohung kennengelernt hat. Dass er nicht mit ihr und ihren Freunden an einem Strang zieht. So werden denn gegen Ende, nach einem oscarverdächtigen Showdown, die Verhältnisse wieder zurecht gerückt. Die Schurken erfahren ihre gerechte Strafe, Miss Mend landet – nach kurzer Überlegung – in den Armen des Reporters Barnets. Dieser hatte sich zur Rettung der Bolschewiken ordentlich ins Zeug geschmissen.
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»Es handelt sich um einen frühen, noch unvollkommenen Film. Dennoch stellt er ein interessantes Experiment in der Entwicklung des Abenteuer-Genres dar«, urteilte damals die sowjetische Filmkommision über Miss Mend. Der Dreiteiler wurde von Enthusiasten für Enthusiasten gedreht – und das macht seinen Charme aus.