Deutschland 2010 · 95 min. · FSK: ab 6 Regie: Ralf Huettner Drehbuch: Florian David Fitz Kamera: Andreas Berger Darsteller: Florian David Fitz, Karoline Herfurth, Heino Ferch, Johannes Allmayer, Katharina Müller-Elmau u.a. |
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Bergsteigen for beginners |
Am Anfang von Ralf Huettners Film Vincent will meer steht eine Situation, wie man sie sich ausmalt, wenn man 'Tourette-Syndrom' hört, eine Situation, die durch ihr plakatives Potenzial sofort die ganze Geschichte ins Rollen bringt: Es findet eine Beerdigung statt, und Vincent kann im Ernst der Lage nicht stillhalten. Mehr als das, er zuckt und spuckt und flucht herum, die Pietät ist ruiniert. Noch wenn er seine Raserei vor der Kirchentür weiterführt, sind alle Trauergäste mehr mit den Ohren bei ihm als mit den Gedanken bei der Verstorbenen, Vincents Mutter. Und es ist gut, dass das am Anfang passiert, denn am Ende des Films, das ist eine seiner Qualitäten, würde man einen solchen Zwischenfall anders wahrnehmen, weniger von der peinlichen Seite, dafür mit mehr Verstand.
Vincent will meer handelt von einem jungen Mann mit Tourette-Syndrom und Koprolalie, einem Zwangsneurotiker und einer Magersüchtigen. Das klingt, als hätte sich da ein Regisseur viel vorgenommen: der erste kann seine Bewegungen genauso wenig kontrollieren wie seinen Ausstoß an Schimpfworten, der zweite wird hysterisch über seinen krankhaften Hygieneansprüchen, und das Mädchen isst nichts mehr. Diese drei werden in einer therapeutischen Klinik zusammengeworfen und dann auf eine spontane Reise geschickt. Ziel ist Italien, der Weg führt durch die hohen Berge, die man von hier in dieser Richtung überqueren muss. Die Reise wird mit einer gewissen Fluchtromantik ausgestattet, trotzdem behält jeder der Drei seine Interessen im Auge, still für sich, damit er die anderen unauffällig für seine Zwecke einsetzen kann. Andererseits schleift die Enge des Fluchtautos schnell die Distanz ab, die Jugendlichen werden sich vertraut, samt ihren Ticks. Irgendwann macht jeder Witze über jeden, und für den Zuschauer fallen auch genügend Lacher ab.
Die Macken der drei Reisenden nehmen Einfluss auf das Genre, das der Film sich vornimmt: Roadmovies sind immer abhängig von der Psyche ihrer Protagonisten, von den versteckten Lasten, die diese mit sich herumtragen und im besten Fall an irgendeinem Straßenrand zurücklassen. Aber Vincent will meer ist ein Roadmovie über Leute, die noch nie auf einer Straße unterwegs waren, schon das Steuern eines Autos gestaltet sich abenteuerlich. Gleichzeitig ist es ein Buddymovie über Leute, die noch nie einen Kumpel hatten, sondern wenn möglich alle Menschen meiden. Das erschwert die Bedingungen, es verlangsamt die üblichen Mechanismen des Genres. Die Reise wird beneidenswert trödelig, plötzlich der Neugier unterworfen – die Jugendlichen vernachlässigen den direkten Weg, entdecken das Küssen, entwickeln einen Hauch krimineller Energie. Sie geben jedem verführerischen Einfall nach, immer mit der Begeisterung derer, die endlich niemandem mehr Rechenschaft schulden.
Man kommt bei Titel und Genre von Vincent will meer nicht daran vorbei, an Til Schweigers Knockin' on Heaven’s Door zu denken, aber man kommt auch wieder davon ab. Ziel der Reise ist nicht das Meer, sondern die Erlösung. Vincent will meer treibt ein Spiel mit der Innenwelt der Figuren und den Reaktionen der Außenwelt, mit Erstarrung und Bewegung, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Die Jugendlichen, anfangs blicklos auf den eigenen Schmerz konzentriert, werden aus ihrer Zurückgezogenheit weit genug herausgelöst, dass sie die Angebote der Welt wahrnehmen können, die über das Erwartete doch hinausgehen. Zudem ist Vincent will meer eine Doppelpackung, zwei Roadmovies sozusagen, denn die drei entlaufenen Kranken werden verfolgt von Vincents erbostem Vater und einer Therapeutin, einem Paar, das wiederum für den komödiantischen Part sorgt.
Heino Ferch ist dieser Vater, und er gibt seine miese Figur großartig mies. Ähnlich gut sind die anderen Schauspieler, dem gefährlichen Thema 'Psychomacke' zum Trotz: Florian Fitz spielt Vincent mit einer Mischung aus Selbstironie und Verstörung, der man gebannt zusehen kann, weder ruft seine Krankheit allmählichen Überdruss hervor, noch Arroganz oder Bedauern. Allerdings muss er aufpassen, dass sein mitreisender Kumpel sich nicht mit dem Film davonstiehlt, so korrekt und trocken kommt Johannes Allmayer als neurotischer Schlaumeier daher. Von Florian Fitz, sonst übrigens tätig in der allseits beliebten Krankenhaus-Schundserie „Doctor’s Diary“, stammt auch das Drehbuch. Es ist ein Erstlingswerk, geschrieben angeblich in einem langen, langweiligen Winter. Tatsächlich scheint das kein schlechter Winter gewesen zu sein.