Großbritannien 2015 · 107 min. · FSK: ab 12 Regie: Sarah Gavron Drehbuch: Abi Morgan Kamera: Eduard Grau Darsteller: Carey Mulligan, Helena Bonham Carter, Brendan Gleeson, Anne-Marie Duff, Ben Whishaw u.a. |
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Widerstand lernen |
Ich muss gestehen, dass ich den Begriff der »Suffragette« bislang kaum einordnen konnte. Bestenfalls waren da diffuse Erinnerungen negativer Art, wahrscheinlich aufgesogen durch kollektive Erinnerungselemente, die sich bei all ihrer Diffusität jedoch erstaunlich klar zusammensetzten und ein Bild aus kreischenden, hysterischen, unangenehmen Frauen ergaben. Dass ich diesen Begriff nie hinterfragt habe, überrascht mich jetzt noch; dass es durch einen Film »nach einer wahren Geschichte« geschah, einem sich in den letzten Jahren fast inflationär ausbreitenden filmischen Biotop, war mir allerdings nur im ersten Moment ein wenig peinlich. Denn dafür ist Sarah Gavrons Lehr- und Rührstück Suffragette einfach zu gut.
Gavrons Films konzentriert sich auf die Hochphase der Sufragetten-Bewegung im Jahre 1912, die zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Denn zu diesem Zeitpunkt versuchten Frauen in England bereits seit über 50 Jahren auf das fehlende Wahlrecht für Frauen aufmerksam zu machen, einem Schicksal, das sie bis dahin nur mit Sträflingen, Geistesgestörten und der Arbeiterklasse teilten. Erst 1903 erhielt die »Stimmrecht für Frauen«-Kampagne allerdings eine signifikante Verstärkung, als Emily Pankhurst mit ihren Töchtern den Protest über eine eigens dafür geschaffene Organisation konzentrierte, die »Women’s Social and Political Union« (WSPU). Die WSPU wollte »die Nation aufwecken« und tatsächlich setzten sie ihren Slogan »Taten statt Worte« auch in der realen Welt um. Die Hauptzentrale der Organisation wurde 1906 von Manchester nach London verlegt und in den folgenden Jahren der Protest auf die Straßen Londons getragen: Treffen und Veranstaltungen wurden wurden mit Plakatparaden und kreideverzierten Gehsteigen öffentlich gemacht, das erste große Meeting der WSPU 1908 lockte Suffragetten aus dem ganzen Land in die Hauptstadt, wo im Hyde Park mehr als 80 Rednerinnen eine bis dahin nie gesehene Anzahl von mehr als 300.000 Schaulustigen anzog.
Erst 1912 begannen die Aktionen der WSPU erstmals radikaleren Charakter anzunehmen, indem sie Angriffe auf Eigentum initiierte und das öffentliche Leben in London störte, so wie etwa durch eine organisierte Aktion im Mai 1912, als 150 Suffragetten durch eine Einkaufszone in London zogen und Fensterscheiben einschmissen. An diesem Tag, den Pankhurst selbst als einen der markantesten Erinnerungsanker für den Widerstand formulierte, setzt Gavrons Film ein. Zwar taucht einige wenige Male auch Pankhurst auf – eloquent dargestellt von Meryl Streep – doch bleibt sie im Grunde als großer Geist des Widerstandes im Hintergrund, so wie es auch historisch verbürgt ist. Denn Pankhurst und ihre Töchter, die zu diesem Zeitpunkt bereits einige Haftstrafen verbüßt hatten, fürchteten nach dem einschneidenden Richtungswechsel des Widerstands noch härtere Bestrafungen und blieben im Untergrund.
Gavron folgt stattdessen – größtenteils fiktiven – Frauen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten auf ihrem Weg in zunehmend prekäre Verhältnisse: seien es Haftstrafen, eheliche Zerwürfnisse und eine finale Opferbereitschaft für die große Sache. Gavron lässt dabei vor allem auch die inneren Widerstände zu Wort kommen, die jede der Frauen mit sich ausficht, um sich schließlich für oder gegen den Widerstand zu entscheiden und zeichnet dabei ein vielschichtiges, wenn auch manchmal etwas zu emotionales Alltagsporträt des Lebens kurz vor dem 1. Weltkrieg. Verdichtet wird dieser Ansatz vor allem durch Carry Mulligan in ihrer nach Am grünen Rand der Welt zweiten »emanzipierten« Frauenrolle innerhalb kurzer Zeit. Ihr Spiel fasziniert mit einer erstaunlich komplexen Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerstand und vermittelt damit gleichsam eine Ahnung nicht nur vom Wandel femininer Rollenmodelle, sondern auch von der zunehmenden Verschränkung bis dahin relativ autarker gesellschaftlichen Klassen.
Zwar begleitet Suffragette den Widerstand der Frauen nicht bis zum Ende ihres Weges – dem schließlich 1918 erlangten Wahlrecht für Frauen ab 30 – aber statt das Defizit einer nicht zu Ende erzählten Geschichte, erscheint gerade Gavrons Lupenperspektive am Ende als tiefgreifender Gewinn. Denn dadurch, dass sie sich auf den Höhepunkt des Widerstands und die Überwindung innerer Widerstände konzentriert, zieht sie auch einen Bogen in die Gegenwart, der Suffragette von den Schwarz-Weiss-Farben des Vergangenen befreit und klar und deutlich vermittelt, dass nicht nur der Kampf um Frauenrechte noch nicht ausgefochten ist, sondern auch, dass Widerstand an sich eine Sache ist, die man lernen und vor allem: immer wieder leisten muss. Als fast ideale Ergänzung und Forsetzung dieses Gedankens bietet sich die mit Suffragette zeitgleich anlaufende Dokumentration Projekt A – Eine Reise zu anarchistischen Projekten in Europa an, die eine ähnliche Geschichte über unsere Gegenwart erzählt und gerade in der Kombination beider Filme einmal mehr deutlich wird, dass die Sieger aus den Kämpfen gegen die herrschende Moral immer erst in der Zukunft gekürt werden.