USA 1997 · 107 min. · FSK: ab 0 Regie: Barbara Kopple Drehbuch: Barbara Kopple Kamera: Tom Hurwitz Schnitt: Lawrence Silk |
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Woddy in Venedig |
Wenn Woody Allen auf Reisen geht, herrscht Ausnahmezustand: Außerhalb seines gewohnten Umfeldes sind Details lebensnotwendig. So braucht er beispielsweise unbedingt sein eigenes Bad – weil ich verrückt bin, wie er gesteht. Seine Freundin Soon Yi begleitet ihn zwar überall hin, doch ins Bad darf sie nicht, weil Allen den Ort für seine Kosmetika braucht.
Außer seiner Tätigkeit als Regisseur ist Woody Allen Klarinettist in einer siebenköpfigen New-Orleans-Jazz-Band. Zuvor war der Vielfilmer nur in einem New Yorker Pub aufgetreten und demensprechend schüchtern gerät die Ansage des ersten Konzertes. Doch sobald Allen in das Mundstück bläst, scheinen alle Selbstzweifel vergessen: Der Filmmensch wird zum groovenden Vollblutmusiker. Seit seinem 15. Lebensjahr spielt Woody Allen täglich Klarinette, hält sich jedoch nicht für einen begnadeten Musiker. Er ist sich bewußt, daß die zahlreichen Zuschauer-/innen vor allem wegen seines Filmruhms in die Konzertsäle strömen. Der große Trubel, den Fans und Paparazzis um ihn und seine Begleiterin veranstalten, ist deshalb auch ein immer wiederkehrendes Moment in Wild Man Blues. Erstaunlich ruhig und relativ geduldig nimmt der schmächtige Mann mit der Hornbrille diesen Ansturm hin. Eine große Hilfe sind ihm dabei seine Schwester Letty und Soon Yi, die ihm auch mal deutlich die Meinung sagen. Diese privaten Momente sind das Spannendste an Kopples völlig unkommentiertem Film. Natürlich erfahren wir nicht alles, was wir schon immer über Woody Allen wissen wollten, dafür aber viele hübsche Details: Die Schilderung seines Coming Outs mit seiner Adoptivtochter, seine Gedanken über den Ruhm in Europa und ein Blick in die Wohnung seiner Eltern sind kleine Highlights. Schade nur, daß er Soon Yi nicht fragt, wieso Manhattan, in dem Meryl Streep seine lesbische Ex-Frau spielt, ihr Woody-Lieblingsfilm ist.
Gedreht 1996 während der Europatournee der Band, präsentiert Oscar-Preisträgerin Barbara Kopple ein einfühlsames Portrait des eigenwilligen Stars und gewährt einen ganz privaten Einblick hinter die Kulissen.
Und weil sie und ihre Kamera überall dabei sein durften, zeigt Wild Man Blues Woody Allen in nahezu allen Momenten. Denn auch sein Leben jenseits der Filmfabrik ist voller komischer Situationen – eben wie ein typischer Woody Allen Film.
BIO-FILMOGRAPHIE
Barbara Kopple
Geboren 1946 in New York. 1968 Abschluß ihres Studiums der Psychologie an der Northeastern University mit Diplom. Erste Erfahrungen bei der Mitarbeit an Dokumentarfilmen als Schnitt-, Ton- und Kamera-Assistentin. 1977 ihr erster Oscar für Harlan County U.S.A., 1991 zweiter Oscar für American Dream, der noch weitere wichtige Preise erhielt. Vor kurzem erst erhielt Barbara Kopple den Directors Guild Award für ihren Beitrag in der beliebten NBC-Serie Homicide: Life on the Street.
Filme (Auswahl; auch Co-Regie, Produktion etc.):
