USA 2013 · 120 min. Regie: Cheyenne Picardo Drehbuch: Cheyenne Picardo Kamera: Serena Kuo, Matthew Van Doren Darsteller: Kira Davies, Ashlie Atkinson, Júlia Ubrankovics, Melissa Roth, Rachel Soll u.a. |
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Mal schön abhängen und Spaß dabei haben |
Wo sind bloß die verflixten Gummihandschuhe? Der Kunde mit dem Zahnarzt-Fetisch wartet bereits ungeduldig darauf, dass ihm die Domina eine Betäubungsspritze ins Zahnfleisch sticht. Aber »Remedy« ist neu im SM-Studio und kennt sich noch nicht gut aus. Doch die zarte junge Frau ist nicht auf den Kopf gefallen und weiß sich zu behelfen. Sie stülpt sich mehrere Kondome über die Finger und setzt mit dieser grotesken Klauenhand endlich die Spritze an. Als Remedy gar nicht mehr weiter weiß, schläfert sie den Kunden kurzerhand mittels einer entspannenden Fußmassage ein...
So sieht die erste eigenständige »Kundenbetreuung« der jungen Frau aus, die nur aufgrund einer Wette unter dem Künstlernamen »Remedy« in einem New Yorker SM-Studio zu arbeiten beginnt. Dies ist ein typischer, verpatzter Arbeitsanfang, wie ihn ganz ähnlich Millionen von Menschen aus eigener Erfahrung her kennen. Dass so etwas auch in einem SM-Studio passieren kann, das hat man jedoch bisher so noch nicht im Kino gesehen. Remedy wirkt mit dieser starken Authentizität fast wie ein Dokumentarfilm.
Der Debütfilm von Cheyenne Picardo orientiert sich in seiner Gestaltung weit mehr am alten New Yorker Film-Underground, als an glattgebügelten Hochglanz-Produktionen der Marke »50 Shades of Grey«. Die billige Digitalkamera-Ästhetik und die zum Teil sichtlich improvisierten Szenen erinnern an die frühen Filme von Paul Morrissey wie Flesh (1968) und Trash (1970). Andy Warhols Stammregisseur erzählt dort von gesellschaftlichen Außenseitern wie Strichern, Fixern und Transvestiten. Seine Filme bevölkert somit ein Figureninventar, das zu seiner Zeit ähnlich skurril gewirkt haben muss, wie die Dominas, Slavinnen und ihre Kunden in dem SM-Studio in Remedy.
Im Gegensatz zu Filmen, wie dem zweiten Teil von Lars von Triers Nymphomaniac (2013), schlachtet Picardo ihr Thema jedoch nicht alleine des grotesken Effekts wegen aus. Die Filmemacherin berichtet im Interview freimütig, dass sie selbst Teil der New Yorker BDSM-Szene ist und auch schon selbst in einem SM-Studio gearbeitet hat. Sie kennt also beide Seiten: die der Personen, welche diese sexuelle Spielart selbst praktizieren und die der Menschen, die mit der Befriedigung von Kunden mit entsprechenden Neigungen ihre Brötchen verdienen.
Ihre Protagonistin Remedy beginnt zunächst als Domina, arbeitet später jedoch ebenfalls als – noch besser bezahlte – Sklavin. Die »Sessions« mit den verschiedenen Kundern verlaufen sehr unterschiedlich. Vom kumpelhaften Typ bis zum arroganten Arschloch ist alles dabei. Aber jeder legt Wert auf die Verwirklichung seiner ganz speziellen Fantasie, welche Remedy in Form entsprechend inszenierter Sessions umsetzt. Diese unterschiedlichen »Aufführungen« sind das Herz des Films.
Die lockere Szenenfolge wird verbunden durch ein »Behind the Scenes«: Man sieht die Dominas und Sklavinnen in ihren Arbeitspausen. Ihr Pausenraum ist ähnlich steril und unglamourös, wie die Personalräume in anderen Betrieben auch. Es wird dort gelacht und geweint, getratscht und geschimpft. Es ist das ganz normale Arbeitsleben, wie es viele andere Angestellte ebenfalls kennen. Für viele dieser Frauen ist ihre Tätigkeit nur ein Job wie viele andere, sprich eine Arbeit, zu der sie keine spezielle innere Beziehung haben.
Genau darum ging es Picardo. Die Filmemacherin wollte zeigen, wie so eine Tätigkeit für die vielen Frauen aussieht, die – ähnlich wie Remedy – fast wie nebenher in die professionelle BDSM-Welt hineingeschlittert sind. Das eröffnet neue interessante Fragestellungen: Wie sehr kann jemand wie Remedy zwischen ihren Rollen als Domina und Slavin und ihrem eigen Gefühlsleben trennen, das in keiner Weise mit diesen Rollen verknüpft ist? Oder um es noch einfacher zu sagen: Kann Remedy solche Rollen spielen, ohne dass ihr diese Spiele mit der Zeit zu ernst werden?
So eröffnet Cheyenne Picardo einen frischen Blickwinkel auf en Feld, das spätestens mit der nahenden Verfilmung von »50 Shades of Grey« endgültig im Medien-Mainstream angekommen ist. Remedy zeigt BDSM weder in der Form einer magischen Fantasiewelt, wie in Monika Treuts Verführung: Die grausame Frau (1985), noch als eine Angelegenheit hochgradig gestörter Freaks, wie in Nymphomaniac. Picardo nähert sich dem Thema BDSM von einer betont banalen Seite und tut genau damit etwas in Richtung hin auf eine Normalisierung, wie sie z.B. beim Thema Homosexualität bereits in weit stärkerem Maße verwirklicht ist.
Obwohl es uns heutzutage bereits extrem abseitig erscheint, ist es noch nicht allzu lange her, dass auch Homosexualität als eine ernsthafte Krankheit galt. Dies zeigt erneut, dass bei »psychischen Krankheiten« die Ärzte festlegen, was gesund und was krankhaft ist...