Großbritannien 2018 · 108 min. · FSK: ab 12 Regie: Richard Billingham Drehbuch: Richard Billingham Kamera: Daniel Landin S: Tracy Granger Darsteller: Ella Smith, Justin Salinger, Patrick Rome, Deirdre Kelly, Tony Way u.a. |
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Schonungsloser British-Shock-Realismus |
Richard Billingham, Turner-Preis-nominierter Fotograf der »British Shock«-Bewegung, wurde mit dokumentarischen Fotografien seiner Eltern bekannt. Jetzt hat er ihnen mit Ray & Liz einen Film gewidmet, der seine verwahrloste Kindheit in einer Sozialwohnung im berüchtigten »Black Country«, einem Vorort von Birmingham, nachinszeniert.
Schonungslos zeigt er wie bereits in seiner Fotoserie »Ray’s a laugh«, die ihn berühmt gemacht hat, seinen alkoholkranken Vater, seine geschmacklose Mutter sowie Freunde des Hauses, um die es auch nicht besser gestellt ist. Fotografiert hatte er seine Eltern eigentlich nur, um die Fotos als Vorlage für seine Gemälde zu nehmen, um wirklich als Fotograf tätig zu sein, fehlte ihm das Geld.
Zwanzig Jahre sind seit der spektakulären Ausstellung der Young British Artists »Sensation« vergangen, und Billingham konnte jetzt das Projekt verwirklichen, das er immer schon machen wollte: vom Leben, das sie in den 1970er/80er Jahren in der Sozialwohnungssiedlung, dem »schwarzen Land«, geführt haben, zu erzählen. In Szenen, die lebendig und schmutzig wie spontane Momentaufnahmen wirken, gilt sein Blick vor allem dem Schicksal seines jüngeren Bruders, der am stärksten unter der elterlichen Vernachlässigung gelitten hat, Richard selbst war schon älter und rutschte gerade noch unbeschadet durch. In Ray & Liz zeigt uns Billingham ein Stück autobiographischen Sozialrealismus, der ungleich authentischer wirkt als der von Ken Loach. Denn er ist nicht didaktisch und bietet auch keine Lösungen an. Gezeigt wird nur das nackte Leben, ohne Erklärungen, ohne Anklagen, ohne Ursachenforschung. Auch ohne die Schwarzweißmalerei von den bösen Institutionen und dem guten kleinen Mann. Dabei befinden wir uns mitten in der Ära von Thatcher, und ohne, dass dies der Film als These formulieren muss, wissen wir, dass die Sozialmisere, der wir beiwohnen, ein Auswuchs der Politik der Eisernen Lady ist.
Immer wieder fokussiert die enge 4:3-Kamera auf Details, eine Kakerlake, die über ein Fensterbrett krabbelt, das Glas, in das ein undefinierbares Gebräu aus Plastikflaschen gefüllt wird, der Kehlkopf des alkoholkranken Ray, der sich beim Schlucken hebt und senkt, Kartoffelbrei, der vom verfetteten Onkel aus einem Teller mit Blumenmotiv gekratzt wird. Es sind unappetitliche Details, Einzelbeobachtungen, die das Milieukolorit zusammensetzen und vom Leben darin erzählen. Ein programmatisches Vorgehen des Erzählens, das Billingham hier gefunden hat, und das sich aus der Lieblingstätigkeit seiner Mutter speist: In den ruhigen Momenten des Films sitzt sie, wie man es auch von seinen Fotografien kennt, vor einem tischgroßen Puzzle und setzt die Einzelteile zu einem großen Ganzen zusammen. Allerdings sieht man sie nie ein Puzzle fertig machen.
So ist auch Billinghams Film nur ein unvollständiger Ausschnitt einer, euphemistisch gesprochen, schwierigen Kindheit und Jugend. Die Mutter neigt immer wieder zu extremen Gewaltausbrüchen, wenn sie sich nicht in das Puzzeln versenkt oder sich mit dem Vater die Kante gibt und den Rausch ausschläft. Es sind Anekdoten, an die sich Billingham erinnert, kleine Ikonographien eines miserablen Lebens.
All das hat Billingham reinszeniert und re-dekoriert, mit aufwendiger Nachbildung des Hässlichen: Tapeten, die in mehreren Schichten verblasste Blumenmuster freigeben, die dicke, über und über tätowierte Mutter in ihren Blumenkleidern, die sie selbst wie ein riesiges Puzzle aus vielen Einzelteilen aussehen lassen. Das Hässliche folgt hier jedoch nicht auf umgekehrten Wege einer Poetologie des Schönen, der gemäß schöne Menschen schöne Dinge tun. Die hässlichen Menschen sind nicht auch moralisch hässlich, sie wissen es nur nicht besser, sind lebensvergessen. Und sich selbst haben sie auch vergessen.
Billingham aber klagt nicht an. Mit seinem nahen Portrait setzt er seinen Eltern zugleich ein Denkmal und dem miserablen Leben, das sie geführt haben. Immer wieder tut sich auch Schönheit auf, in der Verzweiflung der Figuren, in der Einsamkeit ihres Lebens, die jedoch auch völlig ehrgeizlos nichts anderes für sich erwarten. Ob das voyeuristisch ist, kommt vor allem auf den Standpunkt des Betrachters an. Faszinierend und eine Reise in ein so noch nie erzähltes Milieu ist Ray & Liz allemal.