1970 Winter Soldier
1972 Richard Iii
1977 Harlan County U.S.A.
1979 Keeping On
1979 Civil Rights – The Struggle Continues
1980 No Nukes
1991 Out of the Darkness
1991 American Dream
1993 Beyond Jfk: The Question of Conspiracy
1994 Fallen Champ: The Untold Story of Mike Tyson
1995 Century of Women
1996 Nails
1996 Prisoners of Hope
1996 New Passages
1997 Wild Man Blues
1998 Generations
Barbara Kopple über ihren Film:
Die New Yorker Filmemacherin Barbara Kopple, Oscar-Preisträgerin für ihre hochpolitische, meisterhafte Langzeit-Dokumentation über einen Bergarbeiterstreik in Kentucky, Harlan County U.S.A., filmt Woody Allen. Den Musiker auf Tournee durch Europa. Und läßt keinen Zweifel daran, daß der Stadtneurotiker als Jazz-Klarinettist nicht die gleiche Brillanz zeigt wie als Filmemacher. Dafür ist ein ziemlich spannendes, witziges und manchmal auch bizarres Portrait des anderen
Woody Allen entstanden. Der fern der Geborgenheit des heimischen New Yorker Ambientes staunend und oft irritiert durch lauter europäische Großstädte und Luxus-Hotel-Suiten reist. Für Barbara Kopple waren dies die idealen Momente für ihr Cinéma vérité:
Woody ist eine sehr nach innen gerichtete Person, extrem intelligent, sehr brillant, aber auch sehr empfindlich. Es beunruhigt ihn, wenn irgendetwas um ihn herum nicht okay ist. Er muß alles unter Kontrolle haben. Und das hat er auch innerhalb seines eigenen Erfahrungsbereichs: Wenn er schreibt, Regie führt, eine Rolle spielt, seine Musik macht. Auf der Bühne sagt er die Stücke an – die Band weiß nicht, was sie spielen werden. Daheim in New York hat er bestimmte
Gewohnheiten, geht spazieren, übt Klarinette, liest Bücher, geht in ein gutes Restaurant und am Abend schlafen.
In meinem Film befindet er sich dreiundzwanzig Tage lang in achtzehn Städten ständig auf unbekanntem Terrain. Er weiß kaum, was im nächsten Moment passiert – ob es viele Fans gibt, viele Paparazzi oder zum Beispiel der Strom ausfällt während des Konzerts in Mailand.
Für mich und meine Crew, wir haben täglich 16 bis 18 Stunden gearbeitet, war es wunderbar, denn auf diese Weise hat das wirkliche Leben Woody so in Atem gehalten, daß wir unwichtig wurden. Wir wurden so etwas wie Familienmitglieder. Er war nicht nur mit Soon Yi und seiner Schwester zusammen, sondern eben auch mit der Kamera. Am Ende hatten wir 50 Stunden Film verdreht – 18 Konzerte à zwei Stunden, dann Backstage, die Fans, die Hotels, die Städte. Für den Schnitt haben wir sechs
Monate gebraucht, eine normale Zeit für einen abendfüllenden Dokumentarfilm.
Woody hat mir dabei völlig freie Hand gelassen. Er ist nicht der Typ, der sich 50 Stunden Film anschaut und dann sagt, tu dies oder tu das! Das ist mein Job. Er hat seine Filme, und ich habe meine – dieser ist nur zufällig über ihn. Aber Woody hat auch einfach zuviel zu tun. Als wir von der Tournee zurückkamen nach New York, hat er Everyone Says I Love You beendet und dann Deconstructing Harry gedreht. Und jetzt dreht er bereits wieder den nächsten Film.
Am Ende ist Wild Man Blues natürlich ein Film über Woody Allen geworden, kein klassischer Konzertfilm. Nur ein Viertel des Films ist Musik, drei Viertel sind Persönliches. Woodys Unsicherheiten am fremden Ort, seine Klaustrophobie, seine nervöse Zerstreutheit und Anspannung – die private Wirklichkeit seiner Person deckt sich weitgehend mit seinen Filmfiguren. Relaxed und selbstvergessen ist er nur in der Musik, beim Klarinettenspiel.
Ich bin sehr froh darüber, daß Wild Man Blues in Deutschland ins Kino kommt. Viel zu wenige Dokumentarfilme laufen hier auf der großen Leinwand. Dabei erfahren wir aus ihnen, wer wir Menschen sind und so viel anderes über das Leben. Dokumentarfilme können genauso stark und beeindruckend sein wie Spielfilm. Sie können uns zum Weinen und zum Lachen bringen, uns erschrecken und uns unterhalten. Und sie bringen uns miteinander in Kontakt. Ich möchte, daß die
Menschen in Deutschland meine Filme sehen – weil ich mit diesen Menschen zusammenkommen möchte, auch ihre Filme sehen möchte. Und diese Filme haben ein Recht darauf, auf der großen Kino-Leinwand gezeigt zu werden.
Auszug aus einem Interview von Frauke Hanck mit Barbara Kopple im März 1998 in München.