USA 2014 · 141 min. · FSK: ab 6 Regie: David Dobkin Drehbuch: Nick Schenk, Bill Dubuque Kamera: Janusz Kaminski Darsteller: Robert Downey jr., Robert Duvall, Vera Farmiga, Vincent D'Onofrio, Jeremy Strong u.a. |
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Pragmatischer und realistischer Hybrid |
»Ein Gefühl der Ermüdung und des Grauens befiel mich bei dem Gedanken, daß diese ganze so lange Zeit nicht nur ohne Unterbrechung von mir gelebt, gedacht und wie ein körperliches Sekret abgelagert worden, und daß sie mein Leben, daß sie ich selber war, sondern, daß ich sie auch noch jede Minute bei mir behalten mußte, daß sie mich, der ich auf ihrem schwindelnden Gipfel hockte und mich nicht rühren konnte, ohne sie ins Gleiten zu bringen, gewissermaßen trug. Das Datum, zu dem ich das Geräusch des Glöckchens an der Gartentür in Combray gehört hatte, jenen Klang, der jetzt so fern und dennoch in mich eingebettet war, bildete einen Markstein in dieser unendlichen Weite, von deren Vorhandensein in mir ich im Grunde nichts geahnt hatte. Es schwindelte mir, wenn ich unter mir und trotz allem in mir, als sei ich viele Meilen hoch, so viele Jahre erblickte.«
Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Man kann schon fast von einer kleinen Serie sprechen und sich fragen, wo denn die ganzen Probleme dieser Welt, unserer westlichen Gesellschaft nur hin sind, wenn sich derartig konzentriert auf ein archaisches Thema besonnen wird. Innerhalb weniger Wochen kommt mit David Dobkins Der Richter bereits der dritte amerikanische Film in die Kinos, der sich sowohl mit dem Tod des eigenen Vaters als auch mit einer Lebensrückschau seiner Hauptprotagonisten befasst. Faszinierend an diesem filmischen Triptychon ist vor allem die unterschiedliche zeitliche Positionierung des Todes. Ist er in Shawn Levys zutiefst realistischem This Is Where I Leave You bereits passiert und Anlass für ein familientherapeutisches Stelldichein, ist er in Zach Braffs Wish I Was Here zentrale, filmbegleitende und vor allem zum Ende hin pathetische und stereotype Lebenswarnung an die Zurückgebliebenen, sich zu besinnen angesichts der Tatsache wie kurz die Zeit eigentlich ist, die wir zu leben haben.
Auch wenn im Richter der Tod des Vaters im Grunde nur angekündigt wird, hat er immense kathartische Wirkung, die vor allem aus der allen drei Filmen gemeinsamen pessimistischen Weltsicht rührt. Jeder scheint sich in seinem Leben verlaufen zu haben, die Alten ebenso wie die Jungen. In Dobkins Variante werden diese Irrwege vor allem schauspielerisch faszinierend verhandelt. Auf der einen Seite steht der alte Joseph Palmer (in bester Thomas Bernhardscher Manier verbohrt, verbissen und verbittert von Robert Duvall verkörpert), der in einem ländlichen Kaff Amerikas oberster Richter ist. Als seine Frau stirbt, kehrt widerwillig auch der als Staranwalt arbeitete Sohn Henry (faszinierend nicht nur im Vergleich mit seinen Iron Man- Darbietungen: Robert Downey Jr.) zurück. Henry versucht zwar den beruflichen und persönlichen Graben zwischen sich und seinem Vater zu überwinden, scheitert aber konsequent. Erst ein weiterer Todesfall, in dem Joseph selbst zum Tatverdächtigen wird, bringt die alten Strukturen zum Erodieren. Nicht nur die vom Vater nur mühsam akzeptierte Rolle des Sohnes als seinem eigenen Anwalt, sondern auch die vom Vater verschwiegene eigene Krebserkrankung sprengen die alten Ketten. Gewinnt Joseph dadurch überraschende, neue Zugänge zu seiner Gegenwart, ist es für seinen Sohn Henry auch die Vergangenheit, die sich völlig neu aufstellt. Nicht nur die Beziehung zu seinen Brüdern wird dadurch »therapiert«, sondern – fast spiegelbildlich zu This Is Where I Leave You – auch die zu seiner College-Liebe Samantha (Vera Faminga).
Die komplexen Veränderungen in jedem der Protagonisten überzeugen vor allem deshalb, weil Dobkin sich Zeit lässt. Den Hauptrollen werden ebenso lange Gesprächssequenzen eingeräumt wie den Nebenrollen die wichtigen Leerstellen, die auch sie zum Schillern und den Plot zum Tragen bringen. Billy Bob Thornton als Staatsanwalt beeindruckt ebenso wie Vincent D’Onofrio als Henrys Bruder, der seinen ursprünglichen Hoffnungen, die sein Vater für ihn gehegt hat, nicht gerecht geworden ist. Gleichzeitig charakterisieren gerade diese Nebenrollen auch die Unabhängigkeit von Dobkins Richter, der wohltuend frei zwischen den Genres Gerichtsfilm und Famliendrama flotiert.
So reicht es am Ende zwar nicht zum großen Glück, aber immerhin zu einem Leben, dass sich vor allem durch das Verstehen der eigenen Biografie verändert. Das macht Dobkins Film vielleicht ungewollt zu einem pragmatischen und realistischen Hybriden, der durch seine hochkarätige Besetzung und Anlagen im Plot zwar große, romantische Gefühle evoziert, sie dann aber konsequent der Entwicklung seiner Protagonisten opfert.