Hongkong 2011 · 123 min. · FSK: ab 0 Regie: Ann Hui Drehbuch: Susan Chan, Lee Yan-lam Kamera: Nelson Yu Darsteller: Andy Lau, Deannie Yip, Hailu Qin, Paul Chun, Hui Pik Kee u.a. |
||
Auch ein Altenheim kann spaßig sein |
Das Hongkong-Kino ist für seine extrem überzeichneten Actionfilme und für die stark stilisierten Melodramen von Wong Kar-wai bekannt. Im Gegensatz zu der Werbefilmästhetik vieler Hollywood-Blockbuster dient diese Stilisierung nicht nur als schicke Verpackung für einen eher dürftigen Inhalt. In so unterschiedlichen Filmen wie Wong Kar-wais berühmten Liebesfilm In the Mood for Love (2001) und Dante Lahms auf der 64. Berlinale gezeigten psychedelischen Action-Thriller That Demon Within (Mo Jing) entspricht die visuelle Überhöhung der inhaltlichen Erhebung in eine Sphäres des magischen Realismus hinein. Der mit drei Jahren Verspätung jetzt in die deutschen Kinos kommende Tao Jie – Ein einfaches Leben (2011) bildet zu den obigen Beispielen einen starken Kontrast. Der Film der Grande Dame des Hongkong-Kinos Ann Hui ist sowohl optisch, als auch inhaltlich ähnlich schlicht, wie sein deutscher Untertitel suggeriert. Die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte um eine alte Dienerin entfaltet jedoch ihre eigene Magie in den genauen Schilderungen der kleinen Dinge des Alltags und der Darstellung wahrer Menschlichkeit.
Ah Tao (Deanie Ip) hat 60 Jahre als »Amah« (Dienerin) für die Familie Leung in Hongkong gearbeitet. In dieser langen Zeit hat sie drei Generationen von Kindern großgezogen. Mittlerweile ist der ganze Leung-Clan in die USA ausgewandert. Nur der Filmproduzent Roger (Andy Lau), ein unverheirateter Mittvierziger, lebt noch in der alten Heimat und wird dort weiterhin von Ah Tao umsorgt. Doch eines Tages hat Ah Tao einen Schlaganfall und muss ins Krankenhaus. Dort beschließt sie, ihren Dienst zu quittieren und in ein Altersheim zu ziehen. Roger sieht sich nach geeigneten Heimen um. Dabei trifft er auf einen alten Freund, der jetzt im Altenheimgeschäft tätig ist, und der ihm ein gutes Angebot macht. Ah Tao trifft in dem Heim auf einen bunt zusammengewürfelten Haufen alter Originale. Sie gewöhnt sich gut ein. Auch kümmert sich Roger liebevoll um seine Pflegemutter; besucht Ah Tao und führt die alte Dame zum Essen aus. Nach langen anstrengenden Jahren, in denen sich Ah Tao selbst nie etwas gegönnt hatte, fängt sie allmählich an ihren Lebensabend zu genießen. Doch zugleich baut sie gesundheitlich zunehmend ab...
Tao Jie – Ein einfaches Leben wirkt trotz seiner sorgfältigen Inszenierung fast dokumentarisch. Der Film ist gestalterisch vergleichbar bescheiden, wie seine Hauptprotagonistin in ihren Ansprüchen ist. Doch so, wie Ah Tao aus einfachen Zutaten höchst abwechslungsreiche köstliche Mahlzeiten zu bereiten versteht, so hat auch Regisseurin Ann Hui einen zwar schlichten, aber sehr berührenden Film geschaffen, der die gesamte Gefühlsklaviatur bedient. Im Kern ein Drama hat Tao Jie starke melodramatische Züge, ohne dabei jemals ins Rührselige abzugleiten. Zusätzliche Würze erhält das Werk in Form seines herrlich Humors, der selbst an der Schwelle zur Groteske immer angenehm trocken bleibt. Da ist z.B. der Heimbewohner, der beim Mittagessen sein Gebiss herausnimmt und es schimpfend in sein volles Wasserglas wirft. Er kann nicht richtig essen, da dies nicht seine Zähne sind. Daraufhin kommt ein anderer Heimbewohner und gibt ihm das richtige Gebiss zurück. Ein anderer Heimbewohner leiht sich ständig Geld – eines Tages auch von Roger. Der ist recht erbost, als er den Alten später zusammen mit einer Prostituierten sieht. Ah Tao sieht die Sache jedoch völlig unverkrampft: Soll er doch ruhig seinen Spaß haben, solange er noch kann! Den nächsten Bordellgang bezahlt sie deshalb sogar von ihrem eigenen Ersparten.
Solche skurrilen Momenten bleiben jedoch sympathische Randbeobachtungen. Das Herz der Geschichte bildet die sich entwickelnde Beziehung zwischen Roger und Ah Tao. Beide sind einsame Seelen, die ihr bisheriges Leben alleine ihrer Arbeit gewidmet hatten. Roger ist erfolgreich im harten Filmgeschäft tätig und Ah Tao ist als Dienerin unersetzbar. Durch ihren Schlaganfall bekommt Roger die Gelegenheit, zum ersten Mal etwas für die Frau zu tun, die ihn sein ganzes Leben lang umsorgt hat. Als Ah Tao ihre Arbeit kündigt, entfällt zudem das Arbeitsverhältnis, durch das sie immer die Untergebene war. Erstmalig lernen Roger und Ah Tao sich auf einer rein menschlichen Ebene kennen. Roger wird bewusst, dass Ah Tao ihm mehr bedeutet, als er dachte, als sie noch zusammen unter einem Dach lebten. Die alte Dame ist wie eine zweite Mutter für ihn und zudem das einzige noch verbleibende erweiterte Familienmitglied, nachdem der Rest der Familie nach Amerika ausgewandert ist. All dies schildert der Film auf sehr unsentimentale und glaubhafte Art. Dass dies gelingt, ist auch der Verdienst der beiden Hauptdarsteller. Deanie Ip spielt Ah Tao auf äußerst nuancierte Weise; diese Frau ist zugleich äußerst stolz und bescheiden, rigoros und mitfühlend. Andy Lau als Roger legt auch in kleinste Gesten sehr viel hinein. Seine Darstellung verlangt Respekt ab, zumal der vielseitige Schauspieler hierzulande eher aus typischen Hongkong-Reißern wie Infernal Affairs (2002) bekannt ist. Ihre besondere Beziehung müssen die beiden Schauspielern ohnehin nicht wirklich spielen. Denn im realen Leben ist die Ah Tao spielende Deanie Yip die Patentante von Andy Lau.
Tao Jie – Ein einfaches Leben ist ein schöner und unsentimentaler Film über den Herbst des Lebens. Dieser letzte Lebensabschnitt erscheint zum einen ungeschönt als eine Zeit des körperlichen Verfalls, aber auch als eine Phase, in der deutlich wird, was im Leben wirklich wichtig ist.