Schweden 2015 · 135 min. · FSK: ab 6 Regie: Kay Pollak Drehbuch: Carin Pollak, Kay Pollak Kamera: Harald Gunnar Paalgard Darsteller: Frida Hallgren, Jakob Oftebro, Niklas Falk, Lennart Jähkel, André Sjöberg u.a. |
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Nichts für den abgebrühten Ironie-Connaisseur |
Regisseur Kay Pollak lud sich zehn Jahre nach seinem Oscar®- nominierten Überraschungsfilm Wie im Himmel zum „Familientreffen“ seine bewährten hochklassigen Schauspieler für sein neues Werk „Wie auf Erden“ ein. Wie im Vorgängerfilm Wie im Himmel ist Lena (Frida Hallgren) auch diesmal wieder die Protagonistin. Sie bewältigte schon einige Katastrophen in der schwedischen Gemeinde Ljusåker. Ihren Liebsten, Chorleiter Daniel, entriss ihr ein Herzinfarkt. Jetzt schmettert sie hochschwanger Countrysongs vor ausgelassenem Publikum, während die Ereignisse zu rollen beginnen. Auf der Bühne platzt gleich mal die Fruchtblase, und sie schleppt sich ins Backstage. Dort wird die Schmerzumtoste noch von einem gekränkten Verehrer mit Verachtung gequält – die Szene kann es durchaus mit den finsteren Schweden-Krimis aufnehmen. Ein furioser Auftakt, der, mit temporeicher Kamera geführt, gleich in den ersten Sequenzen die ganze Lebensgeschichte der unverdrossenen Heldin zeichnet. Ihr väterlicher Freund Arne (Lennart Jäckel) will die schmerzverzerrte und glucksend-manisch Kichernde in seinen Wagen packen. Das Auto steckt im Schnee fest. Obwohl Lena Hilfe anfordert, nuckeln daneben empathiefreie Feiernde achselzuckend am Bier. Nur ein junger Mann, Axel (Jakob Oftebro), hilft den beiden. Frei nach Alexander Kluge: „Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd.“ Mitten auf der Straße liegt Pfarrer Stig (Niklas Falk), den seine Ehefrau verließ und der seine Predigten im fast leeren Kirchenhaus nur mit Besäufnis aushält. Stig ist nicht mehr der Seelenführer der Gemeinde, wie beispielsweise der Pfarrer in Michael Hanekes Film Das weiße Band.
In dieser paradiesischen Schneelandschaft attackiert sich die selbstbezogene Gesellschaft herzlos. Pragmatikerin Lena vermutet, dass ihnen wohl Gott den spiritualitätsbefreiten Trunkenbold als Engel auf die Straße legte, und er wird eingepackt. Lachen und Weinen begleitet ihre Wehenschmerzen, und in ihr Gesicht graben sich Schubert-Rückert-Variationen vielfältig ein. Stig qualifiziert sich als Geburtshelfer für Lenas kleinen Sohn, und euphorisch bietet ihm Lena für immer ihre Hilfe an. Stigs leere Kirche: depressionsintensive grün-grau-schuppige Lichtverhältnisse und Wände, als hätte sie der belgische Sozialverweser Luc Tymans ausgemalt. Er lässt sich nicht lange bitten. Sie soll im Chor mitsingen, denn dann würde die Kirche aus allen Fugen platzen. Lena protestiert, schwenkt aber um, als der künftige Chorleiter, ein arroganter Parvenue sie demütigt, dass sie sowieso nur ein Nichts und Sex-Abenteuer sei. Herausgefordert wird Lena mit dem Vorschlag, Händels „Halleluja“ aus dem „Messias“ einzustudieren und vor Fernsehkameras aufzuführen. Der entrüstete Don Giovanni rauscht ab und hetzt das Kirchen-Epispkopat auf. Anfangs hört sich die Probe wenig nach himmlisch strenger Reinheit und Gesang der Engel an, sondern eher wie teuflische Flatulenzen, die aus den unsauberen Intervallen schallen. Mit Eurythmie-Übungen hält Lena die Laientruppe bei Laune. Lena, ohne klassische Musikausbildung, glaubt aber vehement genug an das Kollektiv, dass die vielschichtigen Typen ihr Ego ablegen und sich für die Chorproben begeistern. Sie agiert ein bisschen wie der zugezogene Dirigent aus Die Kinder des Monsieur Mathieu. So glaubt sie auch in der trostlosen Gemeinde an das Gute im Menschen. Offen für Interpretation und Dynamiken üben Chor und Orchester das Stück ein, ohne dass die Gemeinsamkeit explodiert. Durch „mental breakdowns“, die erfreulicherweise die Kunst des Weglassens implizieren, beschränken sich die Zerwürfnisse nur kurz auf schmallippige Mimik. Zu den Obersten spricht sich durch, dass in der Pfarre die Kirchenbänke rausgerissen wurden und Tanzveranstaltungen blühen. Dazu bahnt sich zwischen dem hilfsbereiten Axel und Lena eine Liebesgeschichte an. Doch die Ruhe wird gestört, als plötzlich ihr guter Freund Tore verunglückt. Fließende Szenen bei der Bestattungsüberfahrt auf dem See folgen, die in ihrer Ruhe und Bedachtsamkeit an die unter Dämmerung und Licht gemalten Werke der nordischen Maler Edelfelt oder Sohlberg erinnern. Nach Tores Unfall erstarrt Lena, und der einfühlsame Arne gibt ihr zu verstehen, dass sie keine Schuld trägt, da mit dem Unglück auch der tödliche Unfall ihrer Eltern angetriggert wurde.
Schließlich dirigiert Lena den Chor theatralisch, kurzatmig schwindlig, bis er schwingt und beim „Halleluja“ der Atem breit und nicht mehr anämisch in die Höhe federt. Sicher erlaubt eine Händel-Aufführung eines klassischen Chors die Reise ins Hörreich der Zwischentöne mit farblichen Valeurs. Lenas Chor hat nicht die maschinelle Präzision eines philharmonischen Ensembles, das sich Klangveredelung auf die Fahnen schreibt. Denn hier geht es nicht nur um ein ausgefeiltes Klangerlebnis, sondern um ein Gemeinschaftserlebnis. So schwebt über dem Film die Trias von Geburt–Liebe–Tod, spült einen aber nicht mit der Rührungsflut davon. Wenn doch mal Kurs auf die Gefühlsdrüse genommen wird, lugt schon manch kautziger Witz ums Eck. Den abgebrühten Ironie-Connaisseur wird der Film wohl kaum überzeugen. Nichtsdestotrotz ist es eine vergnügliche Milieustudie mit authentischen Typen, die ihre Gefühle nicht überzeichnen. Er behandelt die großen Fragen der Menschheit und ist zeitgenössisch modern. Lena und die Dorfbewohner zeigen ökonomische Gefühlsexzesse, die von außergewöhnlicher Wucht sind, aber einen nie vom Schmelzstrudel überwältigt und betroffen zurücklassen. Mit einem „Halleluja“ lässt sich wohl kaum besser das Leben in der Welt illustrieren. Und es mag sein, dass einen der Film, gerade wenn man Leere spürt oder irgendetwas vermisst, zum Chorgesang inspiriert, da die Stimme den Zugang zu anderen öffnet. »Keine andere Tätigkeit kann so viel Spannung und Aggressivität abbauen wie die in Körperbewegung umgesetzte Musik«, meint der Philosoph Gerhard Szczesny. Bei dieser märchenhaften Atmosphäre und dem himmelaufreißenden Gesang mag man hiergegen nichts einwenden.